9punkt - Die Debattenrundschau

Ideale gegen Komfort

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.11.2017. In der taz verteidigen FrauenärztInnen ihre Kollegin Kristina Hänel gegen radikale AbtreibungsgegnerInnen. Der Historiker Ulrich Herbert wünscht sich ebenfalls in der taz mehr Utopie. In der NZZ betont Petros Markaris, auch mit Blick auf Osteuropa: Griechenland und Portugal haben nie Demokratie oder Rechtsstaat infrage gestellt. Die Welt besucht Noam Chomsky. In der FR zweifelt Wolfgang Kraushaar am politischen Antrieb der RAF. Die Talking Points Memo fürchten den Crash amerikanischer Online-Medien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.11.2017 finden Sie hier

Gesellschaft

In der taz solidarisieren sich FraunärztInnen mit ihrer Kollegin Kristina Hänel, die ins Visier radikaler AbtreibungsgegnerInnen geraten ist. Wie Dinah Riese berichtet, werfen sie der Ärztin vor, auf ihrer Seite darüber informiert zu haben, dass in ihrer Praxis Abbrüche vorgenommen werden und stützen sich dabei auf einen Uralt-Paragrafen: "Dieser stammt aus dem Jahr 1933 und diente ursprünglich dazu, jüdische und kommunistische Ärzte zu kriminalisieren. Noch heute verbietet er die 'Werbung für den Abbruch einer Schwangerschaft' - auch sachliche Informationen und das Auflisten des Abbruchs im Leistungsspektrum einer Praxis werden als Werben 'des Vermögensvorteils wegen' verstanden. Bei einer Anzeige nach Paragraf 219 a können den Ärzten eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder eine Geldstrafe drohen."

Matthias Heine registriert in der Welt besorgt das Aussterben der deutschen Dialekte in vielen Regionen, wo nur noch die Alten Mundart sprechen.
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Europa

Petros Markaris, Krimi-Schriftsteller und exzellenter Erklärer jeder griechischen Krise, bilanziert in der NZZ, wie wenig alle Beteiligten aus der großen Schuldenkrise gelernt haben. Ganz am Ende sieht er jedoch etwas, das Europa von Griechenland und Portugal lernen kann: "Beide Länder hatten sich aus den Klauen einer Diktatur gelöst, als sie EWG-Mitglieder wurden. Portugal hatte die Salazar-Diktatur und Griechenland die Militärdiktatur überwunden. Trotz der noch jungen demokratischen Tradition gab es in beiden Ländern entgegen allen Sparmaßnahmen und Troika-Memoranden nie die Versuchung, sich von der liberalen Demokratie abzuwenden. Die politische Klasse Griechenlands hat vieles falsch gemacht und wiederholt heute noch immer dieselben Fehler. Aber die Fundamente und die Institutionen der Gesellschaft hat keine Regierung je angetastet. Die Europäer sollten das durchaus zu schätzen wissen. Ein Blick auf die demokratiepolitischen Sorgenkinder Ungarn und Polen genügt, um den Unterschied zu begreifen."
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Geschichte

In einem FR-Interview mit Michael Hesse spricht der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar noch einmal ausführlich über die RAF und fragt sich wie links oder politisch die Terrorgruppe überhaupt war: "Bei der RAF gab es politische Begründungsmuster, aber ich glaube dennoch nicht, dass diese für die RAF wirklich zentral gewesen sind. Man muss sich ja nur einmal vorstellen, dass es vom Mai 1970 bis zum Mai 1972, also zwei geschlagene Jahre gedauert hat, bis sie über ihre logistischen Vorbereitungen hinaus gelangt war und Bombenanschläge hat verüben können."
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Stichwörter: Kraushaar, Wolfgang, RAF

Religion

Der Theologe Jan-Heiner Tück verteidigt Papst Franziskus, den seine Gegner in Art einer vatikanischen Palastintrige unter Häresieverdacht stellen. Der Papst ziehe keinerlei Lehrmeinung in Frage: "Franziskus lehnt einen Rigorismus ab, der Zweitehen zwischen Getauften als 'fortgesetzten Ehebruch' betrachtet und die Betroffenen von den Sakramenten ausschließt. Er entspricht aber auch nicht der Erwartung, die Sakramente unterschiedslos für alle freizugeben. Doktrinäre Kaltherzigkeit und liberale Gleichgültigkeit sind keine guten Ratgeber, wenn Menschen in schwierigen Lebenslagen geholfen werden soll. Das aber ist das Anliegen von Franziskus, der die Kirche gerne als 'Feldlazarett' bezeichnet und eine Seelsorge fordert, die hilft und heilt statt verurteilt und ausgrenzt."
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Ideen

Für die Literarische Welt besucht Mirthe Berentsen das linke Schlachtross Noam Chomsky, dessen Energie sie bei aller Differenz nur bewundern kann: "Chomskys Gegner weisen gern auf die Inkonsequenz und den Folklorismus seiner Argumente hin. Seine Fans schätzen ihn für seine Ausdauer. Wo das Gros der linken Elite längst in Tiefschlaf versunken ist oder Ideale gegen Komfort eingetauscht hat, setzt Chomsky seinen Kampf gegen Ungerechtigkeiten unermüdlich fort. Ich frage Chomsky, ob seine superlativischen Statements nicht sehr nah an Trump-Tweets sind, die effekthascherisch von 'der größten Hexenjagd auf einen Politiker in der amerikanischen Geschichte' sprechen. Die republikanische Partei, hat Chomsky einmal behauptet, sei 'die gefährlichste Organisation in der Geschichte der Menschheit'. Chomsky: 'Für sich genommen, ja. Aber wenn Sie sich den Sachverhalt evident machen, wirkt mein Satz gar nicht mehr so abscheulich."

Und wenn Francis Fukuyama doch recht hatte? Wenn wir doch ans Ende der Geschichte gekommen sind? In der taz erwägt der Historiker Ulrich Herbert, das uns mit dem Ende der Utopien vielleicht auch der Fortschritt abhanden gekommen ist: "Nach dem Konkurs der Erlösungsfantasien sind wir auf uns selbst zurückgeworfen, auf die Bedingungen, die wir vorfinden, auf die Prosaik der Gegenwart. Hat eine Gesellschaft aber gar kein Zutrauen mehr in den Gedanken, dass auch die ganz großen Probleme lösbar sind, so enthebt sie sich ihrer Zukunftsfähigkeit. So gesehen sind Visionen für eine Gesellschaft geradezu überlebensnotwendig, Visionen, die eine Zukunft beschreiben, die jenseits der Zwänge und systematischen Logiken der Gegenwart steht."
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Medien

Auf den Talking Point Memos berichtet Josh Marshall, dass in den vergangenen beiden Jahren fast die gesamten Zuwäche in den Werbeeinnahmen von Google und Facebook geschluckt wurden, die Online Medien haben nichts abbekommen: "I've mentioned before that digital news media is in the midst of a monetization crisis. But it's more than that. It's a full blown crash.
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Stichwörter: Digitale Medien