Efeu - Die Kulturrundschau

Die Produktion läuft ganz normal

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08.06.2021. Der DlfKultur blickt auf die Not der Textilarbeiterinnen in der Türkei. Die taz erkundet Familienbilder in der Fotografie. Die Welt erlebt mit Andras Schiff einen Brahms ohne Bart und Bauch. Die NZZ sieht das Ende von Personen- und Geniekult am Theater nahen. Der Tagesspiegel begrüßt die neue Doppelspitze an der Berliner dffb. Und in der SZ gönnt sich Lutz Seiler etwas Kellerfreizeit.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.06.2021 finden Sie hier

Design

Emre Çaylak berichtet in einer Reportage für Dlf Kultur von der bitteren Lage der Textilarbeiterinnen in der Türkei, wo zahlreiche internationale Modefirmen produzieren lassen: Viele Unternehmen vor Ort haben ihre Näherinnen aufgrund der pandemiebedingt eingebrochenen Auftragslage in "unbezahlten Urlaub" geschickt, den der türkische Staat - mit einer lachhaft geringen Summe von 140 Euro - kompensiert. Auch Coronahilfen der beauftragenden Modekonzerne kamen offenbar nicht bei der Basis an. "Eine beliebte Masche sei auch, bei der Kurzarbeit zu betrügen, erklärt Gewerkschaftschef Arslanoğlu. Ähnlich wie in Deutschland zahlt der Staat den Firmen bei Kurzarbeit 60 Prozent des Lohns für ihre Angestellten, 40 Prozent muss der Arbeitgeber in der Türkei weiterbezahlen. Arslanoğlu weiß aus Erfahrung, wie der Betrug funktioniert: 'Die Firma meldet einen Auftragseinbruch an. Die Angestellten kommen zwar weiter zur Arbeit und die Produktion läuft ganz normal weiter. Aber die Firma stellt es so dar, als würden sie zu Hause bleiben.' ... In einem Fall, über den türkische Zeitungen berichteten, hatte eine Firma, die für den schwedischen Modekonzern H&M produziert, ihre Angestellten gezwungen zur Arbeit zu kommen, inklusive dem coronainfizierten Vorarbeiter. Immer auf der Jagd nach Aufträgen. Das Ergebnis: Dutzende wurden krank, zwei Menschen starben."

Weiteres: Der Trend der Sommermode geht zur einseitigen Schulterfreiheit, schreibt Tillmann Prüfer in seiner ZeitMagazin-Kolumne. Und: Wenn Sie den Spargel auf Ihrem Teller über haben: Werfen Sie ihn über die Schulter:

Archiv: Design

Kunst

Lucia Herrero: Familia López, 2009. Foto: Deichtorhallen

Zwiegespalten kommt taz-Kritiker Falk Schreiber aus der Fotoschau "Family Affairs" in den Hamburger Deichtorhallen, die ihm bei aller Diversität doch recht bieder erscheint. Aber manchmal packt sie ihn doch: "Familiengruppenporträts scheinen ihren eigenen künstlerischen Gesetzen zu folgen, im Grunde sehen sie immer gleich aus. Und mit diesen Gesetzen lässt sich arbeiten: Nora Bibel und Neil DaCosta etwa übertragen die westliche Ästhetik in fremde Kulturkreise, Bibel auf indische Großfamilien, DaCosta gruppierte im äthiopischen Omo-Nationalpark Familienverbände der Hamar als typische Familiengruppe. Beide schaffen so eine Differenz zwischen dem künstlerischen Aufbau und der sozialen Struktur, die das Bild vermeintlich wiedergibt. Jamie Diamond schließlich zeigt mit 'Constructed Family Portraits' (2006-08) die Familie als reine Konstruktion: Die US-Fotografin bittet einander vollkommen Fremde, für Gruppenporträts zu posieren, und schafft einzig durch ihr Spiel mit ästhetischer Konvention eine familiäre Illusion."

Für die NZZ besichtigt Peter Kropmanns die in der alten Pariser Handelsbörse eröffnete Collection Pinault.
Archiv: Kunst

Bühne

Du sollst doch nicht töten: Christian Erdt und Robert Dölle in Dekalog. Foto: Birgit Hupfeld

