Efeu - Die Kulturrundschau

In eisiger Höhenluft

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23.02.2021. Schock in der Popmusik: Das französische Electro-Duo Daft Punk löst sich auf. Pitchfork erinnert an ihr unerschütterlichen Partymusik-Ethos, der Standard trauert um die Visionäre der Maskierung, ZeitOnline huldigt ihrer unglaublichen Lässigkeit. Die FAS fragt, wie viel Heidegger in Terence Malick steckt. Die SZ spürt der Verstörung des Miles Davis nach. Der Guardian versinkt in den Tiefen von Kandinsky Himmel- und Picassos Preußisch-Blau.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.02.2021 finden Sie hier

Musik



Ein schwerer Schlag für die Popkultur: Das Elektro-Duo Daft Punk hat gestern Nachmittag mit dem obigen Video - ein langer Ausschnitt aus dem 2007 von der Band vorgelegten Kunstfilm "Electroma" - seine Auflösung bekannt gegeben. Die beiden Musiker "waren als Band nicht nur Visionäre, was das Maskentragen betraf, Guy-Manuel de Homem-Christo und Thomas Bangalter zeichnen auch für zahlreiche große Stunden unter der Diskokugel verantwortlich", seufzt Amira Ben Saoud in einer ersten Meldung im Standard. "Abseits ihrer Singles inspirierten ihre visuelle Identität, ihr interstellarer Nimbus und ihr Partymusik-Ethos Generationen von Künstlern über Genregrenzen hinweg", schreibt Jazz Monroe auf Pitchfork.

Eine Ära geht zuende, schreibt auch Dirk Peitz auf ZeitOnline: "Wobei Bangalter und de Homem-Christo keine originäre Erfinder waren und nie welche wurden. Sie haben weder House noch Techno noch irgendeine andere Spielweise der Dance Music wirklich revolutioniert. ... Bangalter und de Homem-Christo programmierten vollkommen repetitive und musikalisch gar nicht mal besonders raffinierte Tracks, drehten aber unfassbar lässig an den Reglern."

Und ist es wirklich schon wieder acht Jahre her, dass wir alle zu diesem Hit tanzten? Nach den chaotischen Trumpjahren und der anhaltenden Pandemie wirkt das Stück wirklich wie aus einer völlig anderen Welt:



1964 durfte das Album "Miles in Tokyo" nur in Japan erscheinen, da Miles Davis mit seinem Tenorsaxofonisten Sam Rivers nicht gut konnte, schreibt Andrian Kreye in der SZ-Jazzkolumne. Jetzt liegt das Album auch hier offiziell als Vinyl vor und Kreye kann Davis schon ein bisschen verstehen: "Während sich Davis und die Rhythmusgruppe sehr einig sind, bringt Rivers die vier mit seinem ruppigeren Ansatz fast aus der Balance. Vor allem auf 'So What' hört man das. Fast doppelt so schnell wie im Original mit John Coltrane, bleibt Rivers bis zu seinem Solo außen vor, um dann die Freiheit der modalen Musik für einen Ausbruch in Atonalität und Überblasungen zu nutzen, der schon eine Vorahnung seiner Rolle als Treiber jenes radikalen 'Loft Jazz' gibt, mit dem er sich seinen eigentlichen Platz in der Musikgeschichte sicherte. Man spürt regelrecht, wie Rivers Miles Davis verstörte. Was nicht oft vorkam." Wir hören rein:



Und Gerald Felber begibt sich für die FAZ in den Werken von Johann Sebastian Bach bis John Cage auf die Suche nach Trost. Er spricht von Musik, "die sich vor uns zurückzieht", etwa Bachs "Kunst der Fuge", den späten Liszt, Beethoven oder Schostakowitsch. Und von Kaikhosru Sorabjis beängstigend abstraktem "Opus Clavicembalisticum", das kaum je gespielt wird: "Was natürlich auch schon an den äußeren Dimensionen dieser felsgebirgigen, in eisiger Höhenluft angesiedelten Klanglandschaft liegt - zwölf Teile mit zusammen mehr als vier Stunden Spieldauer, eingeschlossen eine Fuge mit drei und eine mit vier Themen von je einer halben Stunde." Ein Auszug zum Mitlesen:



