Efeu - Die Kulturrundschau

Diese merkwürdige Bildästhetik

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09.02.2022. Die taz lernt im Moskauer Teatr.doc, wie sich die Funktionäre darin überbieten, den Blick des Herrschers zu entschlüsseln. Die Welt setzt gegen identitätspolitischen Dogmatismus das Wesen der Schauspielkunst. Die FAZ verfolgt, wie Art Spiegelman in Tennessee sein Meisterwerk "Maus" gegen die Schulgremien verteidigt. SZ und Welt kommentieren die Oscar-Nominierungen. Und natürlich verneigt sich die Kunstkritik vor Gerhard Richter, der heute neunzig Jahre alt wird.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.02.2022 finden Sie hier

Kunst

Gerhard Richter: Selbstportrait, 1996. The Museum of Modern Art (MoMA), New York

Heute wird Gerhard Richter neunzig Jahre alt. Er ist so groß, dass er nicht einmal gegen die Verfälschung seines Werkes oder die Ikonisierung seiner Person angeht, wie Stefan Trinks in der FAZ feststellt, um "Richters Zweifel-Malerei" umso mehr zu verehren, "die in ihrer grundsätzlichen Ambiguität die ganze Komplexität der Welt abbildet, nie aber erklärt oder gar abschließend klären will". In der FR ahnt Ingeborg Ruthe, was diesen Maler der Unschärfe so groß gemacht hat: "Der Zeitgeschmack konnte ihn nicht verunsichern, der Kunstbetrieb nicht treiben und der Staat nicht einschüchtern. Auch nicht, als er verdrängte Nazivergangenheit, Hochrüstung und in den Neunzigern den von den USA unter Präsident Bush Senior begonnenen Irak-Krieg zum Bildthema machte. All diese Arbeiten bauen auf ein Archiv kollektiver Erinnerung auf. Und genau das macht diese merkwürdige Bildästhetik politisch." In der Welt bewundert Hans-Joachim Müller vor allem die seltene Klugheit, die Leben und Werk bei Richter verbindet: "Vielleicht ist das ja das Einzigartige an diesem inkommensurablen Werk: Es lässt nichts zu, keine Herz- oder Handarbeit, die nicht durch den Kopf ginge."

In der Zeit hatte Hanno Rauterberg schon zu Jahresbeginn einige hübsch pointierte Aussagen von Richter zusammengestellt: "Kritisch war meine Kunst nie. Die sogenannte gesellschaftskritische Kunst mag zwar gut gemeint sein, aber sie ist keine Kunst." Oder: "Rebellentum widerspricht meinem Temperament." Und "Ich finde manche Amateurfotos besser als den besten Cézanne."

Außerdem: Peter Richter gibt in der SZ einen Überblick über die anstehenden Feierlichkeiten. Im Tsp gratuliert sein Biograf Jürgen Schreiber.
Archiv: Kunst
Stichwörter: Richter, Gerhard, Irak, Senioren

Bühne

Katja Kollmann schickt der taz eine Reportage aus Moskau, wo noch einige Theater versuchen, sich der allgemeinen bellizistischen Propaganda entgegenzustellen. "Wie lange soll Putin mit Biden und Konsorten noch reden, bevor er loschlägt gegen die Ukraine?", dröhne es aus den Polit-Talks. Das kleine Teatr.doc etwa bringe mit Artur Solomows Stück "Wie wir Josef Stalin beerdigten" beißende Ironie in den Geschichtsdiskurs, freut sich Kullmann: "Bei Solomonow zieht Lenin Bilanz vor dem im Sterben liegenden Stalin: 'Du hast alles, was ich aufgebaut habe, in die Scheiße geritten.' Stalin bekommt die Chance einer Verteidigung auf dem Totenbett und verweist auf die Stabilität des Landes (im Jahr 1953). ei einem Besuch bei den Proben stehen Iwan Kaschin und Fjodor Kokorew in der Mitte der 20 Quadratmeter großen Probebühne und spielen zwei Schauspieler, die wiederum Nikita Chruschtschow (den späteren Generalsekretär der KPdSU) und Lawrenti Beria (den damaligen Chef der Geheimpolizei) darstellen, zwei Systemträger an Stalins Totenbett. Beide versuchen, Stalins Blick zu entschlüsseln, den sie völlig überbewerten, und werden fast wahnsinnig, weil es ihnen nicht gelingt. Das ist eine Szene voller entlarvender Situationskomik, die für das ganze Stück steht."

Schön, dass Arthur Hughes, ein Schauspieler mit angeborerer Behinderung, in London Shakespeares Richard III. spielen wird, findet Richard Kämmerlings in der Welt. Nicht so schön, dass er auch glaubt, es sei problematisch, wenn Menschen ohne Behinderung dies tun: "In der identitätspolitischen Debatte gibt es eine Schieflage: Einerseits sollen Menschen, die sich im falschen Körper fühlen, durch reine Deklaration ihr Geschlecht wechseln können. Andererseits werden Herkunft und die Erfahrung von Diskriminierung oder Benachteiligung zu unveränderlichen Merkmalen substanzialisiert, deren Anverwandlung auch als Rolle problematisch ist... Aus der aus historischen Gründen berechtigten Ablehnung des rassistischen Blackfacing hat sich ein identitätspolitischer Dogmatismus entwickelt, der das Wesen der Schauspielkunst missversteht."

