Efeu - Die Kulturrundschau
Thronverzichte und Thronbesteigungen
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23.01.2021. In der taz stellt die Architektin Imke Woelk ihre Version einer umweltfreundlichen Bandstadt vor. In Saudiarabien ist etwas ähnliches schon im Bau, erzählt der Guardian, der außerdem an die Bandstadt des italienisch Kollektivs Superstudio von 1969 erinnert. Hyperallergic betrachtet in der Royal Academy das verbindende Elend in den Bildern von Tracey Emin und Edvard Munch. In der NZZ erinnert Karl-Markus Gauß an die Weltreisende Alma M. Karlin und ihre Reisegeschichten von unten. Die taz fragt, warum Amazon Sebastián Muñoz' explizit schwules Knastdrama "Der Prinz" aus seinem Programm gestrichen hat: Zuviel Gewalt oder zuviel Sex?
9punkt - Die Debattenrundschau
vom
23.01.2021
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Architektur


Bühne
Im Interview mit der nachtkritik zeigt sich Olaf Kröck, der Intendant der Ruhrfestspiele Recklinghausen, empört darüber, dass das Ruhrfestspielhaus von der AfD für eine Kreiskonferenz gemietet werden konnte. In der taz berichtet Jens Fischer vom Auftakt der Lessing-Tage am Hamburger Thalia Theater. Besprochen werden Claude Debussys "Pelléas et Mélisande", gestreamt aus dem Genfer Opernhaus (SZ), "Gespenster - Erika, Klaus und der Zauberer" des Theaterkollektivs Raum+Zeit, live gestreamt aus der Therese-Giehse-Halle der Münchner Kammerspiele (SZ)
Film

Stefan Hochgesand wundert sich in der taz, was das soll, dass Amazon Sebastián Muñoz' mit FSK 18 zwar angemessen eingestufte, queere, im Chile der Siebziger spielende Knastdrama "Der Prinz" sowohl in UK als auch in Deutschland komplett aus seine VoD-Programm genommen hat: Der Verdacht, dass es um die Zensur explizit gezeigter schwuler Sexualität geht, liege nahe. Klar ist der Film "scharfer Tobak. ... Der Alltag ist von Grausamkeiten der Gefängnispolizei, aber auch der Insassen untereinander geprägt - andererseits aber auch durch poetisch-zärtliche Szenen, die eine große Geborgenheit bebildern, die weit über quasimafiöse Loyalität hinausgeht. Und wir sehen expliziten schwulen Sex. In seiner Verquickung von Gefängnisgewalt mit Homosexualität erinnert 'Der Prinz' an Romane des französischen Schriftstellers Jean Genet, der selbst im Knast saß - und von dem faszinierten Jean-Paul Sartre gefeiert wurde." Im VoD-Angebot des Verleihers ist der Film weiterhin zu finden.
Artechock-Kritiker Rüdiger Suchsland liebt das Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken - für ihn eines der wichtigsten deutschen Filmfestivals, das immer wieder das Kino von morgen entdecken lässt. Umso mehr ärgert ihn die Rhetorik der Programmtexte, die vor allem politische Relevanz ventilieren. Um die Filme an sich gehe es da nicht, auch "nicht darum, warum der eine oder andere dieser Filme dem Kino irgendetwas Neues gibt, wo er es weiterbringt. Wir erfahren, was diese Filme mit dem Leitartikel einer x-beliebigen Tageszeitung zu tun haben" und "hören nur etwas über Relevanz. Und Relevanz wird komplett inhaltistisch gedacht, sie wird in Vokabeln von Politik-Redaktionen gedacht." Vor allem wünscht er sich bei soviel Kapitalismuskritik wenigstens eine Spur "Selbstkritik und Selbstreflexion" und würde "gerne lesen, wie es denn eigentlich zusammenpasst, dass ein Filmfestival, das diese Programmpunkte sehr in den Fokus rückt, in einem sehr wohl kapitalistischen Land und System veranstaltet wird, dass es zur Finanzierung Sponsoren hat, und Gelder aus der öffentlichen Hand, und zwar von einem CDU-regierten Bundesland und einer CDU-regierten Landeshauptstadt."
Weitere Artikel: Irene Genhart blickt für den Filmdienst auf den Fokus "Lob der Kritik" der Solothurner Filmtage. Für Artechock blickt Rüdiger Suchsland mit dem Kino auf Trump zurück. Im Standard schreibt Stephan Hilpold über die Lage der Filmverleiher, die anders als die Kinos keine Aussicht auf Coronastützen haben. Auf critic.de würdigt Robert Wagner die Filmemacherin Catherine Breillat. Nadine Lange schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf die Schauspielerin Mira Furlan.
Besprochen werden Ramin Bahranis auf Netflix gezeigte Verfilmung von Aravind Adigas Roman "Der weiße Tiger" (Presse, Standard, Zeit, FAZ) sowie die Comedy-SF-Serien "Star Trek: Lower Decks" und "Moonbase 8" (taz).
Musik
Harry Nutt (FR) und Jan Wiele (FAZ) gratulieren Neil Diamond zum 80. Geburtstag. Besprochen wird das neue Album von Kollegah, der laut SZ-Kritiker Jakob Biazza "Kendgültig zu seiner eigenen Nummernrevue geworden" ist, "eine Art Hantelbank-Haftbefehl also."
Literatur

