Efeu - Die Kulturrundschau
Ich bin die Poesie
Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Literatur
Bernard-Henri Lévy berichtet in der SZ von seinem Besuch in Odessa, wo er vom Strand aus die russischen Schiffe beobachten kann, die auf Befehle aus Moskau warten. Die Straßen sind leer, überall sind Barrikaden. "Bemannt werden die von Freiwilligen, oft sehr jungen Leuten, die zum ersten Mal im Leben eine Waffe in der Hand halten. Sie strahlen gleichermaßen Entschlossenheit und auch Furcht aus. Und eine nervöse Skepsis, als sie einen ausländischen Schriftsteller ohne Presseausweis vor sich in der Kontrolle haben: 'Es wimmelt hier von Doppelagenten', entschuldigt sich Wolodimir, ein ehemaliger Barkeeper. ... Zur großen Überraschung des Kremls, wo kein Zweifel daran bestand, dass das russischsprachige Odessa der Höhepunkt des imperialen Traums sein würde, hat der Krieg diese Stadt zusammengeschweißt wie nie zuvor. Aber es gibt immer noch welche, die Putin wollen. Sie arbeiten mit untergetauchten Agenten, die sich unter die Bevölkerung gemischt haben und auf ihr Signal warten. Die Einheit von Wolodimir hat heute Morgen zwei von ihnen festgenommen, drei wurden vorige Woche im Bahnhofsviertel nach stundenlangen Straßenkämpfen getötet. 'Nehmen Sie sich in Acht', sagt er: 'Das sind Mörder. Sie sind überall und nirgends.'"Für den Freitag unterhält sich Erika Thomalla mit der im englischen Sprachraum gefürchteten Literaturkritikerin Lauren Oyler, die gerade ihren Debütroman "Fake Accounts" veröffentlicht hat und in ihrer Tätigkeit als Rezensentin vor keinem Verriss zurückscheut, selbst wenn er vom Zeitgeist zum Konsens erklärte Autorinnen wie Sally Rooney, Roxane Gay und Jia Tolentino trifft, die sie in ihrem Bemühen um klare Antworten auf komplizierte Sachlagen schrecklich didaktisch findet. Dabei sollte Literatur "ein möglichst genaues und vielschichtiges Bild der Welt vermitteln". Die Popularität solcher Literatur begann für sie um 2000 mit Onlinemagazinen, "die den Standpunkt vertraten: Wir glauben nicht an negative Literaturkritiken. Diese Magazine waren durchaus interessant, aber ich glaube, das waren die Anfänge dieser geradlinigen, vom Guten besessenen Kultur, die auch eine Reaktion auf die Ironie der 1990er-Jahre war. Und dann, glaube ich, verlangten die politischen Entwicklungen in den USA in den letzten Jahren von bestimmten Leuten, dass sie Statements abgaben." Heute "fühlt es sich bei manchen Autoren so an, als würden sie Wahlkampf betreiben".
Außerdem: Für die FAZ flaniert Hubert Spiegel mit Orhan Pamuk durch das Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart. Hannes Stein spricht in der Welt mit Francis Spufford über dessen neuen Roman "Ewiges Licht", in dem der frühere Sachbuchautor sich ausmalt, was aus fünf Londoner Kindern hätte werden können, wenn sie nicht bei einem Angriff mit der V2 ums Leben gekommen wären. Kalkuttta, Indiens heimliche Hauptstadt der Lyrik, erwacht zu neuem Leben, berichtet Martin Kämpchen in der FAZ. Ulrich Rüdenauer erinnert in der FR an den Dichter Georg Heym.
Besprochen werden unter anderem Léonie Bischoffs Comicbiografie über Anaïs Nin (Tsp), Hermann Bausingers "Vom Erzählen" (online nachgereicht von der FAZ), Vitali Konstantinovs Comic "Alles Geld der Welt" (SZ) und zwei Bände mit den Tagebüchern von Rudolf Carnap (FAZ).