In der taz verspricht Kultursenator Klaus Lederer Berlin einen Kultursommer. Besprochen wird Engelbert Humperdincks "Hänsel und Gretel" in Stuttgart (FAZ).
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Film

Die Oscarnominierungen sind bekannt gegeben worden. Ganze zehn (allerdings weitgehend auf technische Kategorien beschränkte) Nominierungen hat Denis Villeneuves Science-Fiction-Epos "Dune" (unsere Kritik), sogar auf satte zwölf Nominierungen kommt Jane Campions auf Netflix gezeigter Anti-Western "The Power of the Dog" (unsere Kritik). Schon das ist ein Prestige-Erfolg für den Streamingdienst, dem Ende März vielleicht noch die Krone aufgesetzt wird, schreibt Hanns-Georg Rodek in der Welt. Doch "die erste Geige spielen in Hollywood auch weiterhin die traditionellen Studios: Unter den zehn Nominierten für den Besten Film finden sich zwei von Warner Bros., zwei der Twentieth Century Fox (inzwischen geschluckt von Disney), eine von MGM, eine von Universal, eine aus Frankreich (Pathé) und eine aus Japan."

Campion ist nun die erste, aber eben auch wirklich nur die erste Regisseurin in der Geschichte der Goldjungen, die zum zweiten Mal nominiert wurde. "Von Gleichberechtigung kann bei den Oscars also noch keine Rede sein, aber immerhin bleibt den Veranstaltern durch diese Nominierung der Shitstorm erspart, den sie schon oft genug in Jahrgängen am Hals hatten, wenn gar keine Frau als beste Regisseurin nominiert war", kommentiert dazu David Steinitz in der SZ. "Auch was afroamerikanische Künstler angeht, gab es schon desaströsere Jahre. So wurden unter anderem Denzel Washington ('The Tragedy of Macbeth') und Will Smith ('King Richard') als beste Hauptdarsteller nominiert." Auch Andreas Busche vom Tagesspiegel sieht die Academy auf dem richtigen Weg, zumal sie Ryûsuke Hamaguchis japanische Murakami-Adaption "Drive My Car" (unsere Kritik) nicht nur im Ghetto des "besten fremdsprachigen Films" belassen, sondern auch in anderen wichtigen Kategorien nominiert hat.

Susan Vahabzadeh liest für die SZ eine Studie zum deutschen Kino, die in Sachen Gleichbereichtigung zu erfreulichen und weniger erfreulichen Beobachtungen kommt: "Der Frauenanteil auf den Leinwänden ist seither gestiegen, es herrscht fast Parität. Allerdings sind diese Frauen fast alle jung, schlank und werden 'im Kontext von Partnerschaft und Beziehung dargestellt'. Da spielt dann eben auch die Frage nach dem Gewicht eine Rolle - nur neun Prozent der männlichen Protagonisten wurden als "sehr dünn" eingestuft, aber ein Viertel der Schauspielerinnen."

Außerdem: Anlässlich der kürzlich zu beobachtenden Posse, dass Arte George A. Romeros in Deutschland wegen §131 beschlagnahmten Zombieklassiker "Day of the Dead" versehentlich ungekürzt zeigte und im Anschluss hektisch sämtliche Spuren davon aus seinem Online-Angebot tilgte, führt Thomas Groh in einem großen Perlentaucher-Essay durch die Geschichte der mitunter absurd anmutenden Jugendschutzmaßnahmen in Deutschland. Gunda Bartels wirft für den Tagesspiegel einen Blick ins Programm der Berlinale-Sektion "Perspektive Deutsches Kino". Eva-Maria Magel porträtiert für die FAZ Eva Hielscher, die neue Archivleiterin des Deutschen Filminstituts und Filmmuseums in Frankfurt. Die Produktionsfirma des neuen Matrix-Films verklagt Warner Brothers, weil das Studio den Film parallel zum Kino auch als Stream ausgewertet hat, meldet David Steinitz in der SZ. Der Plot des James-Bond-Films "Im Geheimdienst ihrer Majestät" dürfte Corona-Verschwörungstheoretikern einige Stichworte geliefert haben, glaubt Hanns-Georg Rodek in der Welt. Auf ZeitOnline gratuliert Sinem Kılıç dem Filmkomponisten John Williams zum 90. Geburtstag.

