Efeu - Die Kulturrundschau

Regulatorische Guillotine

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.02.2023. Der Guardian schwelgt in der White Chapel Gallery in den Farben und Emotionen der abstrakten Expressionistinnen. Der Tagesspiegel will den Streit um das frühere Al-Qaida- und Taliban-Mitglied Mohamedou Ould Slahi Houbeini als Leiter des African Book Festivals ins Programm integriert sehen. Die FAZ wirft einen Blick auf die russischsprachige Literatur in Zeiten des Krieges. Die Musikkritiker trauern um Burt Bacharach, dessen unendlich komplizierte und kühne Songs die FAZ feiert.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.02.2023 finden Sie hier

Kunst

Wook-kyung Choi, Untitled (detail), 1960s. © Wook-kyung Choi Estate and courtesy to Arte Collectum


Adrian Searle geht fast unter in den Farben, der Wut, den Emotionen der abstrakten Expressionistinnen, die die Londoner Whitechapel Gallery in ihrer Ausstellung "Action, Gesture, Paint: Women Artists and Global Abstraction 1940-70" würdigt. Im Mittelpunkt der Ausstellung, schreibt er im Guardian, "steht die Idee der Malerei als Arena, als existenzieller Akt ebenso wie als Objekt. Damit verbunden ist der Glaube an Authentizität und Selbstdarstellung, an die Malerei als Darstellung des Selbst und des Unbewussten". Das geht nicht immer auf, aber neben bekannten Namen wie wie Joan Mitchell, Lee Krasner, Elaine de Kooning und Grace Hartigan gibt es viele Entdeckungen zu machen: "Selbst hier werden einige Geschichten nur bruchstückhaft erzählt oder nur teilweise beleuchtet. Die deutsche Künstlerin Sarah Schumann, die ihre Kindheit in Nazi-Deutschland verbrachte, malte leuchtende Eitempera-Felder, die voller zarter, dicht getönter Berührungen und Variationen sind. Und dann ist da noch Alma Thomas, eine 1891 geborene afroamerikanische Kunstlehrerin, deren 'Etude in Brown' (Saint Cecilia at the Organ) von 1961 ein geheimnisvoller, fast architektonischer, von Licht durchfluteter Raum ist. Es handelt sich um ein großes Gemälde im Kleinformat, das sie an ihrem Küchentisch gemalt hat. Elna Fonnesbech-Sandberg, 1892 in Dänemark geboren, begann erst in ihren 50er Jahren auf Anraten ihres Psychoanalytikers zu malen. Ihre Bilder sind von einem fast beängstigenden Aufruhr erfüllt. Janet Sobel benutzte Glaspipetten, um schäumende Knäuel und Stränge von Emaille auf ihre Leinwände zu tropfen. Diese wurden 1945 von Jackson Pollock gesehen und inspirierten ihn zum Teil zu seiner eigenen Tropfmalerei."

Selfira Tregulowa, Direktorin der Tretjakow-Galerie, des größten Kunstmuseums in Moskau, ist abgesetzt worden - unter anderem, weil ein gewisser Sergei Schadrin eine kopflose Madonna in einer Ausstellung kritisiert hatte, berichtet Stefan Scholl in der FR. Dabei war Tregulowa nicht mal eine Oppositionelle, aber moderne Kunst nahm sie zum Missfallen des Kremls ernst. Ihren Job übernimmt jetzt Jelena Pronitschewa, so Scholl, "Tochter eines FSB-Generals und gelernte Politologin. Zuletzt leitete sie das Polytechnische Museum Moskaus. Und sie gehört zur Arbeitsgruppe 'Kultur' der 'Regulatorischen Guillotine', einer Behörde, die Kontroll- und Erlaubnisfunktionen im Wirtschaftsleben vervollkommnen soll.

Weiteres: In der Berliner Zeitung stellt Hanno Hauenstein das Konzept "Open for Maintenance/Wegen Umbau geöffnet" vor, mit dem die Kuratoren des Deutschen Pavillons in Venedig, das Berliner Architekturmagazin ARCH+ sowie das Architekturbüro Summacumfemmer Juliane Greb, die "Potenziale für eine nachhaltigere und sozial-inklusive Stadtgestaltung aufzeigen" wollen. In der SZ berichtet Alexander Menden über die geplanten Feierlichkeiten zum 150-jährigen Bestehen der Villa Hügel in Essen. Besprochen werden die Ausstellung von Leiko Ikemura im Georg-Kolbe-Museum in Berlin (monopo), Cameron Rowlands Ausstellung "Amt 45 i" im Tower des MMK Frankfurt (FR) und die Vermeer-Ausstellung im Amsterdamer Rijksmuseum (Welt, FAZ).
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Literatur

Das frühere Al-Qaida- und Taliban-Mitglied Mohamedou Ould Slahi Houbeini soll im August das Berliner African Book Festival kuratieren (mehr dazu bereits hier und dort). Gregor Dotzauer hält in seinem Tagesspiegel-Kommentar weder "blinde Schuldzuweisung", noch "leichtfertige Vorwärtsverteidigung" für den richtigen Weg: "Während die Boulevardpresse Dschihadisten mit öffentlichen Geldern gefördert sieht, beharrt Stefanie Hirsbrunner von Interkontinental auf Teenagersünden. In einer Pressemitteilung heißt es: 'Ich kann beruhigen, eine Documenta wird sich hier nicht wiederholen.' Wenn es dem African Book Festival nicht gelingt, den Streit um Slahi Houbeini ins Programm zu integrieren, könnte ihr ebendieses Schicksal blühen."

