Efeu - Die Kulturrundschau

Kraft, Kraft und Kraft

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.10.2022. Zum Abschluss der "Ring"-Inszenierung an der Berliner Staatsoper lassen sich die Kritiker von Christian Thielemann in paradiesische Höhen leiten. Die SZ pocht darauf, dass gutes Stadttheater anders funktionieren muss als ein Rechtsrock-Konzert. Welt und FAZ würden gern mit Annie Ernaux über ihre Kritik am Staats Israel diskutieren, ihr Werk und den Nobelpreis sehen sie aber nicht beeinträchtigt. Für die NZZ geht die Geschichtsklitterung in Gina Prince-Bythewoods Historienspektakel "The Woman King" in Ordnung.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.10.2022 finden Sie hier

Bühne

Die "Götterdämmerung" an der Berliner Staatsoper. Foto: Monika Rittershaus

Mit der "Götterdämmerung" schließen Dmitri Tcherniakov und Christian Thielemann an der Berliner Staatsoper Wagners "Ring" ab. Und wie gehabt, findet SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck die Bildmacht der Partitur weniger von Tcherniakovs Inszenierung als von Thielemanns Musik eingelöst: "Der Klang ist hell, leicht, elegant. An den ersten beiden Abenden ist Thielemann, er hat den 'Ring' erst kurz vor der Premiere von dem erkrankten Daniel Barenboim übernommen, zauberhaft leise sängerfreundlich. In 'Siegfried' und 'Götterdämmerung' zeigt er dann Pranke. So wie Thielemann kann keiner die manchmal zu lebenslanger Abhängigkeit führende Drogenwirkung von Wagners Musik entfesseln. Thielemanns Wagner ist eine Musik der künstlichen Paradiese, die die Allmacht- und Göttlichkeitsträume des Laborpersonals als weltfremde Wunschidyllen ausmalt. Während Tcherniakov im Einklang mit dem Libretto die Mediokrität dieses Machtkampfs um die Weltherrschaft zeigt. Einen unbedarfteren Siegfried als Andreas Schager gab es nie. Der Mann ist Kraft, Kraft und Kraft. Kein Orchester ist laut genug, um ihn zu übertönen, die Gewalt dieser Stimme ist ein Naturereignis." Im Tagesspiegel widerspricht Udo Badelt nach der Götterdämmerung" sanft: "Zum dunklen Kraftzentrum des Abends aber avanciert Hagen. Mika Kares ist wahnsinnig gut, seine bullige Darth-Vader-Silhouette emaniert ununterbrochen eine Aura schwarzböser Autorität, die durch seine erdige Bassstimme noch den rechten Schimmer erhält."

In der FAZ verteidigt Clemens Haustein auch die Regie gegen die Buhstürme des Publikums: "Tcherniakov hat eine Regieidee geliefert, die alle vier Teile des 'Rings' trägt: jene eines Menschenexperimentes, das von einem zynischen, später bereuenden Wotan in Gang gesetzt wurde. Eine Idee, die auch deshalb so stark ist, weil sie dem Manipulativen Rechnung trägt, das dieses Großwerk Richard Wagners als Motiv durchzieht." In der Berliner Zeitung kann Peter Uehling Tcherniakovs "radikale Pathosdiät" gut verkraften. In der Welt erklärt Peter Huth in einem A bis Z, warum man von diesem "Ring" noch "lange, richtig lange" sprechen wird.

In der SZ interveniert Peter Laudenbach noch einmal gegen das selbstbezügliche Theater, das bei sinkenden Besucherzahlen nur noch das eigene Milieu bedient und sich mit den Diskursen der Cultural Studies gegen die Allgemeinheit abschottet. Theater, die nichts ans Publikum denken, missbrauchen ihr Privileg, schimpft Laudenbach: "Dagegen wirkt die schönste Definition eines guten Stadttheaters geradezu utopisch: Stadttheater ist Theater für eine Stadt, wenn möglich für die ganze Stadt. Und nicht nur, wie ganz früher, für das gehobene Bürgertum und die, die dazugehören wollten, ebenso nicht nur für die Gesinnungsgenossen der Künstler. Das unterscheidet Theater von Rechtsrock-Konzerten oder einer Fatwa gegen Ungläubige: Gutes Theater erlaubt mehr als eine Wahrheit. So entsteht Austausch, so entsteht Gesellschaft. Genau die werden wir weiß Gott noch brauchen."

