Efeu - Die Kulturrundschau
Die kosmischen Dimensionen
Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Literatur
Weitere Artikel: Thomas Hummitzsch spricht in Intellectures mit dem Comiczeichner Darcy van Poelgeest über dessen Comic "Little Bird". Der Standard bringt eine Geschichte von Xaver Bayer.
Besprochen werden unter anderem Nicolas Mahlers Comicadaption von James Joyce' "Ulysses" (Standard), Igorts Comic "Kokoro - Der verborgene Klang der Dinge" (Berliner Zeitung), Thilo Krauses "Elbwärts" (Standard), J.K. Rowlings unter dem Pseudonym Robert Galbraith veröffentlichter Krimi "Böses Blut" (Freitag), Rye Curtis' "Cloris" (Standard), Krimis von Steven Uhly und Denise Mina (Berliner Zeitung), Katharina Kölnners Debütroman "Was ich im Wasser sah" (online nachgereicht von der FAZ), Karl-Markus Gauss' "Die unaufhörliche Wanderung" (NZZ), Zora del Buonos "Die Marschallin" (SZ) und neue Hörbücher, darunter eine CD-Box mit Originaltonaufnahmen von Brechts Galilei-Proben 1955/56 (FAZ).
Design
Bühne

Mahin Sadri und Amir Reza Koohestani haben für "Woyzeck interupted" am Deutschen Theater Büchners Klassiker zu einem Drama über häusliche Gewalt in Corona-Zeiten umgeschrieben. Nachtkritikerin Shirin Sojitrawalla erlebte in der Online-Fassung reinste Bildmagie, auch wenn sie der Text nicht unbedingt überzeugt hat: "Wie überhaupt der Text eher unaufregend daherkäme, sorgten Bühne und Stream-Regie nicht dafür, dass hier - die Online-Fassung ist nicht identisch mit der für nach Corona geplanten Bühnenversion - ein reizvoller Theater-Film-Zwitter entstünde. Kein abgefilmtes Theater, sondern eine eigene Ästhetik, die das Fragmentarische des Stoffes dramaturgisch nutzt. Dem Fragment ist die Unterbrechung ja quasi eingeschrieben, und sie dient dem Abend als inhaltliches und formales Gerüst. Marie unterbricht ihre Schwangerschaft, Corona unterbricht die Proben." In der SZ konnte sich Christine Dössel nicht für diese Fassung erwärmen: "'Woyzeck' als Stellvertreterstück für Femizide - ein Ansatz, der nicht aufgeht. Zu sehr bleibt der Text in einer privaten Pärchensoziologie hängen. Ganz zu schweigen davon, dass Woyzeck in Büchners erschütterndem Sozialdrama zuallererst mal ein Opfer ist."
Besprochen werden außerdem Jürgen Flimms Kölner Inszenierung von Schillers "Don Karlos" (die SZ-Kritikerin Christine Dössel exaltiert bis zur Infantilität erscheint: "Nein, man will das nicht sehen", in der FAZ beschwert sich Simon Strauss, dass die Streaming-Premiere nicht zur Primetime auf WDR3 lief) und Hans Werner Henzes Oper "Das verratene Meer" nach Yukio Mishima an der Wiener Staatsoper (Welt).
Kunst
Film
Besprochen werden der Gangsterfilm "I'm Your Woman" (der SZ-Kritikerin Annett Scheffel zufolge das Genre umstülpt, indem er aus der Perspektive der unbeteiligten Ehefrau erzählt), Danielle Lessowitz' im VoD-Angebot der Edition Salzgeber online stehender, von Martin Scorsese co-produzierter Film "Port Authority" über die Transgender-Szene New Yorks (SZ), George C. Wolfes "Ma Rainey's Black Bottom" (NZZ, mehr dazu hier) und die neue BBC-Adaption von Charles Dickens' "A Christmas Carol" (ZeitOnline).
Musik
Als Kind hatte er Angst vor Beethoven, der ihm als Gott verkauft wurde, und die "Ode an die Freude" empfand er immer schon als Bollwerk der Ungerechtigkeit, das Menschen eher vor die Tür setzt, statt sie zu einen, gesteht der Essayist László F. Földényi in der FAZ. Erst Furtwängler hat ihm mit der Neunten die Ohren geöffnet. Hier "fand ich mich inmitten eines allumfassenden, universellen Dramas wieder, in dem alle Teile denselben existentiellen Abgrund heraufbeschworen... Hier geht es nicht um Ideale, sondern um die kosmischen Dimensionen des menschlichen Daseins. Schon als die Pauken im ersten Satz mit einer Gewalt, einer Unausweichlichkeit, einem unerbittlichen, alles andere erdrückenden Klang, der mir weder davor noch danach je begegnet ist, ertönten - Siegfrieds Trauermarsch? Eine Vorahnung Stalingrads oder Dresdens? -, hatte ich keinen Zweifel mehr, dass der 'heil'ge Zirkel' am Ende dieser Neunten Symphonie so schließen würde, dass auch jene darin Platz gefunden haben, die Schiller noch verbannt hatte."
Vor allem im Bereich Rock- und Folkmusik erscheinen immer Deluxe-Boxsets im dreistelligen Kostenbereich, die den Fan geradezu erschlagen mit Archivalien, Raritäten und Merchandise-Tinnef, aktuell gerade von Elton John. Zu tun hat dieser Trend mit der für den Markt dahinschmelzenden wirtschaftlichen Bedeutung von Tonträgern, erklärt Joachim Hentschel in der SZ: Die Boxsexts "tragen die Aura von Luxusprodukten, werden also gezielt für Spezialisten und Sammler gestaltet. Und wirken dabei oft wie der letzte Ausweg der Industrie, um traditionell gelaunte Kunden - die an wirklich neuen Produkten kaum mehr Interesse haben - noch zum Geldausgeben zu bewegen." Was dabei zählt, ist "nicht allein das zu Tode zitierte Haptische, sondern das Erlebnis. Die um die Musik herumgebaute Welt. Ein letztes Mal großer Pop-Zirkus in den Händen."
Weitere Artikel: Artur Weigandt schreibt in der in der FAZ über die belarussischen Gruppen Stary Olsa und Molchat, die mit dem Dudelsack auf die Straße gehen. Wolfgang Pollanz legt im Standard frei, wie es dazu kommen konnte, dass der seinerseits schwer drogenabhängige Elvis Presley sich 1970 in einem mehrseitigen Schreiben Richard Nixon als Drogenspitzel empfahl. Michael Stallknecht porträtiert in der NZZ Andreas Reize, der ab kommenden September in Leipzig als Thomaskantor vorstehen wird. Der einigen als Rechtsaußen geltende Alpenrocker Andreas Gabalier gibt dem Standard, von dem er sich stets missverstanden fühlt, ein Interview. Jürgen Kesting beobachtet für die FAZ, wie der Teufel durch die Musikgeschichte geistert.
Besprochen wird der vom Johannes Hossfeld Etyang, Joyce Nyairo und Florian Sievers herausgegebene Band "Ten Cities" über die südafrikanische Clubszene (NZZ).