Efeu - Die Kulturrundschau

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19.10.2020. Der Guardian wandelt im Prado durch eine Galerie grandioser Frauenverachtung. FAZ und Freitag bangen um die Kinos, die von der zweiten Coronkrise schwer getroffen werden dürften. Die NZZ stemmt sich gegen eine Literatur der Wahrhaftigkeiten. Der Standard fragt, welchen Platz Frauen in der Lyrik haben. Und der Fischer Verlag trennt sich von Monika Maron, erzählt sie in einem Interview in Welt am Sonntag.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.10.2020 finden Sie hier

Kunst

María Roësset Mosquera: Full Body Self-portrait, 1912. Bild: Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid

Als wahre Wohltat erlebt Guardian-Kritiker Sam Jones Maria Roëssets "Selbstporträt", mit dem die Ausstellung "Invitadas" im Madrider Prado ihre BesucherInnen entlässt. Bis dahin musste er an einer grandiosen Reihe von eitlen, wahnsinnigen oder nackten Frauen entlang Doch die selbstkritische Ausstellung, die das Frauenbild der spanischen Kunstgeschichte in den Blick nimmt, stößt nicht nur auf Zustimmung, wie Jones berichtet: "Einige Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen warfen dem Museum vor, eben die Frauenverachtung zu spiegeln, die es vorführen will, indem es sich auf Arbeiten von Männern fokussiert, anstand die von Frauen hervorzuheben. 'Es ist das erste Mal, dass der Prado überhaupt die Frage nach Künstlerinnen im 19. Jahrhundert aufkommen lässt, aber es geschieht von einem misogynen Blickwinkel und reproduziert ihn, sagt die Kunsthistorikerin Rocío de la Villa: 'Es hätte darum gehen müssen, Künstlerinnen zu entdecken oder wiederzuentdecken.' Für sie ist die Ausstellung eine verpasste Gelegenheit."

Maurizio Cattelan: Ohne Titel, 2007. Foto: Gerald Ulmann / Kunstmuseum Stuttgart
Die weiße Museumswand ist mehr als nur eine architektonische Notwendigkeit, wie FAZ-Kritikerin Katinka Fischer in der Schau "Wände/Walls" im Kunstmuseum Stuttgart eindrucksvoll vor Augen geführt bekommt. Es ist auch die Mauer, an der sich KünstlerInnen immer wieder abgearbeitet haben: "Eine destruktive Geste anderer Art manifestiert sich bei Monica Bonvicini. Von zotigen Comics begleitete Zitate auf den Innenwänden eines grauen Containers belegen, dass Le Corbusier, Leon Battista Alberti und andere altvordere Architektur-Autoritäten doch tatsächlich zwischen männlichen und weiblichen Eigenschaften von Wänden unterschieden. Die Wut der Künstlerin über diese Haltung dokumentieren wie mit der Axt in die Rigips-Wände gehauene Löcher."

Besprochen werden außerdem die von Künstler Mischa Kuball konzipierte kritische Ausstellung zu Emil Nolde in der Draiflessen Collection in Mettingen (taz), die Ausstellung "disturbance:witch" im ZAK Spandau (Tsp) und der Bildband "Divided We Stand" der Schweizer Fotografen David Braschler und Monika Fischer (Intellectures).
Archiv: Kunst

Literatur

Der S. Fischer-Verlag will nicht länger Monika Maron verlegen. Anlass war wohl, dass Maron neben dem noch bei Fischer erschienen Roman "Artur Lanz" einen Essayband bei ihrer langjährigen Freundin Susanne Dagen veröffentlicht hat, einer Dresdner Buchhändlerin, die zur neurechten Szene gerechnet wird. In der Welt am Sonntag sagt Maron im Interview mit Susanne Gaschke: "Nach vierzig Jahren, von denen 38 glücklich und erfolgreich waren. 38 Jahre, in denen ich mich im Verlag, der auch in schwierigen Zeiten immer zu mir gehalten hat, wirklich beheimatet gefühlt habe, wofür ich zutiefst dankbar bin. Mein Lektor war beauftragt, mir die Nachricht von meinem Rausschmiss telefonisch zu übermitteln, vermutlich er, weil wir ein sehr gutes Verhältnis zueinander hatten. Als Autorin bin ich nun heimatlos, was mit 79 Jahren durchaus eine Frage der Existenz ist."

