Efeu - Die Kulturrundschau

Wie man in Granit bohrt

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21.04.2020. In der taz setzt David Lau die Diskussion ums Streaming in der Kultur fort und fordert den freien Zugriff: Endlich Bolschoi-Ballett sehen! 54books beklagt die auch analoge Untervergütung im Literaturbetrieb. In der SZ spricht Wolfgang Tillmans von der coronabedingten Dynamik nach oben und seiner Solidaritätsaktion für die queere Szene. Die FAZ tröstet sich mit Jonas Mekas. Der Tip will den Mäusebunker retten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.04.2020 finden Sie hier

Kunst

Wolfgang Tillmans, 'I feel safer in the city' 2018. Für die Siegessäule.
Im SZ-Interview mit Jens Bisky und Catrin Lorch spricht Fotograf Wolfgang Tillmans über den Lockdown, die fatale Dynamik nach oben, die neue Verachtung für die schmuddelige Großstadt und seine Solidaritätsaktion: "Zunächst wollte ich dem Berliner Magazin Siegessäule eine Edition zum Druck anbieten, als Unterstützung. Dann stellte sich heraus, dass die Siegessäule an einer Crowdfunding-Plattform arbeitet, und wir entwickelten die Idee einer unlimitierten Edition, mit der kulturelle Orte, die dringend auf Unterstützung angewiesen sind, ihre Sponsoren belohnen können. Ich maile und telefoniere seither frenetisch mit Künstlern und Freunden wie Mark Leckey, Andreas Gursky, Marlene Dumas oder Klara Liden und habe einen sehr guten Rücklauf. Die Poster sollen fünfzig Euro kosten, die kleinen Verlagen, Plattenläden, Kunstvereinen, Labels, Clubs zugutekommen."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel fordert Peter von Becker die Öffnung der Museen: Im FR-Interview setzt Matthias Wagner K, Direktor des Frankfurter Museums für Angewandte Kunst, auf eine Wiedereröffnung der Kunsthäuser im Mai. Katharina Rustler berichtet im Standard von den Aufrufen österreichischer Museen, Corona-bezogene Alltagsgegenstände zu sammeln, um die Krise festhalten zu können. In der SZ schreibt Andrian Kreye zum Tod des Fotografen, Dandys und Abenteurers Peter Beard. In Intellectures würdigt ihn Thomas Hummitzsch auch als Retter ostafrikanischer Elefanten und Hoffotografen der amerikanischen High-Society. Stefan Trinks erkundet in der FAZ die Reize, die das Einhorn von jeher auf Kinder, Kunst und Ökonomie ausübt: "Gerieben gab es das kostbare Horn in Apotheken gegen die Pest, die vielgelesene Hildegard von Bingen empfiehlt seine Haut gegen Seuchen."
Archiv: Kunst

Bühne

"Vier Minuten reine Anmut" seufzen französischen Zeitungen, hingerissen vom Video, das Cédric Klapisch zu Prokofjew mit Tänzerinnen und Tänzern der Opéra Paris drehte. Als Geschenk, Dankeschön oder kleiner Trost für die anderen im Homeoffice Eingeschlossen:



Anna Fastabend porträtiert in der SZ das Kollektiv Onlinetheater.live, das seit jeher seine Stücke ausschließlich für den digitalen Raum entwickelt. Im Mai soll das Theater-Game "Hyphe" Premiere haben: "Anders als bei den herkömmlichen Social-Media-Plattformen soll es bei 'Hyphe' gerade nicht um eine geschönte Selbstdarstellung gehen, sondern um zwischenmenschliche Nähe durch Transparenz. Vom Konzept der 'Radical Honesty' inspiriert, animiert die ominöse Figur Birder die Teilnehmer dazu, ihre Schwächen zu offenbaren. Der Titel ist an den botanischen Begriff für die fadenförmigen Zellen von Pilzen angelehnt, die zusammen mit den Wurzeln und Bakterien das 'Wood Wide Web' bilden. 'Das ist ein unterirdisches Netzwerk, mit dem sich Bäume gegenseitig vor Gefahren warnen', sagt (Produktionsleiterin Fabiola) Kuonen."