Kerstin Holm wirft für die FAZ einen Blick auf die russischsprachige Literatur: Während der Prosa angesichts des Krieges die Stimme versagt, "finden viele Lyriker unter dem Druck der Katastrophe zu einem starken expressiven Ton". Unter anderem der Moskauer Dichter German Lukomnikow beeindruckt sie sehr, da er "seit Kriegsbeginn zornig Position bezieht. ... Dass diese Gedichte, die Lukomnikow zum Lyrikstar der Stunde machten, bei Wolga in der Provinz herauskamen, ist nur folgerichtig. Die Zeitschrift hat sich vor Jahren von der russischen Mediengesetzgebung unabhängig gemacht, sie ist nirgends registriert und ein de facto illegales Samisdat-Produkt, allerdings professionell gemacht und hoch angesehen. Noch im Januar hatte Lukomnikow aber auch bei dem Literaturportal Standpunkt (Totschka srenia), das seit Kriegsbeginn international und nur mit Autoren kooperiert, die den Krieg ablehnen, aktuelle Poesie herausgebracht. Es sind gereimte Kurzgedichte, die die eigene Scham, Ohnmacht, implizite Mitschuld sowie die propagandagemäße Bewusstseinsakrobatik angesichts des Krieges in markante Verse fassen." Allerdings regen sich in der Lyrik auch militaristische Töne - wohingegen die Buchbranche selbst die "staatlich geförderte Kriegsverherrlichung gegen das Brudervolk zu widerstreben scheint".

Vor 125 Jahren wurde Bertolt Brecht geboren. Arno Widmann würdigt ihn in der FR. Ronald Pohl bringt im Standard fünf Thesen zur ungebrochenen Relevanz Brechts. Thomas Mauch berichtet in der taz von den Brecht-Tagen in Berlin. Außerdem bespricht die taz ein Buch über Brecht und die Frauen und die Welt ein Buch mit Brecht-Gesprächen aus den Jahren 1926 bis 1956.

Außerdem: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Erhard Schütz arbeitet sich für den Freitag durch die Sachbücher des Monats. Matthias Heine erinnert in der Welt an Brendan Behan, der vor hundert Jahren geboren wurde. Und Michel Houellebecq distanziert sich von dem wohl pornösen Film mit ihm, auf den der Trailer jüngst aufmerksam machte (unser Resümee): Der Schriftsteller fühle sich durch den Voice-Over in seiner Würde verletzt, schreibt Michael Wurmitzer im Standard.

Besprochen werden unter anderem Virginie Despentes' "Liebes Arschloch" (Standard), Otessa Moshfeghs "Lapvona" (FR), P. Craig Russells Comicadaption vom "Ring des Nibelungen" (54books) und Honorée Fanonne Jeffers' "Die Liebeslieder des W.E.B. Du Bois" (Intellectures).
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Film

Zustand schöner Agonie: "Pacifiction"

In der Zeit kommt Georg Seeßlen nochmal auf Albert Serras bereits vergangenen Woche angelaufenen Kolonialismus-Kunstfilm "Pacifiction" zu sprechen (unsere Kritik): Er sieht darin eine "postkoloniale Farce, ein Spiel mit sexuellen und politischen Rollen." Aber "auch eine böse Sprach- und Denkkomödie steckt in 'Pacifiction'. Die Dialoge erinnern oft mehr an ausgefeilte rhetorische Bühnenduelle als an einen Handlungsfilm. Manchmal überlässt sich der Film aber auch einfach der gefährdeten Schönheit oder der Schönheit der Gefährdung, wie man es nimmt, wenn es in die hohen Wellen geht oder im Propellerflugzeug über die Insel. Wir erleben einen tropischen Fiebertraum, einen Zustand der schönen Agonie. ... Noch mehr als das Ende des Kolonialismus (und den Beginn neuen geopolitisch-militärischen Wahns) erkennt man das Ende der europäischen Aufklärung. Im letzten Bild ist der Pazifik blutrot und die Nacht über der Insel endlos."

Außerdem: Marcus Stiglegger schreibt in epdFilm über die Filme von Park Chan-wook. Bei den Solothurner Filmtagen wurde auch über den Umgang mit historischem Archivmaterial diskutiert, berichtet Irene Genhart im Filmdienst. Sofia Glasl führt im Filmdienst durch die weite Welt der Körpertausch-Komödie. Und in einem Essay für epdFilm gesteht Georg Seeßlen seine Liebe zum schnittig-schnellen Actionfilm ohne ein Gramm Fett.