Die Feuilletons diskutieren Fragen von Literatur und Identität: Von Generalzuständigkeiten in der Literatur qua Herkunft und sozialer Position hält Paul Jandl in der NZZ nichts: "Literatur ist kein identitätspolitisches Bestätigungsmedium. Wahrscheinlich bestätigen wirklich gute Romane überhaupt nichts, sondern sie sind ein Ort produktiver Verunsicherung. Produktiv insofern, als sie Identitäten auflösen, um sie neu zusammenzusetzen oder sie in neuen Räumen freizusetzen. Wäre Literatur nur ein Katalog von Wahrheiten oder, um es moralisch zu sagen: Wahrhaftigkeiten, dann wäre sie gar nichts mehr."

Kanonisiert werden in der Lyrik sonst eher Männer als Frauen, meint die Anthologistin Anna Bers im Standard-Gespräch nach dem Literaturnobelpreis für Louise Glück: "Was wir heute an Lyrik für bewahrenswert halten, entspricht im Grunde immer noch Kriterien der Goethezeit: lyrische Lyrik in der Tradition von Erlebnis und Subjekt. Genau da waren Frauen aber lange nicht vorgesehen, weil sie in der Subjektkonzeption früherer Zeit keine Genies sein konnten. Wenn sie also lyrisch schrieben, konnten sie nur Epigoninnen sein, aber nicht selbst erfinden." Außerdem klagt Ronald Pohl ebenfalls im Standard nach den teils etwas verschnupften Reaktionen auf die Auszeichnung für Louise Glück, wie wenig Gespür für Lyrik selbst im Feuilleton noch zu finden ist.

In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur "vermitteln immer mehr Autoren in ihrem Werk ein Bild des Maskulinen, das sich von toxischer Männlichkeit abgrenzt", ist Christian Baron vom Freitag aufgefallen und verweist insbesondere auf Romane von Bov Bjerg, Thomas Melle, Arno Frank, Lukas Rietzschel, Saša Stanišić und Cihan Acar. Diese Autoren "setzen Trends, und darum fallen auch jene auf, die sich der neuen Männlichkeit sattsam verweigern. Einige von ihnen haben ihre Absage als Marktnische entdeckt. Seit dem Beginn des Jahrtausends nimmt beispielsweise der Schriftsteller Thomas Glavinic dankbar die Rolle als schreibende Abrissbirne wahr."

Weitere Artikel: Die digitale Frankfurter Buchmesse ist zu Ende gegangen. Gerrit Bartels vom Tagesspiegel hat angesichts der ganzen Streams, aber auch angesichts der Buchmessen-Nostalgie der Kollegenschlechte Laune bekommen: Aber "schon der Frankfurter Fußballphilosoph Dragoslav Stepanovic wusste: 'Lebbe geht weider.' Wie war also die Messe 2020? Ach, sie war nicht wirklich, und digital brauchte man sie so gar nicht. Und wie sehr 'Lebbe' weidergeht, wird man nächstes Jahr merken." In der taz fasst Ulrich Gutmair die letzten Tage zusammen. Die FAZ meldet, dass der Michael-Althen-Preis für Kritik in diesem Jahr an Mareike Nieberding für ihr im SZ-Magazin erschienenes Porträt der Schriftstellerin Alice Zeniter geht.

