Efeu - Die Kulturrundschau

Durch kurzes Entflammen resistent

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12.10.2020. Keine Theorie, nur Poesie und Ironie: NZZ und FAZ geben sich in Basel freudig dem exaltierten Spiel der Götter hin. Im Freitag spricht der Schriftsteller Jonas Lüscher über Schmerz, Demütigung und Hoffnung, die Corona für den Einzelnen bedeutet. Die Jungle World möchte doch noch einmal über Maïmouna Doucourés "Cuties" diskutieren. Die SZ will sich nicht von Spotifys Playlists ihre Gefühlslagen manipulieren lassen. Wahrhaft über der Welt zu schweben, lernt sie in einem Teehaus von Terunobu Fujimori.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.10.2020 finden Sie hier

Bühne

Speisung der Götter in Ovids "Metamorphosen" © Maurice Korbel / Theater Basel

Über einen wahren Theaterorkan jauchzt Daniele Muscionico in der NZZ: Antú Romero Nunes' Inszenierung von Ovids "Metamorphosen" am Theater Basel. Vor allem sieht sie darin auch ein Beispiel für den großen Aufbruch in der Schweizer Theaterwelt. Alles sei hier Spiel, Verwandlung, Fantasie: "Man trifft sich zur Basler Saisoneröffnung auf dem Olymp, also da, wo die Götter nach einem Ratschluss grübeln, wie sie das doch so untreue Menschengeschlecht bestrafen könnten. Die Bühne von Matthias Koch allerdings hat anfänglich wenig zu bieten. Der Göttersitz ist ein traurig-leeres Schaufenster. Und die Götter, die hier vor allem Göttinnen sind - was für ein fabelhaftes neues Ensemble! -, vermitteln den Eindruck von in römische Togen gewickelten Kümmergestalten. Umso größer ist die Überraschung, wie schnell aus ihnen gottlose Menschen werden und ein leerer schwarzer Raum zu einem stickigen bürgerlichen Esszimmer wird. Im zweiten Teil des länglichen Abends wird daraus ein Hotelzimmer in den Farben und scharfen Schatten von Edward Hopper. Das ist groß!"

Auch in der FAZ sieht Simon Strauß in dem Abend ein Manifest des neu aufgestellten Basler Theaters, wenn auch nicht unbedingt viel Ovid: "Ein Manifest wofür? Für das unumwunden einfache, unbeschwert überbordende, exaltiert vergnügungssüchtige Verwandlungsspiel. Für den Übermut, das Tagesvergessene, die Phantasiefreiheit des Theaters. Und für den Überraschungswillen eines jungen, spielwütigen Ensembles." Begeisterung auch bei Nachtkritiker Claude Bühler, der zudem daran erinnert, was die Kultur Ovid zu verdanken hat: "Unsere Museen sind vollgehängt mit Ovids tragischen Szenen: Mord, Inzest, Wahnsinn, Vergewaltigung, Schlachten, tödliches Liebesleid - nichts wird ausgelassen."

Allein schon die Begegnung mit der Schauspielerin Julia Häusermann vom Hora-Theater in ihrer Soloperformance "Ich bin's Frank" "gehört zum Wundervollsten, was man auf dem Theater erleben kann", schwärmt Egbert Tholl in der SZ zum Spielzeitbeginn unter der neuen Intendanz von Barbara Mundels an den Münchner Kammerspielen, und baut allen falschen Erwartungen vor: "Alle diejenigen, die an Mundels Vorgänger Matthias Lilienthal verzweifelten und von dessen Auffassung eines in alle Richtungen offenen Theaters überfordert waren, werden ihre Sehnsucht nach klassischer theatraler Aufbereitung alter Theatertexte noch ein wenig hintanstellen müssen."

Besprochen werden Tschaikowskys "Dornröschen" in der Choreografie von Christian Spuck am Opernhaus Zürich (NZZ), Itay Tirans Inszenierung von George Taboris "Mein Kampf" im Wiener Burgtheater (Standard, Nachtkritik), Andreas Kriegenburgs "Antigone"-Inszenierung am Staatstheater Nürnberg (Nachtkritik) und Monteverdis "L'Orfeo" in Nürnberg (Welt).
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Literatur