In einem großen Text in der NZZ erinnert Karl-Markus Gauß an die Reiseschriftstellerin Alma M. Karlin, die in ihrer Kindheit darunter zu leiden hatte, dass ihre Eltern mit ihrem Aussehen nicht zufrieden waren und sie mit Verschönerungsprogrammen traktierten. 1919 schließlich brach sie "zu ihrer Weltreise ohne jede finanzielle Sicherheit auf, einzig darauf vertrauend, das Überlebensnotwendige überall in der Welt als Sprachlehrerin oder Dolmetscherin verdienen zu können. Sie reiste im Unterdeck der Schiffe, in der dritten Klasse von Zügen, hatte keine Adressen von wohlhabenden Leuten bei sich, an die sie sich in der Not würde wenden können, litt große Entbehrung, mitunter sogar Hunger, und verfasste, man könnte sagen, Reisegeschichten von unten."
Weitere Artikel: Hannes Hintermeier schreibt in der FAZ einen Nachruf auf die Lyrik-Mäzenin Ursula Haeusgen. Martin Jurgeit schreibt im Tagesspiegel zum Tod des Comicautors Jean Graton. Im literarischen Feature für Dlf Kultur befasst sich Sabine Voss mit Schriftstellern, die in der Unterschicht aufgewachsen sind. In der Literarischen Welt erinnert sich Michael Krüger an seine Zeit als Buchhändler bei Harrods in den 60ern.
Besprochen werden unter anderem Bernardine Evaristos "Mädchen, Frau etc." (taz), Raphaela Edelbauers Science-Fiction-Roman "DAVE" (ZeitOnline), Tarjei Vesaas' "Die Vögel" (FR), Sorj Chalandons "Wilde Freude" (SZ), Thomas Wagners Studie "Der Dichter und der Neonazi" über die sonderbar anmutende Brieffreundschaft zwischen dem jüdischen Lyriker Erich Fried und dem Neonazi Michael Kühnen (SZ), Seweryna Szmaglewskas "Die Frauen von Birkenau" (Literarische Welt), Margaret Laurence' "Der steinerne Engel" (NZZ) und Hans Christoph Buchs "Robinsons Rückkehr" (FAZ).
Kunst

Katja Thorwarth unterhält sich für die FR mit dem Offenbacher Künstler Jos Diegel über eine Kollektiv-Kunstaktion im Kunstverein Montez und über die Systemrelevanz von Kunst, eine Vorstellung, die Siegel ablehnt, weil "Systemrelevanz viel zu stark verbunden ist mit einer ökonomischen Relevanz. Das liegt wiederum daran, dass man Sofort- und Überbrückungshilfen nur bekommt, wenn man seine ökonomische Relevanz nachweisen kann. Tatsächlich drängt sich mir jedoch der Gedanke auf, dass das Buhlen um diese Auszeichnung die Gefahr der Fremdbestimmung birgt. Selbstverständlich ist es wichtig, dass die Arbeit von Freien Künstler:innen und Kulturinstitutionen erhalten bleibt. Dafür braucht es auch staatliche Hilfen. Gleichzeitig sehe ich einen Widerspruch, wenn sich freie, und unter Umständen systemkritische Kunst und Kultur als systemrelevant etikettiert. Denn eigentlich fallen alle freien Tätigkeiten, die unabhängig und nicht der ökonomischen Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit zuzuschreiben sind, aus dem Raster heraus."
Weiteres: Die taz bringt einen kurzen Text von Laurie Anderson über Julian Schnabel, ein Auszug aus dem Taschen-Band "Julian Schnabel". In Hyperallergic erzählt der Kunstkritiker David Carrier von seiner Begegnung mit dem italienischen Künstler Francesco Polenghi. In einem kurzen Interview mit der SZ erklärt der Bildhauer Gereon Krebber, warum er gern im Impfzentrum ausstellt: "Ich sage immer: Gegebenheiten sind Gelegenheiten."
Besprochen werden Installationen der Medienkünstlerin Naho Kawabe im Hamburger Off-Raum "nachtspeicher23", die man durchs Schaufenster betrachten kann (taz), eine Ausstellung des Fotografen Irving Penn in der New Yorker Pace Gallery (Guardian), zwei New Yorker Ausstellungen mit Bildern des Malers Wood Gaylor (NYT) und eine Neuausgabe von Grete de Francescos Buch "Die Macht des Charlatans" (FAZ).
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