Im Tagesanzeiger schreibt Hans Jürg Zinsli einen Nachruf auf den Spezialeffekte-Meister Douglas Trumbull, dessen Arbeit es überhaupt erst zu verdanken war, dass Science-Fiction-Filme wie Stanley Kubricks "2001 - Odyssee im Weltraum" und Ridley Scotts "Blade Runner" visuell bis heute so überzeugend wirken. Das Filmmaker Magazine hat aus diesem Anlass ein Interview von 2017 aus seinem Archiv geholt. Wie Trumbull die atemberaubende Stargate-Sequenz am Ende von "2001" in mehrmonatiger Präzisionsarbeit gestaltete, erklärt dieses Video:



Besprochen werden Andrea Arnolds Tierporträtfilm "Cow" (Tsp, mehr dazu hier), Kenneth Branaghs Christie-Neuverfilmung "Tod auf dem Nil" (Standard), Fernanda Valadez' Spielfilmdebüt "Was geschah mit Bus 670?" (taz) und die im "Star Wars"-Universum angesiedelte Disney-Serie "Das Buch von Boba Fett" (FAZ).
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Literatur

Bei einer Onlineveranstaltung hat Art Spiegelman Stellung dazu genommen, dass ein US-Gremium seinen Holocaust-Comic "Maus" unter Angabe hanebüchener Gründe vom Lehrplan in Tennessee gestrichen hat (hier das Protokoll der Entscheidungsfindung). Für die FAZ saß auch Andreas Platthaus vor dem Monitor. "Spiegelman erinnerte daran, dass er die Entscheidung zur Verwendung sprechender Tiere à la Disney ursprünglich deshalb getroffen hatte, weil er ansonsten einen veritablen Horrorcomic à la EC Comics gezeichnet hätte. Und nun werde ausgerechnet 'Maus' der Traumatisierung von Jugendlichen bezichtigt." Der Zeichner präsentierte "die jeweils inkriminierten Szenen seines Comics: eine Konfrontation Vladeks mit von Deutschen im Ghetto gehenkten Juden und eine jüdische Familienszene aus der Vorkriegszeit, in der eine verzweifelte Frau sich am Bein des Ich-Erzählers festklammert." Die "bitch"-Szene "ist eine Traumvision von Art Spiegelman selbst, der nach dem Suizid seiner Mutter im Jahr 1968 in die Psychiatrie eingeliefert worden war und dort die Tote für deren Entschluss beschimpfte: Ausdruck grenzenloser Verzweiflung des Sohnes darüber, dass seine Mutter mit ihren Schuldgefühlen als Überlebende der Schoa nicht weiterleben konnte."

Weiteres: Ronald Pohl erinnert im Standard an Pasolini als literarischen Netzwerker. Außerdem schreibt er im Standard einen Nachruf auf den österreichischen Schriftsteller Gerhard Roth.

Besprochen werden unter anderem Esther Kinskys "Rombo" (NZZ), Orhan Pamuks "Die Nächte der Pest" (SZ), Michel Houellebecqs "Vernichten" (Jungle World), Kim Hye-Jins "Die Tochter" (FR), die von Tobias Schwartz herausgegebene Werkausgabe Aphra Behn (NZZ), José-Luis Munuera Comicadaption von Herman Melvilles "Bartleby" (Tsp) und Wolfgang Günter Lerchs "Türkische Dichter" (FAZ).
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Musik

Jan Wiele von der FAZ sieht Plattformen wie Spotify in der verantwortungsvollen Pflicht, präsentierte Inhalte auch tatsächlich zu kuratieren - der Anlass dafür ist natürlich die anhaltende Kontroverse um Joe Rogan, dem nun auch ein Zusammenschnitt seines willfährigen Gebrauchs des N-Worts und anderer Rassismen um die Ohren fliegt. Für "ziemlich bigott" hält Wiele es, wenn Spotify-Chef Daniel Ek gegenüber seinen Mitarbeitern zwar einräumt, "wie 'unglaublich schmerzhaft' einige von Rogans Kommentaren für manche von ihnen seien und dass diese nicht die Werte des Unternehmens Spotify repräsentierten - zugleich aber an dessen Sendung festhält im Namen der 'Kreativität'. ... Ek hat außerdem gesagt: 'Cancelling voices is a slippery slope.' Auf den rutschigen Abhang hat sich Spotify allerdings schon mit dem Einkauf Joe Rogans als Premium-Inhalt für angeblich Hundert Millionen Dollar begeben, schon damals wohl wissend, wofür Rogan stand, es war ja seit Jahren sichtbar."

Außerdem: Marius Magaard berichtet in der taz von einer kuriosen Aktion, bei der eine US-Website kurzzeitig NFTs von Spotify-Urheberrechten anbot. Frederik Hanssen berichtet im Tagesspiegel von der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern an Simon Rattle. Harry Nutt (FR) und Edo Reents (FAZ) gratulieren der Pop-Komponistin Carole King zum 80. Geburtstag. Reinhard J. Brembeck schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Komponisten George Crumb. Mit "avantgardistischer Wildheit und Schwärze" verarbeitete er 1970 die Schrecken des Vietnamkriegs:



Besprochen werden das neue Tocotronic-Album "Nie wieder Krieg" (NZZ), Janning Trumanns Jazzalbum "Roots & Riots" (FR) und neue Popveröffentlichungen, darunter ein neues Album von Alt-J ("Hui", schreibt dazu SZ-Popkolumnist Max Fellmann).

Archiv: Musik