In der Coronakrise ist jetzt auch die Literatur als Vermittlerin gefragt, sagt der Schriftsteller Jonas Lüscher, der selbst mit Covid-19 wochenlang im Koma lag, im Freitag-Gespräch. "Wir werden im Verlauf dieser Pandemie in einem vielleicht nie da gewesenen Maße mit naturwissenschaftlichem Expert*innenwissen konfrontiert. ... Wenn wir verstehen wollen, was die Pandemie für die Gegenwart und die Zukunft unserer Gesellschaften bedeutet, dann brauchen wir einerseits Theorien, die uns Erklärungen dafür liefern, was gerade geschieht und was uns eventuell in Zukunft erwartet, die also das große Ganze in den Blick nehmen. Wir brauchen aber eben auch Erzählungen, die uns beschreiben, was das alles für die Einzelne, den Einzelnen bedeutet, die den Schmerz, die Demütigung, aber auch die Hoffnung des Individuums zum Ausdruck bringen. Eine Vielzahl solcher Beschreibungen von Einzelfällen lässt sich dann zueinander in Bezug setzen und in ein narratives Netz einknüpfen, das eine Bedeutung weit über den Einzelfall hinaus besitzt."

Weitere Artikel: Der Tagesspiegel spricht mit Thomas Hettche über dessen für den Buchpreis nominierten, heute auch in der FR besprochenen Roman "Herzfaden", der von der Entstehung der Augsburger Puppenkiste handelt. Im Literaturfeature von Dlf Kultur werfen Beatrice Faßbender und Ulrich Rüdenauer einen Blick darauf, wie die Literatur sich mit dem Phänomen der Neuen Rechten befasst. In der NZZ erzählt Claudia Mäder von den Turbulenzen, die es im französischen Betrieb gerade um Emmanuel Carrères "Yoga" gibt (unser Resümee). Der Tagesspiegel spricht mit Joachim Meyerhoff über dessen Schlaganfall, den er in seinem Bestseller "Hamster im hinteren Stromgebiet" verarbeitet hat. Tobias Wenzel spricht für Dlf Kultur mit dem isländischen Schriftsteller Hallgrímur Helgason über dessen neuen Roman "60 Kilo Sonnenschein". Christiane Frohmann schreibt auf 54books einen Nachruf auf Ruth Klüger (weitere Nachrufe hier). Auf Intellectures gratuliert Thomas Hummitzsch der Schriftstellerin Irina Liebmann zur Auszeichnung mit dem Uwe-Johnson-Preis.

Besprochen werden unter anderem Anne Webers "Annette, ein Heldinnenepos" (Berliner Zeitung), Annie Ernaux' "Die Scham" (taz), Christine Wunnickes "Die Dame mit der bemalten Hand" (Berliner Zeitung, Tagesspiegel), Deniz Ohdes "Streulicht" (Berliner Zeitung), Ulrike Almut Sandigs "Monster wie wir" (Freitag), Kamel Daouds "Meine Nacht im Picasso-Museum" (NZZ) und Maria Attanasios "Der kunstfertige Fälscher" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Tilman Spreckelsen über Doris Runges "märchenhaftes binz":

"mitten im sommer
die schneegeborene
im blauen samt
..."
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Film

Kokette Mädchen, arglose Jungs: "Cuties" auf Netflix

Die Jungle World steigt nochmal in die Kontoverse um Maïmouna Doucourés auf Netflix gezeigten Film "Cuties" ein. Der Film handelt von jungen Mädchen mit Migrationshintergrund, die in Paris das Emanzipationspotenzial des Tanzes für sich entdecken. Vorgeworfen wurde dem Film insbesondere aus dem Lager der US-Rechten, die Körper der Kinder zu sexualisieren. Hiesige Kommentatoren erteilten der Kritik in der Regel eine Absage (siehe dazu etwa hier). Die machten es sich aber zu leicht, meint nun Hannah Kassimi in der Jungle World. Die Vorwürfe seien keineswegs übertrieben, die Darstellungen grenzten an "Kinderpornografie". Auch zu Islam und Patriarchat positioniere der Film sich seltsam: "Auf der einen Seite wird eine Gruppe Pariser Schulmädchen komplett überzeichnet: Sie tragen grotesk knappe Kleidung und auffälliges Make-up, bewegen sich kokett", wohingegen "die Männer hier die Rolle der Arglosen einnehmen. ... Am Ende läuft der Film auf eine falsche Alternative hinaus: Er stellt eine völlig übertriebene Darstellung westlicher Mädchen einer untertriebenen Darstellung patriarchaler Familienverhältnisse gegenüber. In der islamischen Familie gibt es im Film zwar auch Probleme, aber mit sexueller Gewalt scheinen diese nichts zu tun zu haben."