Besprochen werden Oliver Frljić' Inszenierung von Brechts Klassiker "Mutter Courage" am Berliner Gorki-Theater ("Ein papierner Brecht, von dem die triviale Aussage bleibt, dass Krieg Menschen unmoralisch werden lässt, dekoriert mit den Leichen der Gegenwart", ärgert sich Ulrich Seidler in der BlZ, "das ist wohlfeiler Theaterpazifismus, der sich gedankenfaul auf die sichere Seite bringt und die Menschen in der Ukraine argumentativ alleinlässt", Nachtkritik), Leos Janaceks "Jenufa" an der Wiener Staatsoper (und mit einer brillanten Asmik Girgorian, wie Stefan Ender inm Standard findet), Thom Luz' "Warten auf Platonow" im Cuvilliéstheater (SZ) und die Country-Oper "Burt Turrido" vom Nature Theatre of Oklahoma im Bockenheimer Depot in Frankfurt (FR).
Archiv: Bühne

Literatur

In seinem wie stets etwas struppig zu lesenden Essay für die Welt verortet Magnus Klaue Annie Ernaux' Engagement für BDS-Anliegen vor dem Hintergrund der französischen Linken, sieht aber keinen Niederschlag im literarischen Werk. Das habe durchaus Methode, es hängt mit ihrem spezifischen Stil zusammen, gerade weil es "der Versuch ist, anhand reflektierend auf Distanz gerückter Erfahrung jenen links-subjektivistischen Identitätskult zu kritisieren und ihm einen anderen, auf Objektivierung subjektiver Erfahrung zielenden Begriff von Wahrheit entgegenzusetzen, fällt auf, dass die Allianz von antiwestlichem und antiisraelischem Ressentiment, die in ihrer BDS-Sympathie zum Ausdruck kommt, in ihrem literarischen Werk ausgespart und der Reflexion verschlossen bleibt: Das hat den Vorteil dersprachlichen Trennung zwischen Ideologie und Werk, aber auch den Nachteil, dass die als Psychohistorie betriebene Selbstanalyse genau dort Halt macht, wo es nötig wäre, weiterzugehen, nachzufragen und das eigentliche Dogma zu verletzen."

Ernaux ist keine Antisemitin, wer anderes behauptet, rede "Unsinn", unterstreicht die Frankreich-Korrespondentin Martina Meister in der Welt. Aber: Ernaux kommt "aus einer französischen Linken, mit der sie aus Überzeugung, aus Klassenbewusstsein, womöglich aber aus sozialen Schuldgefühlen nie hart ins Gericht gegangen ist, geschweige denn ihr abgeschworen hätte. Doch die soziale Utopie französischer Linksaktivisten steht inzwischen für eine schwammige, überaus hässliche Allianz mit islamischen Fundamentalisten, die unter dem Vorwand des Kampfes gegen antimuslimischen Rassismus dem französischen Prinzip des Universalismus abgeschworen und die Republik, vor allem aber den Staat Israel zum Sündenbock erklärt hat."

Eine Handke-Kontroverse wie 2019 sieht Andreas Platthaus von der FAZ nicht heraufdämmern, auch nicht vor dem Hintergrund der gerade zu Ende gegangenen Documenta: Handkes Parteinahme für die Serben war Teil des ausgezeichneten Werks, auf der documenta waren antisemitiische Werke zu sehen - bei Ernaux gehe es allerdings um ihre persönliche Meinung abseits des Werks. "Es gibt keinen Grund, die Israelkritik von Annie Ernaux zu beschönigen: Über sie sollte man mit ihr streiten. Es gibt aber auch keinen Grund, ihr literarisches Schaffen dadurch diskreditiert zu sehen: Darüber sollte Einigkeit bestehen." Michael Wurmitzer blickt für den Standard von Österreich aus auf die ohnehin nur zaghaft geführte deutsche Debatte und sieht kein Problem: alles ganz normal links. "Ernaux' Kritik an Israel ist eine Kritik am Staat Israel als politischem Akteur. Sie gleicht damit der Kritik, die die Autorin entsprechend ihrer Sozialisierung und ihrer Parteinahme für Benachteiligte und Unterdrückte auch an anderen politischen Akteuren übt."