Weitere Artikel: In der NMZ erinnert Reinhard Oehlschlägel daran, wie John Cage vor fünfzig Jahren das Komponieren hinter sich ließ. Max Nyffeler berichtet in der FAZ vom Auftakt der Musikfilmmesse Avant Première, wo sich resignative Stimmung kein bisschen breit machte.
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Kunst

Chris Ofili: Crowning of a Satyr (Blue), 2021. © Chris Ofili / Victoria Miro

Ganz und gar hingerissen ist Laura Cummings im Observer von der monochromen Schau "The Sky Was Blue the Sea was Blue and the Boy Was Blue" in der Galerie Victoria Miro mit Werken von Paula Rego, Chris Ofili, NS Harsha oder Chantal Joffe. Aber was für eine Farbe soll das überhaupt sein? "Das Altgriechische hatte kein Wort für Blau. Das Lateinische kam ihm mit seinem 'Caeruleus' näher, worauf das heutige englische Wort 'Cerulean' für Himmelblau zurückgeht. Einige keltische Sprachen unterscheiden nicht zwischen Blau und Grün, und die die Himba in Namibia nehmen es offenbar gar nicht wahr. Künstler, von denen man eigentlich eine offene Haltung erwartet, können seltsam dogmatisch sein. Für Renaissance-Maler musste der Mantel der Madonna Ultramarin sein. Picassos Preußisch Blau ist die Farbe der Trauer, während Kandinskys blasses Blau die transzendentale Unendlichkeit des Himmels bedeutet."

Weiteres: Harald Naegelis über ganz Zürich verstreuten Graffitis sind jetzt in einer Online-Hommage auf den "Sprayer von Zürich" zu sehen, freut sich Urs Bühler in der NZZ, der aber auch dringend einen Besuch in der Tiefgarage der ETH empfhiehlt, bevor Naegelis Höhlenmalerei der Grundsanierung zum Opfer fällt.  Das Centre Pompidou hat Google erlaubt, die Bibliothèque Kandinsky zu digitalisieren und per Algorithmus mit den Klangkompositionen von Antoine Bertin and Nsdos zu verbinden, berichtet Birgit Rieger im Tagesspiegel. Aber Achtung: "Ist man selbst kein Synästhet, kann einen dieses interaktive Experiment ganz schön kribbelig machen."

In der taz weiß Verena Harzer nicht, ob sie erleichtert oder entsetzt sein soll, dass den schwarzen FotografInnen des Kamoinge-Workshop im Whtiney Museum die erste Ausstellung gewidmet wird (mehr hier). Dass die Hamburger Kunsthalle mit Max Beckmanns "Selbstbildnis Florenz" von 1907 das teuerste Bild ihrer Geschichte ankauft, hält Till Briegleb in der SZ irgendwie doch auch für ein gutes Zeichen. In der FAZ erinnert sich der Kurator Karl-Heinz Luedeking an die Documenta IV von 1968 , die Luedeking zufolge auf "jeden unergründlichen Tiefsinn und allen faulen metaphysischen Zauber" verzichtete, um sich nicht als Erzieherin des Publikums aufzuspielen.

