9punkt - Die Debattenrundschau

Weitgehend abgedichtet

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.11.2017. Vorgezogene Neuwahlen mögen opportun erscheinen, aber wären sie legitim? Philipp Gassert bei Zeit online und Gustav Seibt in der SZ liefern historische Argumente dagegen.  Eine Minderheitsregierung wäre in Deutschland übrigens nicht so neu, wie man denkt, merkt Ulrike Hermann in der taz an. Der Streit um Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen ist in der Linkspartei angekommen, wo die extremere Fraktion den Kultursenator Klaus Lederer attackiert, berichtet der Tagesspiegel.  Und Google degradiert laut Guardian russische Medien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.11.2017 finden Sie hier

Europa

Eine Minderheitsregierung ist in Deutschland eigentlich gar nichts Neues, schreibt Ulrike Hermann in der taz, "denn alle wichtigen Gesetze müssen nicht nur den Bundestag passieren, sondern auch den Bundesrat. Doch in der Länderkammer haben meist genau jene Parteien das Sagen, die im Bundestag in der Opposition sind. Also mussten die deutschen Bundeskanzler schon immer mit allen Parteien taktieren und feilschen, um ihre Gesetze durch Bundesrat und Bundestag zu bringen."

Der Zeithistoriker Philipp Gassert liefert bei Zeit online historische Argumente gegen Neuwahlen: "Warum das Grundgesetz von vorgezogenen Neuwahlen nichts hält, ist historisch erklärbar: Es reagiert auf die Zerstörung der Weimarer Demokratie nach dem 27. März 1930, als die letzte parlamentarisch legitimierte Regierung scheiterte. Vorgezogene Neuwahlen am 14. September ließen die bisherige Splitterpartei NSDAP zu einem erstrangigen Machtfaktor der deutschen Politik werden. Ihre Mandatszahl schnellte auf 107 Reichstagssitze hoch, gleichzeitig verbesserten sich die Kommunisten."

Auch Gustav Seibt zeigt in einem historischen Beitrag in der SZ, wie in der Weimarer Republik mit Neuwahlen Unheil angerichtet wurde, und er beschreibt die ständige Versuchung des Opponierens in der Regierung. Die Kritik an der FDP kann er nicht teilen: "Das Argument mit dem Wählerauftrag allerdings ist ein Joker, der entweder für alle gilt - oder eben nicht sticht. Den Willen 'des' Wählers gibt es so wenig wie den Willen 'des' Volkes - das Parlament hat auch die Aufgabe, diesen Willen und seinen Widerstreit zugleich zu formen. Warum sollte der Wählerauftrag der SPD höher stehen als der der FDP?"

Heute wird in Den Haag das das Urteil gegen den serbischen General Ratko Mladic verkündet. Im Interview mit Ronen Steinke von sueddeutsche.de spricht der Chefankläger Serge Brammertz von Revisionismus in den Bürgerkriegsländern Ex-Jugoslawiens und nennt es schockierend, "dass man gerade in den letzten Monaten sieht, wie sehr die Verherrlichung von verurteilten Straftätern in der Region zur Mode wird. Im vergangenen Jahr wurde ein Universitätsgebäude in der serbischen Stadt Pale nach dem früheren serbischen Anführer Radovan Karadzic benannt - kurz vor der Urteilsverkündung bei uns in Den Haag, bei der er wegen Völkermords zu 40 Jahren verurteilt wurde."
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Kulturmarkt

Die Lobby der Film- und Fernsehproduzenten hat sich bei der EU durchgesetzt - das Geoblocking bei ihren Inhalten bleibt bestehen, berichtet Stefan Krempl  bei heise.de. Die umständliche Lizenzvergabe Land für Land innerhalb der EU ist als Einnahmequelle für die vielfach subventionierten Produzenten einfach zu interessant. Der zuständige Ausschuss des EU-Parlaments hat sich dem Druck der Produzenten gebeugt: "Mediatheken bleiben demnach weitgehend abgedichtet für Zugriffe aus anderen Mitgliedsstaaten. Einziges weiteres Zugeständnis der Volksvertreter: Plattformbetreiber, die Pakete verschiedener TV-Kanäle anbieten, sollen die Programmrechte von anderen EU-Ländern über Verwertungsgesellschaften einfacher erhalten können. In allen anderen Fällen bleibt laut der Position der Abgeordneten die Option für Sender zum Geoblocking erhalten."
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Kulturpolitik

