9punkt - Die Debattenrundschau

Selbstzerstörerische Prophetie

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.06.2021. Nach der Routine der Wahlsendungen zu Sachsen-Anhalt kommen nun auch einige tiefer schürfende Analysen. Ingo Schulze beklagt in der SZ die tiefen sozialen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Die Wahlen werfen im übrigen ein unheimliches Problem auf: Wie stark beeinflussen Prognosen und Medien den Ausgang von Wahlen, fragen Jürgen Kaube in der FAZ und Henryk Broder in der Welt. Die Debatte  um A. Dirk Moses' Polemik "Katechismus der Deutschen" geht weiter: Moses ist ein Sieferle von links, meint Volker Weiß in der taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.06.2021 finden Sie hier

Europa

Die Neuen Länder stellen zwar nur 15 Prozent der Wahlberechtigten, schreibt der Politologe Wolfgang Schröder in der taz nach der Wahl in Sachsen-Anhalt, aber sie hatten nach der Wende einen überproportionalen Einfluss auf die gesamte Wählerschaft in Deutschland, unter anderem durch die Entstehung der PDS als einer nicht koalitionsfähigen Partei im linken Spektrum, die sich vor der AfD zudem als Regionalpartei profilierte, und durch die starke Basis für die AfD. Es reicht im übrigen nicht, immer wieder auf den Mentalitäten der Neubürger herumzureiten, solange nicht sozialen Unterschiede benannt sind, meint Schröder: "Während das durchschnittliche Vermögen in Westdeutschland rund 200.000 Euro beträgt, liegt es im Osten bei unter 70.000 Euro. Die Arbeitslosenquote betrug 2018 im Osten des Landes 6,9 gegenüber 4,8 Prozent im Westen. Der Niedriglohnsektor liegt bei fast 40 Prozent aller Beschäftigten, im Westen sind es dagegen nur 20 Prozent. Es fehlt an Betrieben mit Forschung und Entwicklung, an komplexen Jobs."

Auch der Schriftsteller Ingo Schulze kritisiert in seiner Rede zur Verleihung des Kunstpreises der Stadt Dresden, die die SZ veröffentlicht, eine andauernde Ungleichheit zwischen Ost und West, die er skandalös findet: "Heute gibt es kein Land in Europa, in dem einer Bevölkerung so wenig an Grund und Boden, an Immobilien und an Betrieben gehört wie den Ostdeutschen im Osten Deutschlands, keine Bevölkerung, die dort, wo sie lebt, so wenige Führungsposten innehat wie die Ostdeutschen, sei es in den Betrieben, in den Medien, den Verwaltungen und Banken, beim Militär und der Polizei oder an den Gerichten und Universitäten. Bundesweit waren 2016 ganze 1,7 Prozent der Ostdeutschen in Spitzenfunktionen bei einem Bevölkerungsanteil von 17 Prozent. Noch niederschmetternder ist nur: Es gibt keine Tendenz hin zur Angleichung. Weder wächst für Ostdeutsche der Besitz an Wohneigentum, Grund und Boden oder Unternehmen noch der an Führungspositionen. ... Die Ungleichheit vererbt sich im wahrsten Sinne des Wortes fort."

In der Welt meint Torsten Krauel - auch mit Blick auf die Behauptung des Ostbeauftragten Marco Wanderwitz vor einigen Tagen, ein Teil der Ostdeutschen sei für die Demokratie verloren - zum Wahlergebnis in Sachsen-Anhalt: "Mit Reiner Haseloff hat ein in der DDR aufgewachsener Katholik gezeigt, dass die Diktaturerfahrung in eine starke politische Mitte münden und so zu einem Rettungsanker für die West-CDU werden kann. Die merkwürdige Debatte über demokratieunfähige Ostdeutsche endet an diesem Punkt zunächst."