Calixto Bieito
hat für das Münchner Residenztheater Krszysztof Kieslowskis Filmreihe "Dekalog" adaptiert, die so düster und unerbittlich Freiheit und Gerechtigkeit in Warschaus Plattenbauten verhandelte. Auch Bieitos Inszenierung ließ SZ-Kritikerin Christine Lutz schaudern, zumal der spanische Regisseur es kein bisschen auf Provokation anlegt: "Er schiebt die Figuren dafür ganz nach vorn an den Bühnenrand, an den buchstäblichen Rand der Verzweiflung oft, er exponiert sie, zoomt auf ihr Zögern, den Entschluss und den Horror über das, was nun geschieht. Da ist die Geschichte eines Vaters (Michael Wächter), der seinen Sohn zum Schlittschuhlaufen schickt, weil er, Computernerd, der er ist, die Dicke des Eises berechnet haben will. Das Kind stürzt ein. 'Du sollst neben mir keine anderen Götter haben', heißt das erste Gebot. Ein Anwalt (Max Rothbart) macht sich Vorwürfe, einen jungen Mörder (Christian Erdt) nicht vor der Todesstrafe bewahrt zu haben, 'Du sollst nicht töten', das fünfte Gebot. Es sind Geschichten von Liebe und Verantwortung, von Wut und Missgunst, Ehrlichkeit und Lüge. Von Leid und der Hoffnung auf Erlösung."

In der NZZ blickt Ueli Bernays auf die Krise der Intendanz und stellt fest, das auch die Verteidiger steiler Hierarchien dem Personen- und Geniekult nicht mehr viel abgewinnen können: "Und ob Schauspielstars, Regisseure oder Intendanten - künftig dürften im Schatten künstlerischer Eminenz und Souveränität keine Fehltritte und Übergriffe mehr geduldet werden."

Besprochen werden Nuran David Calis beklemmender Theaterfilm "NSU 2.0" (FR), Tobias Kratzers Inszenierung von Johann Strauss' "'Zigeuner'baron an der Komischen Oper Berlin (die bei SZ-Kritikerin Julia Spinola trotz halbwegs korrekter Schreibweise nicht recht zünden wollte, "verkrampft" findet Gerald Felber in der FAZ die Inszenierung, politisch überzeugend, aber nicht musikalisch, meint Manuel Brug in der Welt, BLZ, Tsp), Elfriede Jelineks Pandemiestück "Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!" am Hamburger Schauspielhaus (das Katrin Ullmann in der taz ratlos lässt: "Was war noch mal die These?"), Thomas Ostermeiers Adaption von Virginie Despentes' Roman "Das Leben des Vernon Subutex 1" an der Berliner Schaubühne (FAZ), Humperdincks "Hänsel und Gretel" im Staatstheater Mainz (FR) und Jette Steckels Inszenierung von Astrid Lindgrens "Pippi Langstrumpf" als Rebellionsrevue (Nachtkritik).
Archiv: Bühne

Literatur

In der "Was folgt"-Kolumne der SZ erzählt der Schriftsteller Lutz Seiler, dass er sich im Keller eine Art Privatarchiv aufgebaut hat, in dem alles landet, was "oben" nicht mehr recht Platz findet. Unter dem im Kalender vermerkten Stichwort "Kellerfreizeit" will er unten Ordnung schaffen, doch "in Wirklichkeit meint 'Kellerfreizeit' jene Sehnsucht, vollkommen abgeschieden, beschützt und beruhigt zu sein, umgeben von Dingen, die mir, den Zeitläuften entführt, eine Illusion von Fortdauer geben, jenseits der oberen Welt. Ja, ich glaube, hier unten ist tatsächlich mein Lieblingsplatz. Mir zu Füßen steht eine Kiste mit originalverpackten Restexemplaren meines ersten Gedichtbands, 'berührt/geführt', die ich dort aufbewahre, als Kapitalanlage. Bei Amazon und Ebay war der Preis für das Buch zuletzt auf 60 Euro gestiegen. ... Gedichte entwickeln sich also besser als Aktien oder Gold (was wir schon immer wussten)."

Weitere Artikel: Sieglinde Geisel stutzt beim Page-99-Test auf Tell, dem sie Friederike Mayröckers Band "Benachbarte Metalle" unterziehen will, denn die Seite 99 zeigt bis auf ein "V" ein leeres Blatt: "Ist das Friederike Mayröckers Art, mir zu sagen, dass ich sie verschonen soll?" Rose-Maria Gropp schreibt in der Dante-Reihe der FAZ über Dantes Beatrice-Passion.

