Im Kino

Das Schaf im Film

Die Filmkolumne. Von Patrick Holzapfel
15.07.2015. Es gab alles beim 33. Filmfest München, jede Art von Film. Bling-Ring und Cannes-Kunst, Warhol und neues deutsches Kino. Was fehlte, war der Maßstab.
Ein Mann erwacht in einer hellen Mondnacht in seinem von Schweiß durchtränkten Bett. Hufenschläge eines Pferdes hallen durch den Korridor. Ängstlich und ungläubig steht er auf und öffnet seine Tür: Im Nebenzimmer befindet sich tatsächlich ein Pferd. Nervös rennt es durch den Flur. Anderswo gackern wilde Hühner durch einen verwahrlosten Bauernhof und dienen als Sexpartner für einige sehr bizarre Brüder. Und dann gibt es da einen Mann und sein Schaf, dem er ein eigenes Zimmer in seinem Haus eingerichtet hat. Auf dem Boden liegt Heu, an der Wand hängt eine Uhr.

Wenn man ein Filmfestival besucht und darüber dann einen Abschlussbericht verfassen soll, begibt man sich immer auf die Suche nach Spuren und Trends, wiederkehrenden Motiven und auffälligen Beobachtungen. Das 33. Münchner Filmfest war voller solcher Spuren, aber keine wollte so recht zu einem Gesamtbild führen. Die oben genannten Szenen stammen aus drei Filmen, die in ihrer Unterschiedlichkeit für das fragmentarische Bild eines Festivals stehen können, bei dem man manchmal fast 45 Minuten von einem Kino (Münchner Freiheit) ins andere (Rio) braucht. Ein Festival ohne Zentrum: Dieses Bild trifft es ganz gut, denn auch das Programm ist in seiner Zusammenstellung ohne Kern, ohne Seele, aber mit dem spürbaren Bemühen, es allen Zuschauern Recht zu machen. Daraus resultiert das frustrierende Gefühl, dass es gleichzeitig alles und nichts gibt, dass Qualität bedeutungslos ist, dass Maßstäbe fehlen. Natürlich kann man das mit einem Kopfschütteln abhaken: Genug gute Filme gibt es trotzdem, irgendwo. Also warum aufregen?

Es folgt ein Bericht, der in sich selbst Spuren sucht, vielleicht keine findet und nichts über das Wetter oder den allgemeinen Zustand des deutschen Kinos sagen wird.



Das erste beschriebene Bild stammt aus dem Film "La tierra y la sombra" von César Acevedo. Das ist ein beeindruckender Film über die Machtlosigkeit einer Familie im Angesicht ihrer eigenen Armut und Sterblichkeit, der dem jungen, kolumbianischen Regisseur in Cannes den Preis für das beste Erstlingswerk einbrachte. Das Pferd, das sich durch das Haus bewegt, ist ein Tarkowski-Traum, voller Anmut, Größe und Schlichtheit. Alles in diesem Film ist immerzu symbolisch und doch realistisch. Der Film steht in einer Reihe mit einer Hand voll anderer Werke in München, die man zum Autorenfilm der Gegenwart rechnen kann, oder zur Locarno- und-vor-allem-Cannes-Fraktion.

Letztere fiel dieses Jahr für den Geschmack vieler etwas dünn aus, schließlich fehlten aus unterschiedlichen Gründen, die mit Vertrieben und Zweitpremieren zu tun haben, Filmemacher wie Hou Hsiao-hsien, Apichatpong Weerasethakul oder Philippe Garrel. Als Nebenfolge der fehlenden Handschrift des Festivals lamentiert man immerzu über das, was nicht gezeigt wird. Man ahnt, dass die Gründe nichts mit den jeweiligen Filmen selbst zu tun haben. Man kann es den durchweg motivierten und enthusiastischen Programmierern und Mitarbeitern, die vor den Filmen stets einige Worte sprechen, einfach nicht ganz abnehmen, dass es ihnen besonders am Herzen liegt, Pedro Costa zu zeigen, wenn sie zwei Stunden später dasselbe vor einem Screening mit Jean-Jacques Annaud verkünden. Aber vielleicht ist es besser, sich mit dem zu beschäftigen, was man tatsächlich sehen kann.

Neben Acevedo und Costa, der mit dem Hauptpreis in der Kategorie "Cine Masters" nach Hause ging (die Kategorien ergeben sich in München aus einem ununterscheidbaren Haufen beliebiger, sicherlich notwendiger Sponsoren, mein Favorit: "Andy Warhol presented by American Airlines"), gehörten zu den Autorenfilmen die "Arabian Nights"-Trilogie von Miguel Gomes, "El abrazo de la serpiente" von Ciro Guerra, "Tokyo Tribe" von Sono Sion, "Listen Up Philipp" von Alex Ross Perry, "Journey to the Shore" von Kyoshi Kurosawa, "Louder than Bombs" von Joachim Trier oder "Trois souvenirs de ma jeunesse" von Arnaud Desplechin. Wer jetzt durchatmet und überlegt, wie diese Filme zusammengehören, macht einen Fehler, denn wie Sono Sion in einer Videobotschaft vor dem Screening seines irrsinnigen Films verkündete, solle man am besten einfach ein Bier trinken und sich zurücklehnen. "Tokyo Tribe" ist der choreografierte Wahnsinn eines Hyper-Genremix. Ein Film, der so lange Spaß macht, bis er nervt. Ihn zu beschreiben wäre sinnlos.