In der taz antwortet David Lau auf Uwe Mattheiss' Aufruf "Hört auf zu streamen!", in dem Mattheis die Theaterleute davor warnte, noch stärker auf die Gig-Ökonomie zu setzen (unsere Resümees hier oder hier). Lau betont lieber die großen Möglichkeiten, die ein offener Zugriff ermöglicht: "Das Bolschoi-Theater Moskau ist weltberühmt. In der Coronakrise haben nun erstmals Menschen aus der ganzen Welt die Möglichkeit, online einen Eindruck davon zu bekommen, wofür privilegierte Menschen bis zu 250 Euro ausgeben.Es geht nicht um Ersatz, es geht um die Erweiterung des Möglichen. Der freie Zugriff auf Kunst- und Kultur muss ebenso ein Ziel sein, wie es der freie Zugriff auf Wissen ist."

Weiteres: In der NZZ meldet Daniele Muscionico, dass jetzt auch das Schauspielhaus Zürich mit Krzysztof Kieslowskis "Dekalog" seine Streaming-Premiere versucht. Im Stream der Nachtkritik gibt es heute Abend "Lost and Found" von Yael Ronen und Ensemble.
Archiv: Bühne

Film

Verena Lueken tröstet sich in der FAZ mit den gerade als Buch erschienenen und sehr materialreichen New-York-Tagebüchern des Experimentalfilmemachers Jonas Mekas, der in den Fünfzigern als Migrant in die Metropole kam und sich dieser auf produktive Weise nie ganz anverwandelte: "Schreiben, das zeigt dieser herrliche Band, war für Jonas Mekas im selben Maße wie das Filmemachen untrennbar mit ihm verbunden: kein Akt, sondern Teil seiner Existenz. ... Dieser Band ist ein phantastisches Scrapbook geworden - mehr als 800 Seiten voller Witz und Weisheit gepaart mit unerwarteten Fotos, Zeitungsausschnitten oder Kinolisten, Eintrittskarten, Briefkopien. Ganze Unterhaltungen hat Jonas transkribiert, wenn es wichtig war."

Außerdem: Sofia Glasl hat sich für den Filmdienst bei Freischaffenden in der Filmbranche umgehört, wie diese mit der Krise umzugehen versuchen. Thomas Hummitzsch empfiehlt auf Intellectures die Filme des japanischen Regisseurs Sabu, die man derzeit - neben weiteren Perlen des asiatischen Kinos - auf dem Video-on-Demand-Portal des Filmverleihs Rapid Eye Movies streamen kann. Dort findet sich auch Eiichi Yamamotos avantgardistischer Animationsfilm "Die Tragödie der Belladonna", den Perlentaucher Thomas Groh vor einigen Jahren empfohlen hatte. Till Kadritzke führt im Tagesspiegel durch das Programm des Online-Saals des Berliner Kinos Arsenal: "ein offenes Experimentierfeld". Christiane Peitz hat für den Tagesspiegel nachgesehen, welche für den Deutschen Filmpreis nominierte Filme bereits online zu sehen sind.

Besprochen werden Tayarisha Poes auf Amazon veröffentlichter Debütfilm "Selah and the Spades" (taz), Savaş Ceviz' "Kopfplatzen" (Jungle World) und George A. Romeros Virusfilmklassiker "The Crazies" von 1973 (critic.de).
Archiv: Film

Literatur

Ziemlich angefressen zeigt sich die Autorin Dana Buchzik auf 54books von den zahlreichen blumigen Würdigungen des Kultur- und Literaturbetriebs, der sich dafür feiern lässt, dass er nun eher händeringend als souverän binnen kurzer Zeit Versäumnisse wie etwa die Errichtung digitaler Strukturen nachholt, und sich ansonsten im eigenen Glanz sonnt. "Nina George ist eine von wenigen, bei denen anklingt, dass nicht der Staat das Problem ist, sondern der Kulturbetrieb selbst, mit seiner systematischen Untervergütung und seinen, diplomatisch formuliert, semiprofessionellen Plattformen und Verwertungsstrategien. Die einzig denkbare positive Nebenwirkung dieser fatalen globalen Pandemie wären kritische, fundamentale Fragen. Etwa, warum wir an Strukturen partizipieren, die es uns verunmöglichen, Rücklagen zu bilden. Mehr noch: Die uns dem Bankrott aussetzen, sobald Wirtschaft oder eigene Gesundheit schwächeln."

