Efeu - Die Kulturrundschau
Der fast verblutende Körper einer jungen Frau
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Architektur

Ausgesprochen gelungen findet Laura Weißmüller in der SZ, wie Christoph Mäcklers Romantik-Museum in Frankfurt Literatur und Architektur miteinander verbindet: "Die vermeintlich ewig hohe Treppe entpuppt sich als Treppchen mit 66 Stufen. Willkommen im neuen Deutschen Romantik-Museum in Frankfurt, wo das Gewöhnliche verwandelt, aufregend und spannend gemacht wird, bis es zum Illusionsbruch kommt. 'Das Haus ist unser erstes und wichtigstes Exponat', sagt Anne Bohnenkamp-Renken, die Direktorin des Freien Deutschen Hochstifts im Foyer des neuen Museums. Wer mit ihr und dem Architekten des Hauses Christoph Mäckler durch das Gebäude läuft, versteht, was sie meint. Denn Mäckler hat sich auf anregende Weise in seinem Entwurf mit der Romantik auseinandergesetzt und ihre Motive immer wieder aufgegriffen. Eine Deutschstunde in Ziegel, Stahl, Glas und Beton, wenn man so will."
Ebenfalls in der SZ bemerkt Lothar Müller, wie gut das Museum den Geist der Romantik auch im Interieur einfängt: "Der Gang zu den Objekten führt durch einen Stelenhain, in dem eine kleine Anthologie zum Begriff der Romantik aufleuchtet. Vom omnipräsenten, dämonisch-unverschämten Hausgeist des Hochstifts, Clemens Brentano, stammt ein Schlüsselsatz: "Das Romantische ist also ein Perspektiv oder vielmehr die Farbe des Glases und die Bestimmung des Gegenstandes durch die Form des Glases." Auch in der FAZ begrüßt Sandra Kegel, dass die Romantik als "Epoche des Träumerischen und Sehnsüchtigen" nun endlich einen eigenen und dann noch spektakulären Denkraum erhalte.
Außerdem: Niklas Maak gratuliert in der FAZ dem japanischen Architekten Tadao Ando zum Achtzigsten.
Film

Das Filmfestival Venedig endete mit einem Paukenschlag: Die wichtigsten Preise gehen an von Frauen inszenierte Filme, zum zweiten Mal infolge (nach Chloé Zhaos "Nomadland") erhält eine Frau den Goldenen Löwen - Audrey Diwan für ihre Verfilmung von Annie Ernauxs gerade in Deutschland erschienenem, autobiografischem Roman "Das Ereignis" über eine (damals noch illegale) Abtreibung im Frankreich des Jahres 1963 (hier alle ausgezeichneten Filme auf einen Blick). Ausgezeichnet wird damit "ein engagierter feministischer Film", schreibt Tim Caspar Boehme in der taz, "unter den politischen Filmen im Programm hat schließlich der leiseste gewonnen", meint Daniel Kothenschulte in der FR. Vor allem der (allerdings nicht mit einem Preis gewürdigten) Schauspielerin Anamaria Vartolomei ist dieser Erfolg zu verdanken, schreibt ein zumindest von der Wucht des Films völlig umgehauener Dietmar Dath in der FAZ: Was sie "leistet, ist menschlich und künstlerisch unantastbar." Aber ist der Film an sich auch Kunst? "Gut möglich, wenn's auch gewiss nicht spezifisch filmische Kunst ist: Was Diwans Film erreicht, könnten auch ein Text, ein Foto oder eine Performance erreichen. Außer dem Siegerfilm allerdings gab es auf dem Festival allemal genügend Werke zu sehen, die ihre Wirkungen absoluter Kino-Gattungstreue verdankten."
Der Wettbewerb war zu beträchtlichem Teil auf hohem Niveau erstarrt, meint Andreas Busche im Tagesspiegel: "In vielen Filmen war eine falsch verstandene Idee von Arthousekino zu beobachten, die sich in der Form genügt und darum auch als hundertstes Derivat noch eine Wertigkeit suggeriert." Der Siegerfilm liegt für Busche "in diesem Spektrum allenfalls "im soliden Mittelfeld. … Für einen der wichtigsten Filmpreise hätte die Regisseurin Audrey Diwan auch mal mehr als nur das Gesicht ihrer Hauptdarstellerin in Großaufnahme zeigen können." Peter Beddies hat für die Welt mit der Regisseurin gesprochen.
Die Jury hat alles in allem sehr naheliegend entschieden, meint Susan Vahabzadeh in der SZ: Denn "die Früchte eines pandemisch bedingten Kreativstaus hat man in Venedig nicht zu sehen bekommen, und Teile des Weltkinos fehlten. … Es hat durch Corona bedingte Drehausfälle gegeben, an manchen Orten wird aber auch einfach die Zensur immer härter." Daneben haben aber auch "ein paar sehr unausgegorene Projekte in den Wettbewerb gefunden, denen man gewünscht hätte, dass ihre Schöpfer die durch Corona erzwungene Pause für ein paar grundsätzliche Gedanken zu nutzen gewusst hätten."
Weitere Festivalresümees: Dominik Kamalzadeh vom Standard präsentiert die besten Filme des Festivals, auf die man sich in diesem Kinoherbst freuen kann. Urs Bühler lustwandelte für die NZZ derweil offenbar lieber durch die Straßen des Lido als Filme zu sehen.
Weitere Artikel: In der Dante-Reihe der FAZ wirft Claudius Seidl einen Blick auf Dantes Namenspatron, den Hollywoodregisseur Joe Dante. Besprochen werden Tom McCarthys Thriller "Stillwater" mit Matt Damon (Standard) und die Serie "Auckland Detectives" (Welt).
Literatur