Viel klassischer war der Film von Arnaud Desplechin. "Trois souvenirs de ma jeunesse" schleudert die Flüchtigkeit einer Jugend in einer rauschhaften Präsenz auf die Leinwand. Der Film ist voller Direktheit, Charme und proustianischen Gefühlen. Desplechin kehrt damit zurück zu seiner großen Form. Ein anderes magnum opus präsentierte der Portugiese Miguel Gomes. Eine erstaunliche große Anzahl an Zuschauern wagte den Marathon seiner Trilogie, in der märchenhafte Fiktionen auf mal satirischen, mal bewegenden Sozialrealismus treffen. Auch bei Gomes finden sich durch die Häuser schleichende Tiere (ich finde meine Spur wieder) - gleich zu Beginn stellt der Filmemacher selbst die Frage nach dem metaphorischen Potenzial solcher Tiere. Bezeichnenderweise flüchtet er kurz darauf vor seiner Filmcrew.

Währenddessen entdecke ich im kleinen Fahrradhof der City-Kinos einen toten Vogel auf dem Boden. Ich starre ihn ausdruckslos an wie in einem Bresson-Film (da seht ihr, was das Kino alles anrichtet). Wenig später kommt ein Mann - breite Schultern mit nach hinten gekämmten Haaren und einem weißen T-Shirt - auf mich zu. Er blickt sich verloren um und sieht mich etwas hilfesuchend an: "Is there a puff somewhere around?". Ich zögere… jetzt könnte mein Moment für einen grandiosen Kommentar auf den Zustand des Kinos an sich und alles Mögliche kommen - was würde Godard wohl antworten? Ich frage: "You mean … a puff? " - "Yes. " - "No, this is a cinema". Und wieder einmal wird das Kino gerade noch so gerettet.



Das zweite Bild mit Tieren stammt aus Anders Thomas Jensens "Men&Chicken", der für eine zweite Schiene auf dem Filmfest München stehen kann: Publikumsfilme mit ein klein wenig Anspruch als Verkleidung. In dieser mal mehr, mal weniger gelungenen Komödie harmoniert ein alt-eingespieltes Ensemble aus dänischen Größen (Mads Mikkelsen, Nikolaj Lie Kaas u.a.) in einer absurd-kranken Familienkonstellation wie man sie aus dem dänischen Kino kennt. In seinen besten Momenten, die eigentlich allesamt Mads Mikkelsen gehören, erreicht Jensen durchaus den abgründigen Humor seiner drei vorhergehenden Filme ("Blinkende Lichter", "Dänische Delikatessen" und "Adams Äpfel"). Allerdings krankt der Film an den Nebenfiguren und nicht jede Überzeichnung will gelingen. Mit den Tieren, die durch das Haus schleichen, passiert aber etwas - denn wir müssen feststellen, dass wir vielleicht selbst diese Tiere sind. Meine Spur durch das Festival erhält eine ganz neue Dimension. Da ich im Carl-Orff Saal des Gasteig meinen Rucksack gegen 2,30 Euro an der Garderobe abgeben muss, komme ich mir nicht sehr tierisch vor im Kino, aber wenn man genau hinsieht und beobachtet wie der gemeine Zuschauer sich in langen Projektionen wie "Arabian Nights" oder Ann Huis "The Golden Era" ernährt: da kommt durchaus das Tier in uns zum Vorschein. In letzterem bemerke ich einen älteren Herrn mit grauer Jacke, der kurz nach Beginn des Films durch die vorderen Sitzreihen huscht, er kann sich nicht entscheiden, will sich nicht hinsetzen.

Und dann fällt mir, ich hatte es verdrängt, die von American Airlines gesponserte Andy-Warhol-Hommage ein. Kunst und das Filmfest München: Das ist eine ambivalente Geschichte. Warhol ist absolut trendy, wenn man dem Filmfest glauben soll. Die wunderbare Festivaltasche (in ihr Geschenke über Geschenke), die coolen Sonnenbrillen auf den Plakaten und die erschreckende Programmierung von Filmen wie "Fight Club", "Spring Breakers" oder "The Bling Ring" als Begleitung zum Werk von Warhol machen das völlig klar. Es geht um vieles, aber nicht um Film. Es geht um Lifestyle, Starappeal und den größeren Kunst- und vielleicht Themenkontext des Mannes Warhol. Es geht, wie so oft hier, um den Verkauf (Besucherrekord wie überall! Das Kino lebt!). Erstaunlicherweise hat das niemanden davon abgehalten, die Filme von Warhol zu zeigen. In einem Screening von "The Velvet Underground and Nico" befinde ich mich endgültig im Zoo. Vielleicht haben die Zuschauer "Fight Club" erwartet? Bierflaschen rollen über den Boden, von Anfang an wird gemeckert und geredet, Handys gehen ohne Unterlass an, dumme Sprüche wollen Lacher empfangen. Es ist schwer erträglich und traurig. Ob jetzt der unangepasste Warhol das Tier im Haus des Filmfests ist oder eine solche Präsentation und ein solches Publikum Tiere im Haus von Warhol sind, würde ich gerne offenlassen. Das hilft aber auch nichts. Fakt ist, dass das Kino Tiere braucht, unvorhersehbar in ihren Bewegungen, gefährlich, wild, Instinkten folgend. Das Problem wird immer der Käfig sein, nicht das Tier. (Ich möchte allerdings betonen, dass ich diese Erfahrungen nicht in jedem meiner Warhol-Screenings machen musste.)