In einem Artikel über interne Streitigkeiten bei der Linkspartei schreibt Matthias Meisner im Tagesspiegel auch darüber, dass die geplante Veranstaltung des Verschwörungstheoretikers Ken Jebsen im Berliner Kino Babylon-Mitte in der Partei (unsere Resümees) für heftigen Ärger sorgte. Kultursenator und Genosse Klaus Lederer, der ein Kritiker des Antisemitismus in der Linkspartei ist, hatte die Absage der Veranstaltung durch einen Facebook-Post ausgelöst. Laut Meisner sind die Parteilinken Diether Dehm und Wolfgang Gehrcke  damit gar nicht einverstanden: "Dehm und Gehrcke .. veröffentlichten nun einen Aufruf, der sich explizit gegen ihren Genossen richtet: Das Vorgehen des Kultursenators sei 'weder links noch emanzipatorisch', heißt es darin. Verbissen würden 'kritische Geister' als Verschwörungstheoretiker, Antiamerikaner, Antisemiten oder Querfrontler diffamiert, Jebsen sei dabei eines der 'Lieblingsobjekte' geworden. Die beiden Linken-Politiker wünschten Lederer indirekt einen Shitstorm herbei. Es müsse, heißt es in dem Appell von Dehm und Gehrcke, 'mehr gemeinsame Aktionen' geben 'gegen den zerstörerischen Ungeist von Stigmatisierungen und Zensur'. Dies ausdrücklich 'auch in den eigenen Reihen'."

Im Blog Matroschka wird darauf hingeweisen, dass im Kino Babylon-Mitte, das vom Berliner Kultursenat subventioniert wird, auch eine Veranstaltung des 9/11-Verschwörungstheoretikers Daniele Ganser geplant ist.
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Gesellschaft

In der #MeToo-Kampagne identifizieren sich zu viele Autorinnen (und einige Autoren) zu schnell als Opfer und vermischen leichtere Vorwürfe wie Sexismus und schwere wie Vergewaltigung in einer Suppe, die jede Differenzierung erstickt. Jan Feddersen plädiert dagegen in der taz für eine offenere Gesprächskultur: "Sprechen lohnt sich bestimmt, vielleicht nicht immer gleich in der Zeitung, aber darüber etwa: Wie soll Sexuelles überhaupt sein? Als Vertragsverhandlungen? Wie geht dann Verführung? Wie kann Überwältigung (nicht: Vergewaltigung!) gelingen, sofern beide das wünschen? Sprecheinschränkungen oder Abwertungen von Sprechenden wegen ihrer Haltungen oder gar wegen ihres Geschlechts: wertlos, alles."
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Internet

Google wird russische Desinformationsmedien wie Russia today oder Sputnik in seinen Suchergebnissen und bei Google News herabstufen, berichtet Alex Hern im Guardian und zitiert Alphabet-Chef Eric Schmidt, der sich in Kanada äußerte: "Schmidt beschrieb die bisherige Herangehensweise der Tech-Industrie bei Desinformation als 'naiv'... 'Vor zehn Jahren dachten, dass die Leute mit dem Internet umgehen können, wir alle wussten, dass es voller Lügen und voller Wahrheiten ist. Aber die Daten, die wir aus Russland 2016 und von anderen Akteuren haben, zeigen, dass wir handeln müssen.'"
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Ideen

Die FAZ setzt ihrer Reihe mit Bocksgesängen emeritierter Professoren fort. Jetzt beklagt Jurist Reinhard Merkel das moralische Desaster der deutschen Flüchtlings- und Einwanderungspolitik, die pharaminöse Kosten mit sich bringe, welche wiederum in der Entwicklungshilfe besser angelegt wären: "Aufrechnungen zur Sedierung des eigenen Gewissens schenke man sich: Wir bleiben zur Hilfe für die Armen der ganzen Welt verpflichtet, und zwar aus Gründen globaler Gerechtigkeit. Dass uns der größte Teil der dafür verfügbaren Mittel in Zukunft fehlen wird, weil wir ihn in grotesker Asymmetrie einer winzigen Minderheit zuwenden, um die Not der riesigen Mehrheit weiterhin mit den gängigen Almosen abzuspeisen, dispensiert uns nicht."

Philosoph Dieter Birnbacher benennt im Interview mit Michael Hesse von der FR das moralische Problem der Klimapolitik: "Was uns nicht auf den Nägeln brennt und als eigene Belastung spürbar wird, motiviert uns nur sehr schwer zum Handeln, vor allem dann, wenn es uns selber Einschränkungen in unserem persönlichen Lebensstil auferlegt. Das ist das Hauptproblem, dem wir uns moralisch und politisch gegenübersehen."

In der NZZ ergreift Bassam Tibi als "gelbhäutiger muslimischer Westasiate aus Damaskus" das Wort in der NZZ-Debatte über Kulturrelativismus und gibt Rene Scheu gegen Dieter Thomä Recht: die Vorstellung, jeder Kulturkreis habe seine eigene spezifische Vernunft, ist Tibi fremd. Er ist überzeugt, dass die "Kulturrelativisten", die "die Aufklärung bloß für eine europäische Marotte halten, in die Hände der Islamisten arbeiten, die wahrhafte Neo-Absolutisten sind. Wer das so klar ausspricht, agiert nicht undifferenziert - im Gegenteil. Vielmehr trifft er nötige Unterscheidungen und kann sich allein so für die Neubelebung des islamischen Rationalismus von Averroës und Avicenna als interkulturelle Brücke glaubhaft einsetzen. Das sind islamische Rationalisten und also durchaus Vorgänger Kants."
Archiv: Ideen