Efeu - Die Kulturrundschau

Wohnort eines unerklärlichen Einzellers

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20.11.2019. Als Kathedrale des Gewesenen feiert die Welt Erich Korngolds Oper "Die tote" Stadt", die Simon Stone und Kirill Petrenko in einer umjubelten Inszenierung  in München auf die Bühne brachten. Der SZ eröffnen sich in einer großen Ausstellung im Düsseldorfer Kunstpalast die stilistischen Gräben der DDR-Kunst. Die taz kann dem Museum der Moderne auch Gutes abgegewinnen. Der Guardian stöbert in Disneys Giftschrank. Und Prishtina Insight berichtet, wie die Schwedische Akademie den Nobelpreis für Peter Handke gegenüber den Bosniern rechtfertigt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.11.2019 finden Sie hier

Kunst

Cornelia Schleime: o.T., 1986, © Cornelia Schleime, Foto: Eric Tschernow

Als echte Pionierleistung feiert Alexander Menden in der SZ die erste westdeutsche Ausstellung von DDR-Kunst im Kunstpalast in Düsseldorf. "Utopie und Untergang" zeige neben den Staatskünstlern Willi Sitte, Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke auch Cornelia Schleime oder A.R. Penck : "Manchmal lohnt es sich, bei Gemälden zunächst aufs Material zu schauen, und dann erst auf Motiv und Ausführung, wenn man etwas Grundlegendes über ein Kunstwerk erfahren möchte. Betrachtet man ... etwa Willi Sittes fleischiges Großformat 'Drei Akte mit Früchten', und gleich danach Angela Hampels poppige 'Judith' mit einem starrenden Holoferneskopf auf dem Teller, dann fällt neben der Tiefe des stilistischen Grabens vor allem auf: Da standen dem einen in einer Mangelwirtschaft alle Mittel zur Verfügung; die andere nahm zum Malen, was da war. Hampel malte ihre nachdenkliche Judith nicht auf Leinwand, sondern auf ein Papierrollo."

Im Guardian empfiehlt Sean O'Hagan die Dora-Maar-Schau in der Tate Modern, in der die Kreativität der Surrealistin und Fotografin ihre Beziehung zu Picasso weit in den Schatten stelle.
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Bühne

Marlis Petersen und Jonas Kaufmann in Erich Korngolds "Die tote Stadt" an der Bayerischen Staastoper. Foto: Wilfried Hösl

Eine "Kathedrale des Gewesenen" sieht Manuel Brug in Erich Korngolds Oper "Die tote Stadt" von 1920, ein Werk, das "Avantgarde und feinsten Kitsch" sehr mitreißend verbinde. Schön also, dass die Bayerische Staatsoper jetzt Wiedergutmachung leistet an dem in Vergessenheit geratenem Werk des jüdischen Emigranten, findet Brug, mit einer dezidiert nüchternen Inszenierung von Simon Stone und Jonas Kaufmann in der Hauptrolle: "Zumal dieses süchtig machende Gebräu vom Tonmischmeister Kirill Petrenko so fein wie intelligent dosiert wird. Petrenko versagt dieser gern sirupsüßklebrigen 'Toten Stadt' die Himbeersoße. Härtet mit gewohnter Präzision die überinstrumentierten Klanggewitter, raut auf, gibt sich ruppig. Das Blech regiert sehr häufig, nicht der Streicherkunsthonig. Struktur kommt so rein. Die durchaus visionäre Partitur bekommt etwas Bösartiges, Fieses. Anderseits fehlt es nicht an morbidem Flimmern und zärtlicher Ekstase."

Überragend findet auch Marco Frei die Leistung von Dirigent Kirill Petrenko: "Statt in die Larmoyanz-Falle zu tappen, hat Petrenko die überbordende Partitur des erst 23 Jahre alten Wunderkindes Korngold radikal entschlackt. Mit dieser Reduktion legt er eine stille Intimität frei, die zwar vom Komponisten gewollt und vom Notentext gedeckt ist, aber viel zu selten so klar herausgearbeitet wird." Auch Stephan Mösch ist in der FAZ hin und weg von so viel "perhorreszierendem Innenglanz": "Eine späte Jugendstilranke, narkotisierend, narzisstisch, vollgesogen mit melancholischer Schönheit, strotzend von üppig aufgeschichteten Akkorden, an denen Quinten und Quarten hängen wie überreife Trauben." Nur in der SZ hadert Reinhard Brembeck mit dem Frauenbild, das er ebenso wie die Musik sehr 19. Jahrhundert findet. Der Inszenierung will er das aber nicht vorwerfen: "Der ganze, tosend umjubelte Abend ist lebendige Musikgeschichte."

Weiteres: In der Berliner Zeitung erinnert Doris Meierhenrich daran, dass uns der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann vor zwanzig Jahren das postdramatische Theater bescherte.