Weitere Artikel: Colson Whitehead spricht im Standard über seinen neuen Roman "Harlem Shuffle" (weitere aktuelle Gespräche mit ihm resümierten wir hier und dort). Gerrit Bartels berichtet im Tagesspiegel von Christian Krachts Berliner Lesung aus seinem aktuellen Roman "Eurotrash". Beim Literaturfestival Berlin präsentierte der Schriftsteller Aleksandar Hemon sein neues Buch "Meine Eltern / Alles nicht dein Eigen", berichtet Thomas Hummitzsch auf Intellectures. Peter Praschl (Welt), Magnus Klaue (ZeitOnline) und Irmtraud Gutschke (Freitag) würdigen den polnischen Science-Fiction-Autor Stanisław Lem, der gestern 100 Jahre alt geworden wäre. ZeitOnline dokumentiert Mely Kiyaks Dankesrede zur Auszeichnung mit dem Kurt-Tucholsky-Preis. Mara Delius sorgt sich in der Welt darum, ob es auf der Frankfurter Buchmesse wohl Partys geben wird.
Besprochen werden unter anderem Sally Rooneys "Schöne Welt, wo bist du" (taz, Tagesspiegel), Georg Kleins "Bruder aller Bilder" (Zeit), Alida Bremers "Träume und Kulissen" (Standard), Rosmarie Waldrops "Pippins Tochter Taschentuch" (Intellectures) und Alexis Scheitkins Krimi "Saint X" (online nachgereicht von der FAZ).
In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Irmela Hijiya-Kirschnereit über Hiromi Itos "Schnee":
"Als ich den Fußspuren mit den Augen in die Ferne folgte
begriff ich, es hatte einen Hasen erwischt
…"
Kunst