Außerdem: Die NZZ setzt Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw fort. In der FAZ porträtiert Felix Ackermann den belarussischen Literaturwissenschaftler Ales Bjaljazki, der als Menschenrechtsaktivist mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Außerdem gibt die NZZ Lesetipps für den Herbst. Ebensolche geben auch wir in unserem aktuellen Bücherbrief.

Besprochen werden unter anderem Kristine Bilkaus "Nebenan" (FR), Jan Faktors "Trottel" (SZ), Anita Albus' "Affentheater" (online nachgereicht von der FAZ), Jan Wagners Neuübersetzung von Dylan Thomas' "Unterm Milchwald" (SZ), Nassir Djafaris "Mahtab" (taz), Péter Nádas' "Schauergeschichten" (NZZ), Adrian Igoni Barretts "Blackass" (Dlf Kultur) und Anthony Burgess' "Der Feind in der Decke" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Gina Prince-Bythewoods Action-Historienspektakel "The Woman King" zeigt wehrhafte schwarze Amazonen, die weißen Kolonialisten auf blutige Weise Mores lehren (unser Resümee). Ganz so einfach geht die Kalkulation allerdings nicht auf, fällt Andreas Scheiner von der NZZ auf: "Noch ehe sie den Film gesehen hat, ist eine Autorin der New York Times gespannt zu erfahren, wie darin die Agojie 'verherrlicht' würden. Denn Dahomey habe 'seinen Reichtum aus der Gefangennahme von Afrikanern für den transatlantischen Sklavenhandel' gewonnen. Der ähnlich progressive New Yorker spricht von einer 'zynischen Geschichtsverfälschung', andere blasen ins gleiche Horn. Die Kritik ist überzogen. Ja, im Königreich handlangerte man für die Europäer. Das verheimlicht der Film aber gar nicht. Er fantasiert nur, der König von Dahomey hätte sich irgendwann gegen den Sklavenhandel entschieden und die Wirtschaft vom Menschenhandel auf Palmöl umgestellt. Ist das schlimm, ist ein bisschen Wunschdenken nicht der Preis des publikumswirksamen Erzählens?"

Besprochen werden Ruben Östlunds in Cannes ausgezeichnete Reichen-Satire "Triangle of Sadness" (FAZ, die Zeit hat ihr Gespräch mit dem Regisseur online nachgereicht), Aelrun Goettes "In einem Land, das es nicht mehr gibt" (ZeitOnline), die Boris-Johnson-Satire "This England" mit Kenneth Branagh in der Hauptrolle (TA), Patricio Guzmáns Dokumentarfilm "Mi Pais Imaginario" über Chile, der in Deutschland allerdings noch keinen Starttermin hat (NZZ), und der ARD-Film "Martha Liebermann - Ein gestohlenes Leben" (FAZ).
Archiv: Film

Kunst

Im Zeitblog "10 nach 8" beschreibt eine Afghanin die Situation von Studentinnen der Bildhauerei in Afghanistan: "Das Fach wurde 1966 von Meister Amanullah Haidarzad begründet, einem der großen Bildhauer dieses Landes, der sein Meisterdiplom aus Italien mitgebracht hatte und nach seiner Rückkehr Kurse in Bildhauerei und Malerei einführte." Die Taliban cancelten den Kurs, doch die Studentinnen saßen dennoch wartend auf den Fluren ihres Instituts. "Als Bildhauerinnen setzen sie sich einem hohen Risiko aus. Innerhalb der afghanischen Gesellschaft wurden Künste wie Malerei und Bildhauerei auch vor den Taliban stets an den Rand gedrängt und als minderwertig angesehen. In der ganzen Gesellschaft, aber besonders bei den Taliban, gilt das Abbilden von Lebewesen als Vergehen. Mit Verweis auf den Islam werden diese Künste in Verruf gebracht und ihre Weiterentwicklung verhindert, obgleich es im Koran keinen Anhaltspunkt für ein religiöses Verbot von Malerei und Bildhauerei gibt. Die Taliban verbieten diese Künste, weil sie der Meinung sind, dass sie Muslime zu Polytheismus und Götzenanbetung verleiten - wie in der Zeit vor dem Islam, als die Menschen Statuen von Göttern anfertigten, um sie dann anzubeten."