Besprochen werden Sarah Polleys "Die Aussprache" (ZeitOnline, SZ, mehr dazu hier), Florian Zellers "The Son" (NZZ) und die Serie "Funny Woman" (taz).
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Bühne

Peter von Becker schreibt im Tagesspiegel zum 80. Geburtstag des Theatermachers Frank-Patrick Steckel. Robert Matthies unterhält sich für die taz mit Festivalleiterin Stephanie Wedekind über die 38. Göttinger Figurentheatertage.

Besprochen werden die Uraufführung von Ivana Sokolas "Pirsch" am Deutschen Theater in Göttingen (taz), die Performance "Oder doch?" der Berliner Kompanie Raum 305 beim Figurentheater-Festival "Imaginale" in Stuttgart (nachtkritik) und Dragana Buluts Performance  "Beyond Love" im Hebbel am Ufer (Tsp).
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Musik

Vor knapp fünf Jahren feierten die Feuilletons den Songwriter und Pianisten Burt Bacharach für seinen Auftritt im Berliner Admiralspalast - nun ist er gestorben. Wer ihn als "Easy Listening" abtut, urteilt vorschnell, findet Claudius Seidl in der FAZ: Wer genau hinhört, merke rasch, "wie unendlich kompliziert und kühn es gewesen sein muss, diese Musik zu komponieren. ... Dass diese Songs harmlos seien, war ja immer ein Missverständnis; ihre Komplexität erschloss sich schon in den leichten, von Bacharach selber arrangierten Interpretationen von Dionne Warwick. Und als Aretha Franklin 'Say a Little Prayer' sang, eine Komposition, die Bacharach selbst bis dahin für misslungen gehalten hatte: Da staunte auch der Komponist darüber, welcher Groove und wie viel Soul in seiner Komposition steckte. Und wenn Isaac Hayes, mit einer gewaltigen Band im Hintergrund und seiner noch gewaltigeren schwarzen Stimme 'Walk on By' sang, wurde aus dem kleinen, feinen Song eine Protesthymne von universaler Wut und Wucht."



"Niemand weiß genau, was jene 'Burtness' ausmacht, von der Burtologen schwärmen", schreibt Michael Pilz in der Welt. "Es könnten die unüblichen Tonsprünge, die ungeraden Takte oder auch die irritierenden Arrangements sein, die man immer mithört, wenn man eine seiner Melodien unter der Dusche pfeifen will. Die Flügelhörner und das Glockenspiel, die Harfe und das Vibraphon. Spielend erfüllt Burt Bacharachs Musik das Brechtsche Ideal des Einfachen, das schwer zu machen ist." Dazu passt, was Claus Lochbihler in der NZZ schreibt: "Bacharachs Songs waren nicht plötzliche Geschenke der Inspiration, sondern Resultat anstrengender, von Schlaflosigkeit begleiteter Arbeit. Schnellen Ideen misstraute er." Weitere Nachrufe im Tagesspiegel und in der SZ. Der BBC erklärt Bacharach 1964, wie man Hits komponiert:



Standard-Kritiker Karl Fluch macht es sich im neuen Album "This Stupid World" von Yo La Tengo gemütlich: Das Indie-Urgestein hat eine "überwiegend rockige Platte" mit wieder einmal zahlreichen geschmackssicheren Einflüssen vorgelegt. "Zugleich swingt sie und besitzt eine Zärtlichkeit, aus der man eine Form der Altersmilde herauslesen könnte. Andererseits hat Ira Kaplan immer schon gesungen, wie Impressionisten malen. Mit seiner eher dünnen Stimme ist er kein wütender Agitator, kein brachialer Chronist, wenn er laut wird, dann mit seiner Gitarre. ... Das entspannt sedierte 'Aselestine' ist ein Stück folkiger Pop, andernorts fettet man derlei simple, dabei stets eingängige Lieder mit spartanischen Keyboards auf. 'Stay alive', singt Kaplan irgendwann im Lied 'Until It Happens', doch es klingt nicht verzweifelt, nicht nach einem, der das Ende nahen sieht, sondern eher als jemand, der sich mit der Absurdität des Lebens abgefunden hat." Die taz hat mit Ira Kaplan ausführlich über die Studioarbeit am Album gesprochen: Die Band hat erstmals ein Album komplett auf eigene Faust aufgenommen.



Weitere Artikel: Christian Wildhagen spricht für die NZZ mit Paavo Järvi und Gianandrea Noseda über deren Rachmaninow-Projekt. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Dorothea Winter über Harry Styles' "As it Was". Und Oliver Rasche freut sich in der Welt über einen neuen Song von Depeche Mode.



Besprochen werden ein Konzert des hr-Sinfonieorchesters (FR) ein Berliner Auftritt von Ivo Pogorelich (Tsp).
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