In der Kategorie "Publikumsfilme mit einer Prise Anspruch" konnte ich einige mittelmäßige Filme wie "Slow West" von John MacLean, "Sunrise" von Partho Sen-Gupta (eine etwas größere Prise Anspruch) oder "Poet on a Business Trip" von Ju Anqi an mir vorbeifliegen lassen. Aber jetzt muss ich mir den Zynismus verkneifen, denn schließlich mag ich ihn als Leser selbst nicht und außerdem ist nicht alles so furchtbar wie es dem einen oder anderen womöglich vorkommt. Das Filmfest München setzt auf eine möglichst breite Aufstellung. Neben zahlreichen Retrospektiven gibt es ein Mosaik des Weltkinos zu bestaunen und zusätzlich noch tolle Seitensektionen wie das Kinderfilmfest. Einerseits ist es ein Branchenfestival, andererseits werden dem Publikum viele Möglichkeiten geboten, mit den Filmemachern ins Gespräch zu kommen.



Und dann gibt es den deutschen Film. Während des Filmfests habe ich mich mit zwei Freunden getroffen. Einer ist Filmemacher und er sagte, dass das einzige interessante in München wohl die Sektion "Neuer Deutscher Film" wäre. Der andere, ein Cinephiler und Kinokenner der alten Schule, sagte mir, dass der größte Fehler wäre, sich in München (neue) deutsche Filme anzusehen. Ich habe es dennoch getan und das Schaf in der Wohnung stammt aus dem Film "Die Maßnahme" von Alexander Costea. Ein ordentlicher Film über eine Undercover-Ermittlung, der sich intensiv mit Fragen und Ambivalenzen von Schuld befasst. Formal geht der Film wenig über Thriller-Handwerk hinaus und trotz einiger schönen Momente will sich kein wirkliches Kinogefühl einstellen. Das Schaf im Film ist der einzige Freund des potenziellen Verbrechers, irgendwann wird es auch seine emotionale Schwachstelle. Tiere, die uns näher sind als Menschen. Das Kino bleibt ein Ort der Außenseiter, der Einsamen, vielleicht ist gerade daher diese disparate Programmgestaltung eine Wonne, ein Mekka für die wahren Drifter, die nicht wissen, was sie suchen und wie der Herr in "The Golden Era" zwischen den Stühlen stehen.

Zum Schluss sei eine positive Erscheinung innerhalb der Sektion "Neues Deutsches Kino" hervorgehoben: "Staatsdiener" von Marie Wilke, eine Dokumentation über die Ausbildung junger Polizisten in Sachsen-Anhalt. Ein Film über den Zweifel, der uns in unseren Überzeugungen heimsucht, wenn wir unsere Prinzipien mit anderen Prinzipien zur Deckung bringen müssen. In häufig ruhig beobachtenden Einstellungen fängt Wilke außergewöhnliche Szenen eines Berufsalltags ab, der sich für uns normalerweise nicht offenbart. Der Film entwirft eine Welt, in der aus Unsicherheit Sicherheit werden muss und in der die Schwierigkeit von Kommunikation umso mehr bewusst wird. In einer beeindruckenden Szene diskutieren die jungen Auszubildenden über die Ethik ihres Berufs und warum es immer wieder zu polizeilicher Gewalt kommt, wenn doch jeder von ihnen absolut dagegen ist. Zerbricht man irgendwann? Wenn die Studenten sich dem beruflichen Alltag stellen müssen, sieht man, warum jedes Ideal sich immer erst in der Realität beweisen muss.

Selbiges gilt natürlich auch für ein Filmfestival. Eine Seele oder Handschrift in der Programmierung und und eine filmpolitischen Positionierung sind Ideale, die sich gegen viele Anforderungen, Verpflichtungen und Einflüssen behaupten müssen. Allerdings ist auch das Kino ein Ideal und die Sehnsucht nach den Idealen des Kinos sollte auf jedem Festival spürbar sein. In München, einer Stadt, die sich nach vielen Jahren fast erschrocken an Fassbinder erinnert, gibt es derzeit keine dieser Sehnsüchte. 2015 ist aber eben auch kein Jahr mit 13 hellen Mondnächten, in denen wir aus unseren vor Schweiß durchtränkten Betten aufspringen, um im Kino zu träumen. Scheinbar sterben wir wie der kleine Vogel lieber in einem Hinterhof, der vielleicht zu einem Kino gehört, vielleicht zu einem Puff.