Wieteres: In der taz versteht Ingo Arend die Biennale Istanbul als Gradmesser des politischen Klimas: "Die türkische Kunstszene laviert derzeit in einem Patt zwischen Repression und Selbstbehauptung. Auf der einen Seite lauert Erdoğan, auf der anderen sichern die großen Industriellenfamilien wie Koç oder Sabancı mit ihren Privatmuseen der Kunst Räume." Besprochen werden die Ausstellung "YOYI. Care, Repair, Heal" im Berliner Gropiusbau (FAZ) und Stanley Greenbergs Fotoband mit Bäumen, die vor 150 Jahren in amerikanischen Parks gepflanzt wurden (Monopol).
Archiv: Kunst

Design

Der Großteil der Recycling- und Öko-Versprechen, mit denen Sneaker-Hersteller für sich werben, entpuppen sich bei Lichte betrachtet zwar als lediglich dem Marketing dienlicher Mumpitz, schreibt Tillmann Prüfer in seiner Stilkolumne im ZeitMagazin. "Trotzdem ist umweltschonende Mode kein Blödsinn. Denn jede neue Materialidee trägt dazu bei, dass künftig im großen Rahmen umweltschonender produziert werden kann. ... Aus der Schweiz kommt nun eine interessante Idee. Die Sportmarke On hat einen Schuh entwickelt, der mithilfe von CO₂-Emissionen gefertigt wird. Das neue Modell Cloudprime wird aus sogenanntem CleanCloud-EVA-Schaumstoff hergestellt, der Kohlendioxid-Emissionen als Rohstoff benutzt. Der verwendete Schaumstoff nimmt bei der Herstellung Kohlendioxid aus der Umgebung auf, anstatt ihn zu emittieren, wie das andere Schaumstoffe tun. Man tritt also gewissermaßen die Umweltsünden des fossilen Zeitalters mit Füßen."
Archiv: Design
Stichwörter: Mode, Sneaker, Co2-Emissionen

Musik

Das Festspielhaus Baden-Baden und die Dortmunder Philharmonie verkaufen keine Tickets mehr für angekündigte Auftritte von Teodor Currentzis' MusicAeterna-Orchester, hat Axel Brüggemann von Crescendo bemerkt. Reine Vorsichtsmaßnahme, wiegelten die Häuser auf Anfrage ab: Es gebe wohl derzeit noch Probleme bei der Anreise des Orchesters. Zumindest der Abend in Dortmund ist mittlerweile tatsächlich abgesagt. "Es wird deutlich, dass das Geschäft mit Teodor Currentzis und seinem Orchester problematisch ist, dass westliche Veranstalter sich in eine Abhängigkeit begeben haben, in der das eigene Publikum am Ende weniger wichtig scheint als die Loyalität zum System Teodor Currentzis. Alte Grundfeste wackeln, weiter unten werden wir uns noch damit beschäftigen, wie westliche Medien (vom ORF bis zum SWR) bereit sind, im Angesicht von Teodor Currentzis demokratisch-journalistische Gepflogenheiten aufzugeben." Heute Abend dirigiert Currentzis fürs Erste in Berlin sein neues Orchester Utopia. Dem Veranstalter ist dies ein ausführliche Vorab-Statement wert, dass Utopia - anders als MusicAeterna - nicht aus russischen Geldern finanziert wird, berichtet Christiane Peitz im Tagesspiegel: "Utopia wird von privaten europäischen Sponsoren unterstützt, vor allem durch die Kunst-und-Kultur-DM-Privatstiftung von Red-Bull-Chef Dietrich Mateschitz, der als Rechtspopulist gilt."

Außerdem: Das Duo Right Said Fred moniert, dass Beyoncé auf ihrem neuen Album ohne Absprache deren Musik gesamplet habe, meldet Alexander Menden in der SZ. Besprochen werden Igor Levits neues Doppelalbum (Welt-Kritiker Manuel Brug erlebt eine "asketisch ruhige Erkundung teilweise komplex unterkühlter, dabei brodelnder Leidenschaften"), die Memoiren des Pulp-Musikers Jarvis Cocker (FAZ), ein Auftritt von Mark Fell (taz) und ein Konzert der Pianistin Mitsuko Uchida mit den Bamberger Symphonikern (FR).
Archiv: Musik