Überwältigt, wenn nicht sogar in "Schockstarre" kommt Welt-Kritiker Manuel Brug in Paris aus dem Palais de Tokyo, das die Künstlerin Anne Imhof ganz zu ihrer Verfügung hatte, um es in einen gewaltigen Parcour aus Peformance, Kunst und Architektur zu verwandeln: "Gelbe Tulpen wogen als Lockdown-Movie im gruseligen Keller, Kabel hängen dort aus den Wänden, man stößt auf rohen Beton, Eisenarmierungen, Luftschachtummantelungen. Wie eine Baustelle wirkt das, ein aufgerissenes, in einem Zwischenstadium hervorgezerrtes Museum, in dem trotzdem Kunst präsentiert wird, die so noch schutzbedürftiger, aber auch manifester anmutet."
Im SZ-Interview mit Peter Richter wehrt Klaus Biesenbach, frisch berufener Direktor der Neuen Nationalgalerie und des Museums des 20. Jahrhunderts, Kritik wegen seiner mangelnder kunsthistorischer Expertise ab: "Ich habe schon Erfahrung damit, einen zeitgenössischen Blick auf Kunst verschiedener Epochen beizusteuern. Ich weiß aber auch, wie man ein Team bildet. Und wie man die Expertise, die bei anderen besteht, zusammen produktiv macht und integriert." In der New York Times bemerken Adam Nagourney und Robin Pogrebin allerdings, dass Biesenbach in Los Angeles gerade eine zweite Führungskraft zur Seite gestellt worden war, die das Management übernehmen sollte, "was von Museumsvertretern als Biesenbachs Schwäche angesehen wurde - und Biesenbach die künstlerischen Angelegenheiten überlassen" blieben.
Weiteres: In der FAZ schreibt Ulf Erdmann Ziegler zum Achtzigsten des Fotografen Timm Rautert. Im Standard befragt Hilpold den Berliner Galeristen und "Kunstzampano" Johann König zu seinen Plänen für das Kleine Haus der Kunst in Wien. Rüdiger Schaper annonciert im Tagesspiegel, dass am Wochenende der Pariser Tirumphbogen verhüllt wird, als letztes postumes Werk von Christo und Jeanne-Claude.
Besprochen werden die Ferdinand-Hodler-Ausstellung in der Berlinischen Galerie (Tsp) und die Schau zu Vermeers "Briefleserin am offenen Fenster" in der Dresdner Gemäldegalerie (FAZ).
Design
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"Sie lebt, die Berliner Mode", ruft Marina Razumovskaya in ihrem taz-Resümee der Berlin Fashion Week. Die durch Corona induzierte Jogginghosen-Verwahrlosung samt des gesunkenen Bedarfs für Ausgehmode hat der Branche freilich ziemlich zugesetzt - nur Reaktionen darauf fand Razumovskaya nicht, stattdessen unverdrossen viele neue, fraglos schöne Entwürfe, etwa von Alisa Menkhaus' Studio Susumu Ai: Diese "Mode nimmt Elemente aus der japanischen Tradition, aber deutet sie oft in etwas Funktionelles um. Ihre Schnitte sind schlicht und elegant, mit vielschichtigen, transparenten Blusen aus japanischer Baumwolle oder traditionellem Chirimen Stoff oder Variationen des traditionellen an der Taille gebundenen Obi-Gürtels. Alle Stoffe sind in Japan hergestellt, produziert wird im Weddinger Studio in Berlin. Alisas Kollektionen verbinden auf zauberhafte Weise die Kimono-Tradition mit ihrer starken Betonung der Umhüllung und feine, das Feminine betonende Akzente. Es entstehen Kleider, deren Feminität und Freiheit auch für die Postcorona-Europäerin tragbar werden."
Bühne

Am Zürcher Schauspielhaus hat Yana Ross "Interview mit fiesen Männern" nach Texten von David Foster Wallace inszeniert. In der Nachtkritik freut sich Valeria Heintges, wie "großartig" Genderklischees entlarvt werden. In der NZZ kann Ueli Bernays zwar die Porno-Szenen wegstecken, aber nicht unbedingt den Zynismus: "In den langfädigen, mitunter manischen Rezitativen der sieben Cowboys und Cowgirls lernt man das Leiden von Männern kennen, die zu Liebe und Leidenschaft nicht mehr fähig sind. Triebgesteuert und phallisch dirigiert, sind sie aufs Kopulieren fixiert, das ohne Gefühl nicht recht gelingen will. Umso abstruser und aggressiver werden ihre Reden. Und manchmal wird der Frust in Aggression abgeführt. Wenn das männliche Sendungsbewusstsein angeschlagen gärt und fault, bringt es offenbar eine toxische Sprache hervor, die weit anstößiger ist als das bisschen Live-Sex auf der Bühne. Wer aber ist schuld am Unglück der beziehungsunfähigen Männer? Der Kapitalismus vielleicht, der alles zur Ware macht und mithin auch den Menschen? Oder sind es die Frauen, die nicht mehr wissen, was sie wollen?"
Besprochen werden Produktionen von Michael Finnissy und Michael Wertmüller bei der Ruhrtriennale (SZ), Bonn Parks Stück "Bambi & Die Themen" im Düsseldorfer Schauspielhaus (Nachtkritik) Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" beim Theater Willy Praml (FR) und Christopher Rüpings Dante-Inszenierung "Das neue Leben" in Bochum (SZ).
Musik
Weitere Artikel: In der Welt resümiert Manuel Brug das Lucerne Festival. Fürs Zeitmagazin plauscht Christoph Dallach mit dem Pianisten Jon Batiste. Tazler Jens Uthoff freut sich auf die Berliner Synthesizermesse.
Besprochen werden Igor Levits neues Album "On DSCH" mit Schostakowitsch-Aufnahmen (Welt), ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Herbert Blomstedt beim Lucerne Festival (NZZ), ein Gershwin-Abend mit Lizz Wright und der hr-Bigband (FR), Ania Vegrys, Katarzyna Wasiaks und Dominique Horwitz' Aufnahme von Simon Laks' "Complete works for voice and piano" (FAZ) und das neue Album von Drangsal, der laut Zeit-Kritiker Daniel Gerhardt so "klingt wie Die Ärzte für Menschen, die zumindest schon mal darüber nachgedacht haben, an einer Orgie teilzunehmen". Das Titelstück: