9punkt - Die Debattenrundschau

Die impliziten Loyalitäten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.11.2017. Nicht tragisch, ja demokratietheoretisch sogar zu begrüßen, findet der Parteienforscher Niko Switek in der SZ  das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen. Schade, dass aus Jamaika nichts wird, meint Thomas Schmid in der Welt. Gut, dass nichts draus wird, rufen die Salonkolumnisten. Eine Minderheitenregierung wäre reine Romantik, meint das Verfassungsblog.  Einen Tag vor dem Urteil gegen Ratko Mladic erinnert AFP an das Massaker von Srebrenica.  Und nach Lektüre von NZZ und Zeit online fragt sich: Wie schlimm wird AI?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.11.2017 finden Sie hier

Europa

Schwerpunkt Aus für Jamaika

Schade, findet Thomas Schmid in der Welt. Jamaika wäre "nicht nur atmosphärisch, nicht nur des guten Klimas wegen ein schöner Fortschritt gewesen. Sondern auch in der viel beschworenen Sache... Großes, das nicht ideologisch, sondern ganz praktisch begründet ist. Digitalisierung, Verkehr, Infrastruktur, europäische Einigung und der Umgang mit dem weltweiten Migrationsdruck: Das sind die Fragen, die auf beherzte Antworten warten. Geht man sie pragmatisch an, schmelzen die Differenzen schnell zusammen."

"Gut, dass aus Jamaika nichts wird!" Die Salonkolumnisten haben die "Inhalte des Sondierungspapiers" Kapitel für Kapitel angeschaut. Tobias Blanken schreibt zum Kapitel Außenpolitik: "Beim Lesen des Sondierungspapiers wurde man das Gefühl nicht los, dass sich die Sondierer einfach aus dem Auswärtigen Amt einen Zettelkasten mit den schönsten und angesagtesten Textbausteinen des Jahres besorgt hatten. Dummerweise jedoch den Zettelkasten von 2005."

Im Interview mit sueddeutsche.de findet der Parteienforscher Niko Switek das Scheitern der Koalitionsverhandlungen nicht tragisch, eher im Gegenteil: "Rein demokratietheoretisch ist das, was wir gerade erlebt haben, in Teilen vielleicht sogar zu begrüßen. Immerhin haben die Gespräche gezeigt, dass die Parteien eine Schmerzgrenze haben. Dass sie nicht, wie man ihnen allenthalben vorwirft, inhaltlich austauschbar sind. ... Ich würde aber eher dazu raten, das Scheitern als Chance zu begreifen. Sollte es tatsächlich Neuwahlen geben, hat der Wähler durch die intensiven Sondierungen doch viele Einblicke ins Innenleben der Parteien gewonnen."

Als "Romantik" tut der Jurist Florian Meinel im Verfassungsblog die Idee ab,  eine Minderheitsregierung würde zur Stärkung von Parlament und Demokratie beitragen. Diese Idee gehe "von einer Ideologie der Gewaltentrennung aus, die der Verfassung ganz fremd ist". Meinel befürwortet statt dessen "die impliziten Loyalitäten eines Mehrparteienparlaments mit der Aufgabe zur Mehrheitsbildung. Ob eine aus der jetzigen Situation hervorgegangene Minderheitsregierung die politische Kraft hätte, einer solchen Auflösung eingespielter Handlungsmuster etwas entgegenzusetzen, ist mehr als zweifelhaft. Was an deren Stelle träte, ist völlig offen."

Erleichtert ist Jean Quatremer, der Libération-Korrespondent in Brüssel darüber, dass die FDP nicht in der deutschen Regierung sein wird: "Eine Mehrheit mit den Liberalen, die von Merkel den strategischen Posten des Finanzministers forderten, hätte jede weitere Integration der Eurozone verhindert. Denn sie verweigern sich jeder finanziellen Solidarität zwischen den 19 Mitgliedern der Eurozone."

Außerdem: Jürgen Kaube fordert in der FAZ, dass sich die Parteien wieder auf ihre Ideologien besinnen.

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Für Mittwoch wird in Den Haag das Urteil für Ratko Mladic, den "Schlächter des Balkan" und Mitverantwortlichen am Massaker von Srebrenica, erwartet. "Eine Seite der Geschichte wird zugeschlagen", heißt es in einem in l'Express verölffentlichten AFP-Artikel: "sowohl für Ex-Jugoslawien, dessen größte Verbrecher verurteilt worden sind, als auch für die internationale Justiz. Der serbische Ex-Präsident  Slobodan Milosevic, der 2006 tot in seiner Zelle aufgefunden wurde, war der erste Staatschef, der je vor einem internationalen Gericht stand."

Die AFP-Reporterin Sonia Bakaric erinnert sich in einem großen Online-Dossier der Agentur an das Jahr 1995 in Srebrenica: "Ich sehe noch die verlegenen Gesichter der UNO-Sprecher, von denen ich wissen wollte, ob es Luftschläge gegen die serbischen Stellungen geben würde, um den Ring um die Enklave zu sprengen. Oder ob wenigstens Korridore der seit drei Jahren blockierten Bevölkerung erlauben würden, dem Feuer der serbischen Artillerie zu entkommen. Ihre Antworten waren vage."
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Wissenschaft

Auf Zeit online porträtiert  Thomas Trescher den Wiener Kybernetiker und AI-Forscher Robert Trappl, leider ohne groß auf seine konkrete Arbeit einzugehen. Soviel steht jedenfalls fest nach der Lektüre: Ein Apokalyptiker ist er nicht. "Heute steht AI auch als Synonym für eine Bedrohung, welche die Menschheit auslöschen könnte. Davor warnt der Physiker Stephen Hawking ebenso wie die Silicon-Valley-Milliardäre Bill Gates und Elon Musk. 'Alles keine AI-Forscher', sagt Trappl, der ausrückt, um die Maschinen zu verteidigen. Trappl ist die Mensch gewordene Gegenthese zu den apokalyptischen Szenarien. Eine Superintelligenz, die - wie vom Philosophen Nick Bostrom postuliert - ein posthumanes Zeitalter einläutet, fürchtet er nicht. 'Ich weiß nicht, wie das gehen sollte. Den Leuten, die das glauben, sage ich immer, sie sollen an den Zoo in Schönbrunn spenden. Damit der gut ausgestattet ist, wenn wir Menschen dort von den Robotern besucht werden.'"

Im Silicon Valley hat AI jetzt eine Kirche. Way of the Future heißt sie, ihr Gott ist eine künstliche Intelligenz und ihr Gründer ist Anthony Levandowski, berichtet auf Zeit online Patrick Beuth, der eine Reportage dazu in Wired gelesen hat. "'Wir reden nicht von einem Gott, der Blitze oder Wirbelstürme auf die Erde schickt. Aber wenn etwas eine Milliarde mal klüger ist als der klügste Mensch, wie soll man es anders nennen?', fragt er den Wired-Journalisten rhetorisch. So ein System werde 'garantiert' entstehen. 'Was wir wollen, ist die friedliche, gelassene Übergabe der Kontrolle über den Planeten vom Menschen an Was-auch-immer. Und wir wollen sicherstellen, dass dieses Was-auch-immer weiß, was es uns Menschen zu verdanken hat.'" (Warum, soll er etwa dankbar sein?)
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Geschichte

Die Russen interessieren sich kaum für die Oktoberrevolution, meint Anna Schor-Tschudnowskaja in der NZZ. "Zwar widmen sich diverse kulturelle Einrichtungen in der Stadt auf je eigene Weise dem Jahrestag der Revolution, und auch die Werbung auf der Straße und in den Massenmedien spielt mit diesem symbolträchtigen Begriff; dennoch ist es ein erstaunlich stilles Jubiläum in einem Land, dessen politisches, soziales und kulturelles Leben über mindestens sieben Jahrzehnte hinweg im Zeichen der Folgen von '1917' stand. ... Die Ereignisse von damals sind jedenfalls für die Mehrheit der Gesellschaft und der politischen Elite kein positiver Bezugspunkt, kein Gründungsakt, kein Mythos mehr - doch auch keine nationale Tragödie."
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Stichwörter: Oktoberrevolution, Russland

Internet

Facebook ist ins Gerede gekommen, weil einige, politisch womöglich missliebige Seiten ohne jede Erklärung viele Follower verloren haben (unsere Resümees). Das gilt etwa für prokurdische Seiten. Laut Facebook ist der mysteriöse Follower-Schwund nun erklärt, berichtet Markus Reuter bei Netzpolitik. Viele Konten seien wegen "Verstößen gegen die Geschäftsbedingungen" gekündigt worden: "Und das ist alles mögliche: Fake-Profile, Profile mit pseudonymen Namen, Spam-Verhalten oder Verstöße gegen die Gemeinschaftsstandards. Laut den Community-Regeln sind nicht nur Nacktbilder oder Hate Speech verboten, sondern auch die Unterstützung von Organisationen, die Facebook als 'Gefährliche Organisationen' definiert. Eine Liste dieser Organisationen veröffentlicht Facebook nicht."
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Kulturpolitik

Das Humboldt-Forum zeichnet sich derzeit durch eine "Mischung aus Lähmung, Intransparenz und Ideenlosigkeit" aus, beklagt in der SZ Jörg Häntzschel. Das wundert ihn nicht, blickt er auf die vielen Institutionen, die beteiligt sind und mitreden sollen, während es keinen Leiter gibt, der auch mal Pflöcke einschlagen kann: "Statt auf diesem Rangierbahnhof der Interessen aufzuräumen, ging man den umgekehrten Weg: Man lud alle zum Mitmachen ein, zwang alle in die Haftung. 'Das System ist darauf angelegt, nicht öffentlich kritisiert zu werden. Alle relevanten Leuten sind schon an Bord. Man ersetzt die öffentliche Debatte durch ein Organisationstableau', so beschreibt es der Jurist Christoph Möllers. ... Grütters, die bei der Berufung MacGregors sagte: 'Das Humboldt-Forum hat sich erfolgreich abgenabelt von der Politik', hat es am besten von allen verstanden, das System für ihre Zwecke zu nützen."
Archiv: Kulturpolitik