Besprochen werden Luk Percevals Inszenierung von Eugene O'Neills Privatexorzismus "Eines langen Tages Reise in die Nacht" am Schauspiel Köln (SZ), Chaya Czernowins Oper "Heart Chamber" an der Deutschen Oper in Berlin (taz) und Robert Ickes Inszenierung von Tschechows "Iwanow" in Stuttgart (FR).
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Architektur

Endlich macht die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ein bisschen Stimmung für den als "Scheune" verschrienen Entwurf des Museums der Moderne, schreibt Susanne Messmer in der der taz, die nach einem Vortrag des Architekten Pierre De Meuron recht eingenommen ist. Ihr gefällt vor allem, wie der Bau mit dem zugigen Platz umgehen soll, auf dem es stehen soll: "Das Museum der Moderne, das am besten bis spät in die Nacht geöffnet sein soll, wird über viele eintrittsfreie Bereiche verfügen, wo sich die Menschen treffen können wie im öffentlichen Raum. Es soll Boulevards und Treppen mit Sitzbereichen erhalten, die sich abends in Amphitheater für Konzerte, Theaterabende, Diskussionsveranstaltungen verwandeln können. Zur Neuen Nationalgalerie führt nicht nur ein unterirdischer, aber trotzdem bespielter und lichtdurchfluteter Boulevard, auch kann sich die Scheune in diese Richtung mit großen Toren öffnen. Das Leben auf der Straße kann hineinschwappen und das, was drinnen passiert, auch das Draußen verändern." In der Berliner Zeitung zeigt sich Nikolaus Bernau von der Veranstaltung, bei der die Kritiker nicht mit auf dem Podium saßen, weniger überzeugt: "Ausdiskutiert ist noch nichts."
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Design

Sabine von Fischer wirft für die NZZ einen Blick ins Programm in die Zürcher Designmesse Blickfang.
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Literatur

Die Nobelpreis-Entscheidung für Peter Handke sorgt nach wie vor Streit. Von den hiesigen Feuilletons so gut wie gar nicht wahrgenommen wurde, welche Empörung sie etwa in Bosnien oder auch im Kosovo auslöste.  So hat Mehmet Kraja, Vorsitzender der Akademie der Wissenschaften und Künste des Kosovo beim Nobelpreiskomitee protestiert - und eine höfliche Antwort erhalten, die gestern auf der englischsprachigen Website Prishtina Insight zitiert wurde. "In ihrer Antwort schrieb die schwedische Akademie: 'Die Ambition bei der Auszeichnungen Handkes mit dem Preis ist die Würdigung seines außerordentlichen literarischen Werks, nicht der Person', und ergänzte, dass  'Raum für verschiedene Meinungen' über Autoren in einer offenen Gesellschaft sein müsse." Kraja hatte bereits in einem Text für die Washington Post protestiert. Eine ähnliche Antwort wie Kraja erhielt auch die bosnische Autorenvereinigung - sie wird auf Twitter zitiert.

Auf der Website des Goethe-Instituts kommt Dana Buchzik nochmals auf "Miroloi" zu sprechen, Karen Köhlers im Vorfeld der Vergabe des Deutschen Buchpreises teils harsch kritisiertes Romandebüt, das sie als besonderes Buch würdigt. Doch "eine drastische Schilderung von systemisch verwurzelter Gewalt gegen Frauen und, mehr noch, die Selbstermächtigung unterdrückter Frauen scheint für die konservative Riege des deutschsprachigen Feuilletons eine Provokation darzustellen", glaubt Buchzik und vermutet systemischen Charakter: "In allen Medien (mit Ausnahme von Frauenzeitschriften) werden männliche Autoren häufiger (Verhältnis 2:1) und ausführlicher besprochen. Kritiken werden überwiegend von Männern (Verhältnis 4:3) verfasst; Männer schreiben überwiegend über Männer - und bekommen dafür auch deutlich mehr Platz." Man muss allerdings auch sagen, dass in der überregionalen Presse vier von sieben Kritikern des Buchs weiblich waren.

Weiteres: Oliver vom Hoves schreibt im Standard über die Schriftstellerin Mary Ann Evans, die unter dem Namen George Eliot bekannt wurde.

Besprochen werden Joshua Cohens "Auftrag für Moving Kings" (NZZ), die in Frankreich veröffentlichten, bis dahin nicht zugänglichen Kurzgeschichten Marcel Prousts (Tagesspiegel), Martin Walsers "Mädchenleben" (online nachgereicht von der Literarischen Welt), Renate Feyls "Die unerlässliche Bedingung des Glücks" (FR), Mathias Jeschkes Gedichtband "Ich bin der Wal deiner Träume" (Dlf Kultur), neue Gedichtbände von Levin Westermann und Kurt Aebli (NZZ), die Comics "Captain Berlin" und "Austrian Superheroes", die einen augenzwinkernd europäischen Blick auf den Superheldenmythos werfen (taz), Dirk Stermanns "Der Hammer" (SZ) und Nadine Schneiders "Drei Kilometer" (FAZ).
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Film

Nostalgische Sehnsucht nach der Sklavenzeit: Disneys Giftschrank-Film "Onkel Remus"