Kunst

Weiteres: Susanne Memarnia unterhält sich für die taz mit dem Künstler Kang Sunkoo über dessen Installation "Statue of Limitations", die im Afrikanischen Viertel in Berlin an den deutschen Kolonialismus erinnern soll. Besprochen werden zwei Ausstellungen zur Minimal Art: im Bucerius Kunst Forum in Hamburg und im Augusteum in Oldenburg (taz).
Musik
Weitere Artikel: Im VAN-Magazin erzählt die russische Cembalistin und Musiklehrerin Elizaveta Miller von ihrer Flucht aus Moskau, wo sie als Oppositionelle nicht mehr länger bleiben konnte. Dass Teodor Currentzis' Ensemble Music Aeterna in St. Petersburg situiert ist und von der (von Sanktionen betroffenen) VTB-Bank unterstützt wird, stellt die Veranstalter zusehends vor Probleme, berichtet Ljubiša Tošic im Standard. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker hier über Johanna Beyer und dort über Marion Bauer. In der FAZ resümiert Wolfgang Sandner John Zorns Konzertreihe in der Elbphilharmonie. Katja Kollmann schreibt in der taz über die russische Singer-Songwriterin Semfira, die ihr Stück "Не Стреляйте" ("Nicht schießen") wiederveröffentlicht und damit der russischen Antikriegsbewegung eine Hymne gegeben hat.
Besprochen werden das neue Album von Rosalía (taz, mehr dazu bereits hier), das neue Laibach-Album "Wir sind das Volk - ein Musical aus Deutschland" (Standard), neue Alben mit Aufnahmen aus dem Archivfundus der britischen Psychedelic-Band Broadcast (taz), ein Konzert der Wiener Symphoniker unter David Afkham (Standard) und Aldous Hardings neues Album "Warm Chris" (Pitchfork).
Architektur
Design
Film
Außerdem: Cosima Lutz (Welt) und Mariam Schaghaghi (FAZ) sprechen mit Joaquin Phoenix über seinen neuen, auf Artechock besprochenen Film "Come on, Come on" (mehr dazu bereits hier). Sedat Aslan wirft für Artechock einen Blick ins Programm der Türkischen Filmtage in München. Auf Artechock gratuliert Rüdiger Suchsland Michael Haneke zum 80. Geburtstag.
Besprochen werden Benny Chans auf BluRay veröffentlichter Actionfilm "Raging Fire" (critic.de), Alina Gorlovas Dokumentarfilm "This Rain Will Never Stop" über einen geflüchteten Syrer in der Ukraine (Artechock, Tsp, mehr dazu hier), Zaida Bergroths Biopic "Tove" über Tove Janson (Artechock, Tsp, FAZ, unsere Kritik hier), die zweite Staffel von "Euphoria" (FAZ, Freitag), die zweite Staffel der Netflix-Serie "Bridgerton" (Presse) und Michael Bays "Ambulance" (FAZ, unsere Kritik hier).
Bühne

Weiteres: Ueli Bernays berichtet in der NZZ von einer Pressekonferenz im Zürcher Zeughaus, bei der Milo Rau seine kommende Inszenierung von Schillers "Wilhelm Tell" vorstellte.
Besprochen werden außerdem René Polleschs und Fabian Hinrichs' Theaterabend "Geht es Dir gut?" an der Volksbühne (nachtkritiker Christian Rakow kann wenigstens an diesem Abend sagen: "Ja", auch wenn es bis zum Auftritt der "Flying Steps" nicht sehr gemütlich war), Ai Weiweis Inszenierung von Puccinis "Turandot" in Rom, mit der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv am Pult (online nachgereicht von der Zeit), Georg Philipp Telemanns "Pastorelle en musique" bei den telemann festtagen Magdeburg (nmz), eine "Götterdämmerung" im Festspielhaus Neuschwanstein (nmz) und Katharina Kastenings Inszenierung von Jan Paderewskis Oper "Manru" in Halle (FAZ).