Besprochen werden unter anderem Zadie Smiths Erzählband "Grand Union" (online nachgereicht von der FAS), David Diops "Nachts ist unser Blut schwarz" (Intellectures), Ulrike Edschmids "Levys Testament" (ZeitOnline), Gaito Gasdanows Erzählband "Schwarze Schwäne" (Tagesspiegel), Silvia Pistotnigs "Teresa hört auf" (Standard), Peter Hamms "Die Welt verdient keinen Weltuntergang" mit Aufsätzen und Kritiken (NZZ), der Band "Fern von hier" mit sämtlichen Erzählungen von Adelheid Duvanel (online nachgereicht von der Zeit), ein Hörbüch von Heinrich Heines "Matratzengruft" (SZ) und Andrzej Stasiuks Kolumnensammlung "Beskiden-Chronik" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) wird künftig von einer weiblichen Doppelspitze geleitet: Catherine Ann Berger wird fürs Geschäftliche zuständig sein, die Filmemacherin Marie Wilke wird künstlerische Leiterin. Nach vielen Jahren des Konflikts mit dem Berliner Senat lässt diese Wahl nun auf einen neuen Dialog zwischen Schule und Land zu hoffen, meint Andreas Busche im Tagesspiegel: "Es ist eine spannende Wahl - nicht ohne Präzedenz (auch Bitomsky arbeitete an der Schnittstelle von Essay und dokumentarischer Form), dennoch mit erkennbarer Programmatik. Mit ihren Langzeitstudien 'Staatsdiener' (2015) über die Ausbildung an einer Polizeischule in Sachsen-Anhalt und 'Aggregat' (2018), einem Gesellschaftsporträt der Bundesrepublik in den Jahren nach der sogenannten Flüchtlingskrise, gehört sie aktuell zu den interessantesten Filmemacherinnen mit einem Blick für das Verhältnis von Öffentlichkeit und Politik. Zuletzt drehte Wilke für das ZDF die True-Crime-Doku 'Höllental'."

Außerdem: Lucas Barwenczik wirft für den Filmdienst einen nostalgiefreien Blick zurück auf Steven Spielbergs "Indiana Jones"-Franchise, das vor 40 Jahren aus der Taufe gehoben wurde, kann heute aber nur noch mit dem Kopf darüber schütteln: "Indiana Jones war immer die Avantgarde der schlechtesten Tendenz des Mainstreamkinos" und "Fortsetzung für Fortsetzung wird der Panzer aus Ironie massiver".  Cordula Reyer unterhält sich im Standard mit dem Drehbuchautor Alan Ball. Besprochen wird die Sky-Serie "Domina" (taz).
Archiv: Film

Musik

Welt-Kritiker Elmar Krekeler kommt aus dem Staunen nicht mehr raus: András Schiff und das Orchestra of the Age of Enlightenment nehmen auf ihrer neuen, ohne Dirigent eingespielten CD den Firnis von 150 Jahren auf den frühen Klavierkonzerten von Johannes Brahms und lassen sie auf eine Weise erstrahlen, wie man sie bis dato nicht kannte: "Wir sollen, das war Schiffs Ziel, die ersten seit Generationen sein, die Brahms erleben wie seine Zeitgenossen. Einen Brahms ohne Bart und Bauch. Ohne den philharmonischen Fettansatz, der ihm in der Aufführungsgeschichte zuwuchs." Gespielt wurde auf historisch überlieferten Instrumenten und mit einem ausgedünnten Klangkörper, wie er in den kleineren Sälen des 19. Jahrhunderts gängig war, erfahren wir: Zu hören gibt es "herrlich obertönige Oboen, wunderbar weiche Hörner und pulvertrockene Pauken. Schneller sind sie nicht, aber beweglicher, quecksilbriger. Nichts geht verloren an Wucht, an Tiefe. Alles wird gewonnen an Perspektiven."

Eine "Revolte" sieht auch Zeit-Kritikerin Christine Lemke-Matwey in diesem Projekt, über das sie mit Schiff gesprochen hat. "Doch ehe man nun ins Philosophieren gerät über das romantische Subjekt und die Autonomie des Solisten, könnte diese Brahms-Lesart auch etwas anderes, frappierend Zeitgeistiges bedeuten: dass nicht nur das olympische 'Schneller, höher, stärker' in der Musik mit der Coronakrise endgültig vorbei sein dürfte, sondern auch die Zeit der Titanen. Alle Macht dem Dialog, alle Kraft der Basis? Das könnte ungemütlich werden, schließlich lebt es sich im Windschatten exzentrischer Persönlichkeiten nicht so schlecht. Wenn sie verschwinden, fühlen sich die Zurückbleibenden oft wie im Schluss-Sextett von Mozarts Don Giovanni (nach der Höllenfahrt des Titelhelden): reichlich wackelig an der frischen Luft." Im Werbevideo des veröffentlichenden Labels ECM spricht Schiff ausführlich über Brahms:



Außerdem: Die Nachtclubs und Diskotheken von Paris kämpfen um ihre Existenz, berichtet Marc Zitzmann in der FAZ: Dabei "beruhte ein Gutteil der Faszinationskraft von Paris immer auf dem Glanz seiner Nächte."  Besprochen werden Christoph Wagners Buch "Geistertöne" mit Gesprächen mit Musikern (NZZ), das neue Album von St. Vincent (FR) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine Aufnahme von Péter Eötvös' "Alhambra" durch das Orchestre de Paris mit Isabelle Faust unter Pablo Heras-Casado (SZ).
Archiv: Musik