Disney verfügt über eine ansehnlich tiefe Backlist, mit dem es seinen neuen Streamingdienst Disney+ füllen kann - allerdings führt dies auch direkt zu den filmhistorischen Werken, die dem heute zumindest auf der Leinwand sehr um Diversity bemühten Konzern politisch so peinlich sind, dass sie Warnhinweise vorangestellt bekommen, ihre "kulturellen Darstellungen" könnten nicht mehr zeitgemäß sein, schreibt Scott Tobias im Guardian. Den Animations- und Realszenen mischenden Film "Onkel Remus' Wunderland" aus dem Jahr 1946 behält Disney heute trotzdem lieber unter Verschluss: Der in den Südstaaten spielende Film "schlägt einem wirklich hart auf den Magen" in seiner Nostalgie nach jener Plantagenzeit, als es noch "harmonische Hierarchien zwischen Ethnien" gab, so Tobias. Der Podcast You Must Remember This befasst sich aktuell auch ausgiebig mit dem Film, findige Zeitgenossen haben den Film von einer alten 35mm-Kopie digitalisiert.

Weiteres: Im Tagesspiegel berichtet Eberhard Spreng von der eskalierenden Debatte um #MeToo und Roman Polanski in Frankreich. Keira Knightley spricht auf ZeitOnline über ihre Rolle als Whistleblowerin Katharine Gun in dem Drama "Official Secrets". In der NZZ schreibt Daniele Muscionico über Yul Brynner.

Besprochen werden Noah Baumbachs für Netflix gedrehtes, kurzzeitig in die Kinos kommendes Scheidungsdrama "Marriage Story" mit Scarlett Johansson und Adam Driver (SZ, Tagesspiegel), die Amazon-Serie "Modern Love" mit Ann Hathaway und Gary Carr (FR), der neue Disney-Animationsfilm "Die Eiskönigin 2" (FAZ) und die deutsche, von Netflix produzierte Weihnachts-Miniserie "Zeit der Geheimnisse", die FAZ-Kritiker Oliver Jungen staunen lässt, wie der Streamingdienst "unserem öffentlich-rechtlichen Fernsehen jetzt vormacht, welches Niveau die kleine Fiktion erreichen kann, wenn man ihr nur genug Freiheit lässt."
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Musik

Beim Björk-Konzert in Luxemburg fällt die Essayistin und Dramatikerin Enis Maci schier ins psychedelisch-ekstastische Delirium, so eine schöne Wucht entwickelt die Darbietung: "Die Bühne ist eine grelle Umarmung, eigentlich aber: Wohnort eines unerklärlichen Einzellers, der weder Pflanze noch Tier ist", schreibt sie in der SZ. "Die Animationen sind irre, virtuose, barock programmierte Blumen, die nirgends blühen, Vögel, die nirgends singen, Fruchtkörper, die zum Inneren eines Motors werden, zu einem Gesicht, zu einem Menschen, der in einer Explosion aufgeht, der aus einer Explosion hervorgeht, der in seinen Liebsten hineingeht, der seinen Liebsten umschließt, bis sie wieder zusammen explodieren, zu einer Blume, deren Computerchipsamen die Sporen künftiger Myzele bilden, und so weiter. Man könnte denken: Anna Lowenhaupt Tsing, oder: Donna Haraway, oder: Annie Sprinkle, oder: Monique Wittig, oder: Luise Meyer, oder: Anni Albers. Gerade als Schriftstellerin und Poplümmel ist man verführt, an Autorinnen, Weberinnen, Denkerinnen zu denken, an Frauen, die man kennt, denn: Man will nicht alleine hier sein, man hielte diese Schönheit alleine nicht aus." Einen etwas verwackelten Eindruck davon gibt es auf Youtube:



Weiteres: Über die neue Buchreihe "Musikbibliothek" bei KiWi kann taz-KritikerJulian Weber nur entgeistert die Hände über dem Kopf zusammenschlagen: Zu beobachten sei die Rückkehr des "Befindlichkeitsgestus", wenn Autorinnen und Autoren persönlich eingefärbte Büchlein über Pop-Lieblinge schreiben. Für die NZZ spricht Christoph Wagner mit der Jazzband The Bad Plus, die beim Unerhört-Festival in Zürich auftritt. Die NZZ hat sich zum Plausch mit Zucchero getroffen. Im Guardian erzählt Simon Reynolds die Geschichte der Prog-Rock-Band Gong. In der SZ erklärt der Urheberrechtler Axel Metzger, wie es kurioserweise dazu kommen kann, dass Taylor Swifts früheres Label der Popsängerin verbieten kann, ihre Songs von alten Alben live zu spielen. The Quietus hat ein großes Gespräch mit Can-Gründer Irmin Schmidt geführt.

Besprochen werden das neue Album von Michael Kiwanuka (Standard), neue Popveröffentlichungen, darunter Robbie Williams' Weihnachtsalbum "The Christmas Present" (SZ), und "H.A.Q.Q.", das neue Album der Kunst-Avantgarde-Black-Metal-Projekts Liturgy (Pitchfork). Daraus das Titelstück, dessen wilde Passagen morgens besser wach machen als jede Tasse Kaffee:

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