Besprochen werden unter anderem Don DeLillos "Die Stille" (FAS), Christine Wunnickes "Die Dame mit der bemalten Hand" (Standard), Bov Bjergs "Serpentinen" (Standard), die deutsche Erstveröffentlichung von Karl Ove Knausgårds Debütroman "Aus der Welt" von 1998 (Berliner Zeitung), Ingeborg Villingers Biografie über Gretha Jünger (NZZ), Santiago Amigorenas "Kein Ort ist fern genug" (FR), neue Krimis von Augustus Rose und Karsten Stegemann (Berliner Zeitung), der Sammelband "Vom Mut, menschlich zu bleiben" (Freitag), Elisabeth Edls Übersetzung von Gustave Flauberts "Éducation sentimentale" (SZ) und neue Hörbücher, darunter die Aufnahme des Gesprächs, das Paul Asall vor 30 Jahren mit Marcel Reich-Ranicki geführt hat (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Matthias Weichelt über Tuvia Rübners "Gedichte schreiben":

"Im Alter von neunzig Gedichte zu schreiben ist mühselig
der Körper erliegt der Schwerkraft und die Augen triefen.
Die Kraft der Erfindung ist erschöpft..."
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Design

Für die FAS plaudert Friederike Haupt mit dem Möbeldesigner Wulf Schneider, der in den Neunzigern das "Blaue Sofa" entworfen hat, auf dem zu jeder Buchmesse Journalisten und Autoren Platz nehmen.
Archiv: Design
Stichwörter: Möbeldesign

Film

Herbst, Winter und die zweite Coronawelle könnten für die Kinos richtig hart werden, schreibt Bert Rebhandl in der FAZ: Dass die Kinos keine Superspreader sind, sei durch Studien belegt, von daher sollte die Politik nun jene "Kapazitäten gewährleisten, die einer ganzen Branche einen realistischen (und dabei wohl doch verantwortlichen) Minimalbetrieb erlauben." Rund 60 Prozent weniger Umsätze dürften die hiesigen Kinobetreiber in diesem Jahr einfahren, hat Barbara Schweizerhof für den Freitag in Erfahrung gebracht. Von einer "Schließungswelle" ist der Betrieb bislang verschont geblieben. Jetzt könnte sich ein Blick nach Frankreich lohnen, schreibt sie: "wo heimische Produktionen gerade einen Boom erleben. Frankreichs Ersatzprogrammierung für Bond ist deshalb die heiß erwartete, fiktionalisierte Lebensgeschichte von Céline Dion, 'Aline'. Um Ähnliches fürs deutsche Kino zu erreichen, drängen die Betreiber weiter auf vereinheitlichte, weniger strenge Regelungen; statt des vorgegebenen 1,5-Meter-Abstands soll etwa erlaubt werden, jeden zweiten Platz zu belegen - mit Maskenpflicht während der Vorstellung."

Netflix-Dokus liegen im Trend, manche feiern den Online-Fernsehsender sogar schon als neuen Heilsbringer für dokumentarische Formen. Aber die Dokus sind schon auch ziemlich formelhaft und reden oft lange um den heißen Brei, ganz einfach um Strecke zu machen, schreibt Jan Füchtjohann in der SZ. Inhaltlich redaktionell arbeitet Netflix allerdings kaum: "Filmemacher berichten, dass Netflix bei der Abnahme in erster Linie auf 'Key Visuals' achtet, also auf die Trailer und Teaser, die Abonnenten zu den Angeboten des Dienstes verführen sollen. ... 'Rohwedder' verspricht Killer, Kommunismus, Vintage-Politiker, Todesspritzen, die RAF, Explosionen, Stasi, Kapitalismuskritik und Deep-State-Geraune. Die Bild-Zeitung ist öde gegen das, was Netflix zu bieten hat."