Besprochen werden die die letzte von Okwui Enwezor kuratierte Ausstellung "Grief and Grievances" im New Yorker New Museum, die schwarzes Leiden zum Thema hat (taz), die Online-Ausstellung "Rom und Neapel im Frühjahr 2020" in der Biblioteca Hertziana, die menschenleere Städte im Lockdown dokumentiert (SZ) und Nina Hoechtls "Delirio Güero" im Kunstraum Innsbruck (Standard).
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Literatur

Besprochen werden unter anderem Sharon Dodua Otoos "Adas Raum" (taz), Tove Ditlevsens "Kopenhagen"-Trilogie (Standard), Amanda Cross' Krimi "Die letzte Analyse" (FR), Miklós Szentkuthys "Apropos Casanova" (SZ) und Stanislaw Assejews "In Isolation. Texte aus dem Donbass" (FAZ).
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Bühne

Besprochen werden Stefan Bachmanns Kölner Inszenierung von Wajdi Mouawads "Vögel" in Split-Screen-Technik (SZ) und Calixto Bieitos klassische "Carmen"-Inszenierung, die jetzt an der Wiener Staatsoper gezeigt wird (Standard).
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Architektur

Im Tagesspiegel blickt Bernhard Schulz betrübt auf Berlins zugiges Kulturforum, für das sich auch zur anstehenden Wiedereröffnung der Neuen Nationalgalerie keine städtebauliche Lösung abzeichnet. In der SZ lässt Gerhard Matzig seine Gedanken von Putins Villa zu den Geschmacklosigkeiten deutscher Eigenheime und Baby Schimmerlos fliegen.
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Film

Einem amüsanten Gerücht geht Thilo Komma-Pöllath in einem online nachgereichten FAS-Artikel nach: Leoluca Orlando, heute der Bürgermeister von Palermo, will 1970 vor der Universität Freiburg mit Martin Heideggers us-amerikanischem Chauffeur ein Bier gezischt und in seinem Gegenüber Jahre später den New-Hollywood-Auteur Terrence Malick erkannt haben. Die Argumente sind nicht ohne Reiz: Bekanntlich war Malick vor seiner Filmkarriere Heidegger-Übersetzer und hielt sich einigen Weggefährten zufolge seinerzeit offenbar tatsächlich im Schwarzwald auf. Auch Malicks Filme selbst weisen Spuren ins Heideggerianische auf, lässt sich Komma-Pöllath vom Philosophen Clemens Schmalhorst bestätigen: Der Weltkriegsfilm "The Thin Red Line" spiele schon im Titel auf Heidegger an: "Der Mensch als einziges Wesen, das ein Gespür für den schmalen Grat zwischen Sein und Nichts habe. ... Aus der Perspektive eines Soldaten dekliniere er die existentiellen Grundfragen durch: Rückblenden voller Sehnsucht nach Intimität mit seiner Frau, flüsternde Voice-over-Passagen voller Lebensangst und der Ahnung, dass er seine Frau nie wieder in seine Arme schließen werde. 'Der Soldat wird auf diese Pazifikinsel geworfen wie der Mensch in das Leben, und er fängt an, dieses Leben von seinem Ende her zu betrachten. Er tut genau das, was Heidegger das Vorlaufen zum eigenen Tod nennt', sagt Schmalhorst."

Weitere Artikel: Die seit wenigen Tagen bei Disney+ online stehenden alten Muppets-Folgen werden nun auch vereinzelt mit Warnhinweisen zu rassistischen Stereotypen versehen, meldet Axel Weidemann in der FAZ. Dass es in den alten Muppets-Folgen weit mehr zu entdecken gibt als rassistische Klischees macht dieser schier endlose Videothread auf Twitter deutlich. Im Filmdienst würdigt Thomas Klein die vor hundert Jahren geborene Schauspielerin Giulietta Masina. Axel Weidemann begibt sich für die FAZ in Gedanken ins japanische Badehaus der Geister aus Hayao Miyazakis Animationsklassiker "Chihiros Reise ins Zauberland".

Besprochen werden Cathy Yans auf Mubi gezeigte chinesische Komödie "Dead Pigs" (Tagesspiegel), Andreas Hoesslis online beim Verleiher abrufbarer Dokumentarfilm "Der nackte König" (SZ, mehr dazu bereits hier), neue koreanische Serien auf Netflix (Zeit), die Amazon-Neuauflage der spanischen Serie "El Internado" (FAZ) und Alain Darborgs auf Netflix gezeigter Horrorthriller "Red Dot" (SZ),
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