Ähnlich sieht das Cerstin Gammelin in der SZ: Die Wahl in Sachsen-Anhalt zeige weniger, dass die Ostdeutschen desinteressiert am Klimaschutz sind, sondern dass der ganze Diskurs westdeutsch und unehrlich ist: "Zählt man die Windräder, mit denen Sachsen-Anhalt zugestellt ist, entsteht der Eindruck, dass es die Energiewende ganz allein schultert: Im Land stehen fast vier Mal so viele Windräder wie in Baden-Württemberg, in dem der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann ebenso lange regiert wie Haseloff - aber medial als fortschrittlich wahrgenommen wird. Der Osten, das hat Michael Kretschmer, Haseloffs Kollege aus Sachsen gesagt, habe ein besonderes Gespür für Widersprüche. Das spiegeln auch die Wahlergebnisse. Wegen des riesigen Niedriglohnsektors fällt dort im Portemonnaie eher auf, dass man zwar Licht ausmachen und Strom sparen kann, der Strompreis aber trotzdem steigt."

Bei den Wahlen in Sachsen-Anhalt war im übrigen Schrödinger Katze unterwegs: Der Blick aufs Ereignis hat das Ereignis verändert. Die Prognosen zur Wahl haben die Wahl so stark beeinflusst, dass sie die Prognosen am Ende selber Lügen straften, beobachtet Jürgen Kaube in der FAZ: "Man könnte es eine selbstzerstörerische Prophetie nennen". Die Wahlprognosen hatten nämlich mehr oder weniger ein Kopf-an-Kopf-Rennen von CDU und AfD gesehen - in Wirklichkeit lag die Differenz dann bei 16 Prozent: "Die Demoskopen werden eine solche Wirkung ihrer Vorhersagen freilich nicht gern zugeben. Denn darin läge nicht nur die Einsicht, dass es gar keine richtigen Wahlumfragen gibt, weil jede falsche sich mit ihrem Feedback entschuldigen könnte. Es hieße auch, dass Umfragen oder zumindest ihre Publikation politisch und nicht neutral zu betrachten wären. Womöglich unterbleibt auch deshalb eine Diskussion auf offener Bühne."

Auch Henryk Broder thematisiert das krasse Versagen der Prognosen in der Welt: "Wer denkt sich so was aus? Und wie schaffen es solche 'Prognosen' in die Medien, vom Ahlener Tagblatt bis zur Zossener Rundschau? Ich finde, die Mitarbeiter des ARD-'Faktenfinders' oder das Team von Correctiv, das sich zum 'investigativen Journalismus' bekennt, sollten solche Fragen auf ihre To-do-Listen setzen."

Als Walter Smerling, Leiter der Bonner "Stiftung für Kunst", 2017 eine Schau mit Kunst aus Deutschland in Peking organisierte, dachte er, dass man "trotz politischer Differenzen" mit Kunst Brücken bauen kann, erzählt er gerade noch dem Tagesspiegel. Darum organisierte er anschließend die große europäische Kunstausstellung "Diversity United" unter der Schirmherrschaft von Frank-Walter Steinmeier, Emmanuel Macron und Wladimir Putin. Der Traum vom Brückenbau ist geplatzt, berichtet Sonja Zekri in der SZ. "Einer der Partner der Riesenschau ist der Petersburger Dialog, eine Plattform für den Austausch zwischen beiden Ländern. Vor wenigen Tagen aber wurden drei Organisationen in Russland für 'unerwünscht' erklärt, also de facto verboten, darunter zwei Mitglieder des Petersburger Dialogs. Wer künftig mit dem Deutsch-Russischen Austausch oder dem Zentrum Liberale Moderne zusammenarbeitet, kann zu sechs Jahren Haft verurteilt werden. Ihre Tätigkeit sei 'eine Bedrohung für die Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung und die Sicherheit der Russischen Föderation', erklärte die russische Generalstaatsanwaltschaft. Das Ganze ist in mehr als einer Hinsicht bizarr. Der Petersburger Dialog wurde 2001 von Putin selbst und dem damaligen Kanzler Gerhard Schröder ins Leben gerufen und galt Kritikern eher als zu zahm, eine Honoratiorenveranstaltung." Putin, das steht wohl fest, wird bei der Eröffnung heute Abend nicht anwesend sein.
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Religion