Weitere Artikel: Cornelia Geißler hat für die Berliner Zeitung ein großes Gespräch mit Moritz Bleibtreu geführt. In der Zeit empfiehlt Georg Seeßlen die Retrospektive "Recycled Cinema" der Viennale, in der es um einen experimentellen Zugriff auf den Fundus der Filmgeschichte geht. Zu sehen sind unter anderem die ziemlich aufregenden Arbeiten von Peter Tscherkassky (hier Sven von Redens Dokuporträt, das einen Blick in Tscherkasskys buchstäbliche Werkstatt gestattet). Ein Beispiel:



Besprochen werden Carmen Losmanns Dokumentarfilm "Oeconomia" (taz, Freitag, weitere Kritiken hier), die via Sky gezeigte Serie "I May Destroy You" (taz), Aaron Sorkins auf Netflix gezeigtes Gerichtsdrama "The Trial of the Chicago 7" (FAZ, mehr dazu hier) und Marguerite Duras' "India Song" von 1975, den Arte derzeit im Onlineangebot hat (SZ).
Archiv: Film

Bühne

Besprochen werden Benedikt von Peters Inszenierung von Olivier Messiaens Heiligenoper "Saint François d'Assise" in Basel (die zum Bedauern von NZZ-Kritiker Georg Rudiger gegliche Wärme oder spirituelle Dimension verweigert), Johanna Wehners Inszenierung von Euripides' "Medea" am Staatstheater Kassel (die Nachtkritiker Max Florian Kühlem als "anregendes, körperliches, psychologisches Sprech- und Diskurstheater" empfiehlt), Milo Raus "Everywoman" mit Ursina Lardi an der Berliner Schaubühne (Tsp, Nachtkritik), Henry Masons Musical-Version der "Zauberflöte" an der Wiener Volksoper (Standard), eine Tanzabend des Hessischen Staatsballetts mit Stücken von Sharon Eyal und Alexander Whitley (FR), das Stück "Zur Wartburg", mit dem das niederländische Theaterkollektiv Wunderbaum am Theaterhaus Jena die Geschichte der berühmten Eckkneipe rekonstruiert (FAZ).

Gaby Hartel weist in der taz darauf hin, dass der WDR ab heute Abend Christoph Schlingensiefs Hörspiele und Radiogespräche wiederholt und im Anschluss online stellt.
Archiv: Bühne

Musik

Wolfgang Herles poträtiert im Freitag Valery Gergiev, den insgesamt sehr streitbaren Dirigenten der Münchner Philharmoniker. Schmeichelhaft ist das gallige Porträt nicht durchweg: Gergiev erscheint als Günstling von Putins Gnaden und Hans Dampf in allen Gassen. Er "wird überall gebraucht, er kann nur nicht überall sein, obwohl er sich nach Kräften bemüht. Er leitet auch Festivals in Holland, Japan, in der Schweiz. Er dirigiert nicht nur regelmäßig an den wichtigsten Opernhäusern der Welt, in New York, in London, in Wien, sondern herrscht nach acht Jahren an der Spitze des London Symphony Orchestra seit fünf Jahren auch über die Münchner Philharmoniker. Der Vertrag wurde bis 2025 verlängert. Die Gage soll obszön sein. ... Was ihm vor allem fehlt, ist Zeit. Dass er nicht rechtzeitig erscheint, ist an der Staatsoper in Wien zweimal kurz hintereinander vorgekommen. Gage und Spesen wurden ihm gestrichen. Diese Sprache versteht der polyglotte Gergiev am besten. Probenfleiß ist nicht seine Sache. Assistenten erledigen weitgehend den Job."

Weitere Artikel: In der SZ spricht der Veranstalter Marek Lieberberg über die Auswirkungen der Coronakrise auf seine Branche. Olaf Maninger fehlt das Konzertpublikum im Saal, verrät der Cellist der Berliner Philharmoniker dem Tagesspiegel. Nadine Lange trifft sich für den Tagesspiegel mit der Indierock-Band The Screenshots. Corina Kolbe bedankt sich in der NZZ bei der Cartoonfigur Schroeder von den Peanuts für 70 Jahre Vermittlungsarbeit in Sachen Beethoven.

Besprochen werden Sophy Roberts' Buch "Sibirens vergessene Klaviere" (Standard) und Curtis Waters' "Pity Party" (ZeitOnline).
Archiv: Musik