Weitere Artikel: Amira Ben Saoud hat für eine Standard-Reportage Filmdreharbeiten unter Coronabedingungen besucht. In der Berliner Zeitung empfiehlt Claus Löser die Filmreihe "Berlin International" im Zeughauskino. Die Berliner Zeitung spricht mit Nathan Grossmann, der ein Filmporträt über Greta Thunberg gedreht hat. Laura Reti und Daniél Kretschmar diskutieren in der Jungle World das Für und Wider von Synchronisationen.

Besprochen werden Todd Haynes' Teflon-Drama "Vergiftete Wahrheit" (SZ, Presse, Intellectures), die Komödie "Eine Frau mit berauschenden Talenten" mit Isabelle Huppert (taz), die dritte Staffel der ARD-Serie "Berlin Babyloon" (FR), Bildbände über die Dreharbeiten zum James-Bond-Film "Goldfinger" (Tagesspiegel) und über den TV-Produzenten Helmut Ringelmann (CrimeMag) sowie neue Heimmedien, darunter eine DVD von Arthur Ripleys "Thunder Road" von 1958 mit Robert Mitchum (SZ).
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Architektur

Terunobu Fujimoris Ein Stein Tea House. Foto: Insel Hombroich

Ganz verzaubert kommt Laura Weißmüller (SZ) aus dem Teehaus des japanischen Außenseiter-Architekten Terunobu Fujimori, das gerade in der Raketenstation Hombroich zu besichtigen ist. Das Teehaus ist aus unbehandelten Robinienstämmen, mit einer karbonisierten Holzverschalung und durch kurzes Entflammen resistent gegen Wasser und Insekten gemacht worden, erklärt Weißmüller, doch das wahre Geheimnis liege woanders: "Das Schwarz seines Torsos schillert in der Sonne wie mit kurzen Federn oder Fell bewachsen. Und wer Glück hat, der kann beobachten, wie das Stelzentier seine geschwungenen Augen öffnet - jedoch mit einem leisen Rattern und von der Mitte zur Seite statt mit einem kräftigen Augenaufschlag.'Bei der Gestaltung von Teehaus-Architekturen ist es notwendig, eine unabhängige Welt zu schaffen, die vom täglichen Leben getrennt ist. Der Schlüssel dazu ist, das Teehaus über den Boden schweben zu lassen', schreibt Terunobu Fujimori." Weitere hinreißende Teehhäuser hier.

Weiteres: Claudia Mäder erzählt in der NZZ die Geschichte der Schweizer Stauwerke.
Archiv: Architektur

Kunst

Als zutiefst human erklärt FAZ-Kritiker Raimund Stecker die Beklemmung, die Psychohaus-Künstler Gregor Schneider der ehemaligen amerikanischen Botschaft in Den Haag einbaut. Im Tagesspiegel bangt Masha Slawinski um die Zukunft der Berliner Uferhallen. Im Guardian freut sich Jonathan Jones über die Ausstellung "Sin", mit der die National Gallery ihre provokantesten Bestände seit Cranachs "Venus" auch von alten Übermalungen befreit.
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Stichwörter: Schneider, Gregor, Den Haag

Musik

Der Erfolg der Gefühlslagenplaylists auf Spotify führt dazu, dass zum Missfallen ernsthafter Künstler immer mehr herbeiproduzierte Gebrauchsmusik in die Datenreservoirs des Streamingdienstes gedrückt wird. Wahre "Sound-Spammer", die beachtliche Reichweiten erzielen, sind da am Werk, schreibt Michael Moorstedt in der SZ-Netzkolumne: Dahinter "stehen keine hoffnungsvollen jungen Musiker, die auf den Durchbruch warten, sondern geschickte, skrupellose Geschäftsleute. Genau wie es eine eigene Industrie gibt, die nichts anderes tut, als dafür zu sorgen, dass die Inhalte ihrer Kunden in den Ergebnislisten der Suchmaschinen ganz oben landen, wird das gleiche Prinzip auch in anderen Ökosystemen angewandt. Die Musikindustrie macht da keine Ausnahme."

Weitere Artikel: Die FAZ spricht mit Christoph Koncz, der für eine Aufnahme von Mozarts Violinkonzerten auf Mozarts eigener Konzertgeige gespielt hat.

Besprochen werden Saults neues Album "Untitled (Rise)" (ZeitOnline), das neue Album von Sufjan Stevens (SZ) sowie Mondbetrachtungsmusik auf den neuen Alben von Michael Wollny (mehr dazu bereits hier) und Luzius Schuler (FAZ). Wir hören rein:

Archiv: Musik