Immer mehr polnische Schüler und Schülerinnen melden sich, soweit möglich, vom Religionsunterricht in den Schulen ab - auch wegen der extremen Position der polnischen Kirche zu Themen wie Homosexualität und Abtreibung, berichtet Inge Hüsgen im Humanistischen Pressedienst. Inzwischen nehmen fast die Hälfte nicht mehr am Katechismus-Unterricht teil: "Der konfessionelle Religionsunterricht in Polen wird durch die öffentliche Hand finanziert, doch die katholische Kirche bestimmt die Lehrpläne und ernennt Lehrkräfte. Vor wenigen Wochen sorgte ein Priester für Schlagzeilen, weil er im Unterricht Homosexualität als 'illness' bezeichnet und Elektroschocks sowie chirurgische Eingriffe als 'Therapie' empfohlen hatte. Immerhin musste sich der Gottesmann dafür öffentlich entschuldigen - vielleicht ein weiteres Anzeichen, dass sich die Stimmung wendet."
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Überwachung

Ein Bündnis von Organisationen wie Amnesty International und die Internet Freedom Foundation ruft dazu auf, Gesichtserkennung weltweit zu ächten, berichtet Stefan Krempl bei heise.de: "Die Beteiligten wollen erreichen, dass alle öffentlichen Investitionen in biometrische Techniken zur massenhaften oder gezielten Überwachung gestoppt werden. Weder öffentliche Einrichtungen noch private Unternehmen dürften sie nutzen oder vorantreiben. An Investoren richtet sich der Appell, die von ihnen finanzierten Firmen aufzurufen, entsprechende Entwicklungen oder den Vertrieb solcher Werkzeuge einzustellen." Hier die Website des Bündnisses.
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Geschichte

Übersetzer haben manchmal einen intimeren Kontakt zu einem Text als selbst der Autor - sie sehen, wie ein Text strukturiert ist, und ob er funktioniert. Im Gespräch mit Martina Meister von der Welt spricht der Übersetzer Olivier Mannoni über die Tendenz von Übersetzern, die Fehler von Originaltexten zu glätten oder stilistische Grobheiten abzuschleifen. Das hat er bei Hitlers Pamphlet "Mein Kampf", das jetzt in seiner wissenschaftlichen Übersetzung in Frankreich herauskommt, nicht getan. Und er redet sich seinen Frust von der Seele: "'Mein Kampf' ist unlesbar, ein entsetzliches Buch, das grob dahingefuscht wurde: schlecht gedacht, schlecht konzipiert, schlecht geschrieben. Die Sprache ist konfus, überfrachtet und voller Syllogismen. Beim Übersetzen muss man in die Tiefe gehen, und da merkt man, wie ein Text gebaut ist, und auch, dass man es in diesem Fall mit einem extrem schwammigen Denken zu tun hat."
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Gesellschaft

In Tschechien haben sie eine Genderdebatte mit umgekehrten Vorzeichen. Die weibliche Form des Nachnamens "-ová", die vom Nachnamen des Ehemanns abgeleitet wird, soll abgeschafft werden (unser Resümee). Jaroslav Rudis sieht das in der FAZ gelassen: "Die tschechische Sprache hat schon einige Veränderungen erlebt. Sie wird mit und ohne das Ová klarkommen. Vielleicht ist die Sprache sogar klüger als wir Menschen. Und toleranter. Die strengen Sprachpuristen waren mal empört über die vielen deutschen Wörter in der tschechischen Sprache, und doch sagt auch heute noch jeder tschechische Eisenbahner nicht 'strojvedoucí' zum Lokführer, sondern 'fíra', abgeleitet von deutschem Lokführer."

