Efeu - Die Kulturrundschau

Legt eine Mine unter das Alter

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10.05.2022. In einem Offenen Brief in der Berliner Zeitung antwortet das Kuratorenkollektiv der Documenta auf die Vorwürfe des Jüdischen Zentralrats. SZ und Nachtkritik halten am Münchner Residenztheater Knut Hamsuns "Kareno" gut aus, der seine antidemokratische Redlichkeit aufgibt. In der taz schildert Guillermo Arriaga den Zwiespalt, in dem Mexikos Indigene oft stecken. Die NZZ porträtiert den Pariser Plumassier Eric Donatien, der die vollkommene Metamorphose der Feder beherrscht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.05.2022 finden Sie hier

Kunst

In der vorigen Woche hat das Kuratorenkollektiv der Documenta 15, Ruangrupa, eine Gesprächsreihe abgesagt, in der die Vorwürfe der BDS-Nähe und des Antisemitismus behandelt werden sollten (unser Resümee). In einem Offenen Brief nimmt das Kuratorenteam Ruangrupa Stellung, vor allem auch zu der Beschwerde des Jüdischen Zentralrats, nicht eingeladen und nicht gehört worden zu sein: "Offizielle Repräsentant*innen von Glaubensgemeinschaften, Parteien und Verbänden wurden jedoch bewusst nicht eingeladen. Eine solche Repräsentation ist auch nicht die Aufgabe einer Kunstinstitution." Es sei jedoch darauf geachtet worden, "unterschiedliche Perspektiven einzuladen - darunter auch solche, die der offiziellen Position des Zentralrats im Kern entsprechen und teilweise im Zentralrat auch institutionell eingebunden sind ... Wer diese politische Debatte vorab ausschlägt, verlässt das Gespräch, bevor es begonnen hat. Wer aber dieses Gespräch gar nicht zulassen will, sondern bestimmen möchte, wer und was in diesem Widerstreit als diskutabel gilt, sollte dies auch öffentlich kund tun, anstatt Kritik an organisatorischen und kuratorischen Details der geplanten Panels vorzuschieben."

In der FAZ freut sich Ursula Scheer, dass die fantastische Paula-Rego-Retrospektive nach ihren Stationen in London und Den Haag nun in Malaga ganz ohne Corona-bedingte Restriktionen zu sehen ist (unsere Resümees hier und hier), betont aber: "Ihre Schaffenskraft scheint unerschöpflich - eine Retrospektive allein wird ihr nicht gerecht."
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Bühne

Max Meyer im "Spiel des Lebens". Foto: Sandra Then / residenztheater

Ziemlich gefordert wurden die Kritiker in Stephan Kimmigs Inszenierung von Knut Hamsuns "Kareno-Trilogie" am Residenztheater München, zu deren Beginn der Philosoph Ivar Kareno seufzt: "Legt eine Mine unter das Alter, säubert den Sitz und nehmt seinen Platz ein." In der Nachtkritik sieht Thomas Rothschild hier genau die Fragen der Zeit aufgeworfen: "Was Kareno gleich zu Beginn an Vernichtungsphantasien von sich gibt, würde jedem Faschisten der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts gut zu Gesicht stehen. Zunehmend aber wird die Trilogie zu einem 'Besserungsstück', in dem Kareno seine Überzeugungen revidiert. Wie passt das zu Hamsuns Biographie? Ist Karenos Wandlung als vorbildlich oder als Verrat zu bewerten, wie die vorausgegangene Anpassung seines Kollegen Carsten Jerven? Handelt es sich um eine Läuterung oder um einen Sieg des Opportunismus über die antidemokratische Redlichkeit? Eignet sich einer als 'Held', der zu richtigen Einsichten erst gelangt, wenn er selbst Opfer seiner Verfehlungen wird?" In der SZ lobt Egbert Tholl "eine überlegen souveräne Leistung besten Schauspieltheaters".

Weiteres: Katrin Bettina Müller berichtet in der taz vom Auftakt des Berliner Theatertreffens (für dessen Vorstellungen es immer noch Karten zu kaufen gibt, #Publikumsschwund). Besprochen wird Lilja Rupprechts Inszenierung von Hermann Hesses "Steppenwolf" am Deutschen Theater Berlin in einer Bearbeitung von Thomas Melles (FAZ).
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Literatur

Die taz unterhält sich mit dem mexikanischen Schriftsteller Guillermo Arriaga, der in seinem neuen Roman "Das Feuer retten" schwere Konflikten in der indigenen Bevölkerung Mexikos beschreibt und so "die Widersprüche des Landes und seiner Bewohner aufzeigen will. Und nicht schwarz-weiß malen. Nach außen ist dieser Typ namens Huiztlic stolz auf seine Herkunft und seine Geschichte", doch zuhause "ist er ein Schläger, der seine Söhne und seine Frau misshandelt. Diese Zwiespältigkeit spiegelt auf ironische Weise Mexiko. Die Ironie besteht darin, dass Huiztlic eine weiße Frau heiratet, aber darauf hofft, dass seine Kinder Indigene werden. Er kann es nicht ertragen, dass einer der Söhne weiß ist."