Mit großer Freude flaniert der Schriftsteller Alain Claude Sulzer für die NZZ durch die Privatsammlung Edmond de Goncourts, die dieser einst in seinem Buch "La maison d'un artiste" detailliert beschrieben hat und deren Artefakte Eingang in diverse Museen gefunden haben: Man folgt "dem einstigen Hausherrn vom Erdgeschoss bis unters Dach. ... Überall stehen Vitrinen, in denen Kristallgläser, Silber, japanische Elfenbeinfigürchen, Porzellan, Alltags- und Kunstobjekte aus Europa und Asien präsentiert werden. Selbst das Badezimmer habe, so berichtet der enge Freund Alphonse Daudet, jeden praktischen Aspekt verloren. Wie unglücklich aber wäre dieser Hausherr, wenn er keine Möglichkeit hätte, einen kolorierten Stich oder eine Tonscherbe zu betrachten, während er sich der langweiligen Prozedur des Waschens oder der Rasur unterzieht."

Weiteres: Kamel Daoud schreibt im Guardian, wie die Lektüre von André Gide sein Leben veränderte. Für die FAZ-Reihe "Mein Fenster zur Welt" wirft der slowenische Schriftsteller Aleš Šteger einen Blick auf die Straßen Ljubljanas - und ertappt sich bei diesem Schauen aufs eigene Schauen bei einem Gefühl von "Ehrfurcht, Schrecken und Dankbarkeit". Arno Widmann (FR) und Reinhard Mohr (Welt) gratulieren dem Schriftsteller Peter Schneider zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Mario Vargas Llosas "Harte Jahre" (Berliner Zeitung), zahlreiche Bücher über die Geschichte und Gegenwart Istanbuls (taz), Joann Sfars und Christophe Blains Wiederbelebung des Westerncomic-Klassikers "Blueberry" (Tagesspiegel), ein Briefwechsel und neue Bücher zu Paul Celan (Zeit), Xavier-Marie Bonnots Krimi "Der erste Mensch" (online nachgereicht von der FAZ), die Wiederveröffentlichung von Ernst Dronkes "Berlin" aus dem Jahr 1846 (SZ) und eine Neu-Edition von Hans Falladas "Der eiserne Gustav" (FAZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Die Forschungseinrichtung für experimentelle Medizin der Charité. Foto: SOS Mäusebunker


Der Berlin Tip berichtet von einer Petition, die sich gegen den Abriss des einmaligen Mäusebunkers wehrt. Das Gebäude beherbergt die Zentralen Tierlaboratorien der Charité - was heute "Forschungseinrichtung für Experimentelle Medizin" heißt -, aber verehrt wird der schräge Betonklotz als einzigartiges Werk des deutschen Brutalismus, aus einer Zeit, also noch experimentell gebaut wurde (unser Resümee): "Die Charité sieht die Sache mit dem Denkmalschutz naturgemäß als Bauherrin etwas anders. Wobei ihre Position gar nicht so starr ist, wie es scheint. In Sachen Hygieneinstitut ist "ein Rückbau des Gebäudes seitens der Charité aktuell nicht geplant". Nur beim Mäusebunker hält man noch daran fest."
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Musik

Freunde nach oben gestellter Aufnahmepegel kommen auf dem neuen Album "Big Vicious" des Jazztrompeters Avishai Cohen voll auf ihre Kosten, versichert Thomas Steinfeld in der SZ. Zwar hat Cohens hell klingende Trompete ihren Klang für sich bewahrt, aber darunter arbeiten sich nun zwei Schlagzeuger und zwei Gitarristen heftig ab, erfahren wir: " Es ist, als würden Zahnärzte in einen Steinbruch geschickt, damit sie lernen, wie man in Granit bohrt. Und als würde ihnen die harte, grobe Arbeit eine grausame Freude bereiten, während die Trompete in kalter, einsamer Schönheit die Aufsicht über das Spektakel führt". Dabei entstehe eine "fast unheimliche Mischung des Feinen mit dem Groben". So ganz und gar nachvollziehen lässt sich diese Drastik anhand dieses Videos zwar nicht, aber sehr schön ist das Stück doch:



Weitere Artikel: Für die NZZ spricht Thomas Schacher mit Ilona Schmiel, der Intendantin des Tonhalle-Orchesters, über die momentane Lage des Ensembles, das sich weitgehend in Kurzarbeit befindet, sich aber erfinderisch genug zeigt, um weiterhin miteinander arbeiten zu können. Tagesspiegel-Kritiker Frederik Hanssen kann sich nicht recht vorstellen, dass die nun von den Berliner Philharmonikern angekündigten Pläne für die Saison 20/21 auch tatsächlich umgesetzt werden können. Außerdem stellt Hanssen im Tagesspiegel die Digital Stage vor, die digitale Chorproben ohne nervende Zeitverzögerung möglich machen will.
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