In der Berliner Zeitung warnt die Sprach- und Literaturwissenschaftlerin Susan Arndt (anders als neulich noch Götz Aly, unser Resümee) vor der Verwendung des Wortes "Mohr" - wie in "Mohrenstraße" -, weil es immer herabsetzend gemeint gewesen sei: "Das M-Wort geht auf das griechische Wort 'μαυρο' or 'mavro' zurück. Wortwörtlich ist es als 'schwarz, geschwärzt oder verkohlt' zu übersetzen. Es bezeichnete schwarze Dinge, aber eben auch Schwarze Menschen. In der griechischen und später auch der römischen Literatur finden sich zahlreiche Belege dafür, dass schwarz als Farbe des Bösen, speziell von Geistern und Dämonen (daimōn), die oft auch die Unterwelt repräsentieren, sowie als Farbe von Tod und Kummer steht. Das wiederum war eng mit den Klimatheorien des Aristoteles und anderer griechischer Denker verwoben. Die Sonne würde die Haut schwärzen, aber eben auch verbrennen, verkohlen - und dabei Haare wie Hirne austrocknen."
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Medien

Wenn die Medien immer mehr an Lesern verlieren, dann ist vielleicht nicht nur das Internet daran schuld, meint in der NZZ der Historiker Michael Wolffsohn. Vielleicht will man auch die ewigen Moralpredigten nicht mehr hören? Oder die Vermischung von Fakten und Meinung? "Eine nicht seltene Steigerung jener Vermischung: Der vermeintliche oder echte Wächter präsentiert sich zugleich als Ankläger, Richter und moralische Instanz in einer Person, also als Formulierer und Exekutierer des allgemeinen Willens, der bei Rousseau quasi Gottersatz ist und bei Rousseaus gelehrigstem und gefährlichstem Schüler, Robespierre, Gottersatz wurde. Wo sonst außer im Journalismus gibt es in demokratisch verfassten Staaten diese analytische, politische und moralische, säkularisiert quasi göttliche Multifunktionalität? Multifunktionalität ohne Kontrolle."
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Ideen

Der Historiker und Rechtsextremismusexperte Volker Weiß hat sich auf Facebook sehr kritisch über A. Dirk Moses' Polemik "Katechismus der Deutschen" geäußert. In der taz erläutert er diese Kritik am postkolonialistischen Historiker - den er in die Nähe rechter Holocaustrelativierer stellt: "Eine ganze Reihe von Moses' Motiven findet sich auch in Rolf Peter Sieferles antisemitischem Pamphlet 'Finis Germania'. Das beginnt schon bei seiner Terminologie. Beispielsweise wirft Moses jenen vor, die auf die Unterschiede von kolonialer Gewalt und NS-Vernichtungspolitik hinweisen, als 'Hohepriester' zu agieren und 'Exorzismen' zu betreiben, er fühlt sich an 'Häresieprozesse' erinnert. Seine 'Sakralisierungsthese' ist ja nicht gerade neu. In der Regel wird sie von Kreisen vorgetragen, die den Bedeutungsverlust von Religion beklagen und in der Gedenkpolitik Sinnstiftungskonkurrenz sehen." Mehr zu der Kontroverse im Perlentaucher, und hier unsere Resümees. Hier außerdem unsere Resümees zur Debatte über Sieferles Buch "Finis Germania" im Jahr 2017. Und geschichtedergegenwart.ch bringt den Beitrag von Johannes von Moltke (unser Resümee) auf Deutsch.

Außerdem: In der FR denkt Artur Becker über die Krise der Linken nach. In der Welt stellt Hannes Stein Peter Singers neues Journal of Controversial Ideas (Website) vor, in dem Texte veröffentlicht werden sollen, die sich ausdrücklich gegen die Verbote der akademischen Linken richten.
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