"Die Literatur soll das Hohelied der Ökologie singen", beobachtet NZZ-Kritiker Paul Jandl mit einer gewissen Skepsis. Doch "Literatur ist eben nicht aus Schwärmerei gemacht". Belegstellen findet Jandl bei Mayröcker, Stifter, Bernhard und Thoreau. In der jüngeren deutschen Literatur stößt er auf Verena Güntners "fulminanten" Roman "Power", der von sich zusehends auswildernden Kindern handelt. Das "liefert große Metaphern und ironisiert sie zugleich in alle Richtungen. Weder wirft sich 'Power' dem Rätsel der Natur naiv in die Arme, noch ist dieses Buch auf Antworten hin gebürstet, die sich der Ecocriticism wünschen würde. Noch im kleinsten deutschen Vorstadtwäldchen ist Platz für die große Dialektik aus Leben und Tod." So "ist fast eine Parodie auf besonders forcierte Formen des Nature-Writing" zu entdecken.

Außerdem: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort.

Besprochen werden unter anderem Lara Swionteks Comicadaption von Mary Shelleys Novelle "Verwandlung" (taz), Judith Kuckarts "Café der Unsichtbaren" (SZ), Anneli Furmarks Comic "Bring mich noch zur Ecke" (Tsp), der Band "Rasende Mitläufer" mit Porträts und Essays des Kritikers Christian Schultz-Gerstein (SZ) und Katharina Adlers "Iglhaut" (FAZ).
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Design




Sarah Pines porträtiert für die NZZ Eric Donatien, einen der letzten Pariser Plumassiers, also Federschmuck-Meister. Für sein Material werden keine Tiere eigenes getötet, versichert er. Und erzählt zu seinem Werdegang: "Mir waren Materialien, das Zusammenspiel von Material, Form und Farbe immer wichtiger als die Form allein', sagt er. 'Ich hatte nicht genug Talent für das Zeichnen, für die richtige Linie. Mein Ziel war, etwas zu erschaffen, das die klare Form durchbricht, aufweicht, sie umspielt.' Also Federn, die nicht mehr oder nicht mehr nur nach Federn aussehen? Ja, sagt Donatien: 'Die vollkommene Metamorphose.'"
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Film

Der Zauber analoger Kinotechnik: "Das Licht, aus dem die Träume sind" (Neue Visionen)

Geradezu neidisch blickt Welt-Kritiker Hanns-Georg Rodek auf die Protagonisten in Pan Nalins "Das Licht, aus dem die Träume sind": Indische Dorfbewohner, die erstmals der Magie des Kinos und der bewegten Bilder erliegen. In all dem naiven Staunen über die gute alte Kinotechnik, die Nalin in Szene setzt, erfindet der Filmemacher "das Kino praktisch ein zweites Mal. ... Es ist, im allerursprünglichsten Sinne, die Hingabe an ein Zaubermedium, erzählt mit einer unschuldigen Naivität." Anders als geplant, musste der Farbrausch des Films zwar mit digitalen Mitteln erstellt werden, aber, verrät der Regisseur dem Kritiker, "wir haben alte italienische Technicolor- und alte russische Lomo-Linsen auf unsere modere Arriflex-Kamera gesetzt". Selbst gestandene Kameramänner glaubten nach der Premiere, einen auf Analogmaterial gedrehten Film vor sich zu haben, erzählt Nalin nicht ohne Stolz.

Außerdem: Im Tagesspiegel gratuliert Andreas Busche dem Filmemacher Hartmut Bitomsky zum 80. Geburtstag. Besprochen wird Mike Meyers Netflix-Serie "The Pentaverate" (Welt).
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Musik

Ist ja schön und mutig, dass U2 in Kiew ein kleines Konzert gegeben haben, findet Artur Weigandt in der Welt. Allerdings muss er nach vielen Telefonaten mit Freunden und Bekannten in der Ukraine auch feststellen: "Keiner hört sie. Keiner kennt sie. ... Es ist nämlich so: Die Ukraine orientiert sich westlich. Die Musik bleibt aber osteuropäisch-ukrainisch. Sie ist Teil der ukrainischen Identität. Englisch spielte kaum eine Rolle. U2 nicht. Bon Jovi auch nicht. Man kennt sie im Osten nicht."

Weitere Artikel: Tobi Müller porträtiert für die Zeit den Bluesmusiker Michael Fehr. Die Chancen stehen gut, dass das ukrainische Kalush Orchestra beim Eurovision Song Contest gewinnt, schreibt Elmar Kraushaar in der Berliner Zeitung. Die Berliner Zeitung plaudert mit dem Klassik-Newcomer-Star Sofiane Pamart. In der FAZ gratuliert Timo Frasch Roland Kaiser zum 70. Geburtstag. Der Guardian meldet, dass Nick Caves ältester Sohn Jethro Lazenby im Alter von 31 Jahren gestorben ist - 2015 war bereits sein Sohn Arthur Cave gestorben.

Besprochen werden das erste reine Soloalbum des Jazzgitarristen John Scofield (NZZ), das neue Album von Arcade Fire (Tsp), ein Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin mit Krása, Mozart und Mahler ("eine Sternstunde", jubelt Sybill Mahlke im Tsp), die Wiederveröffentlichung von Karates Album "The Bed Is In The Ocean" aus dem Jahr 1998 (Jungle World) und die Wiederveröffentlichung des unter Sammlern lange gesuchten, einzigen Albums der Gospelband The Staples Jr. Singers ("tatsächlich eine sehr solide Platte mit einigen Höhepunkten", findet auch Fabian Wolff auf ZeitOnline).

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