Efeu - Die Kulturrundschau

Unvermutet laut, direkt und brutal

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11.05.2019. Geschmack- und gewissenlos finden SZ und NZZ das von Christoph Büchel bei der Biennale in Venedig ausgestellte tunesische Flüchtlingsboot, das 2015 vor Lampedusa mehr als 800 Migranten in den Tod riss. Der Tagesspiegel feiert derweil ein Fest mit überdimensionalen Vulven. Zeit Online erkennt erst auf den zweiten Blick, wie der chinesische Mega-Blockbuster "Die wandernde Erde" Xi Jinping ideologischen Flankenschutz gibt. Der Guardian rauft sich die Haare, wenn Philip Glass zum dritten Mal David Bowies Berlin-Trilogie sinfonisch umsetzt. Und die SZ lernt, wie man aus herumfliegenden Flusen nachhaltige Mode macht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.05.2019 finden Sie hier

Kunst

Es ist wohl das Bild, was von dieser Biennale bleiben wird, ärgert sich Catrin Lorch in der SZ über das von dem Künstler Christoph Büchel ausgestellte tunesische Flüchtlingsboot, das 2015 vor Lampedusa havarierte und mehr als 800 afrikanische Migranten in den Tod riss. Die Biennale habe wirklich gute politische Kunst zu bieten, aber das "Barca Nostra" betitelte Werk findet sie schlicht "gewissenlos": "Als Luc Tuymans im Jahr 1986 eine Gaskammer malte, galt das noch als Tabubruch. Gerhard Richter hat sich über Dekaden mit Fotografien aus dem Vernichtungslager Birkenau beschäftigt, sie schlussendlich mit Farbe zugedeckt. Aber es scheint, als gälten andere Regeln, wenn es um die Vernichtung von Armen geht, um tote schwarze Körper. Es ist an der Zeit, dass sich die Kunst selbst gegen die Vermarktung des Grauens abgrenzt." Die Aktion ist "geschmacklos" und nichts anderes als "pathetischer Sozialkitsch", findet auch Philipp Meier in der NZZ.

Auch mit dem Schweizer Beitrag des Künstlerinnen-Duos Pauline Boudry und Renate Lorenz ist Meier in einem weiteren NZZ-Artikel nicht zufrieden: Deren Filminstallation mit fünf performenden Vertretern der Queer-Kultur reproduziere Klischees und sei eine "Übung in politischer Korrektheit", meint er. Ausgesprochen viele weibliche künstlerische Positionen nimmt indes Nicola Kuhn im Tagesspiegel bei ihrem Rundgang wahr - und möchte der Porzellan-Installation der Estin Kris Lemsalu schon jetzt einen "Löwen für Lustbarkeit" verleihen: "Rund um einen zentralen Stützpfeiler hat sie einen Brunnen mit vier Becken arrangiert, der die Weiblichkeit, das Leben feiert. Es plätschert aus überdimensionalen Vulven, die merkwürdige Figuren bilden. In ihren Händen balancieren sie Basketbälle, Weinflaschen, Trauben." Immerhin das Bemühen um Diversität attestiert taz-Kritikerin Brigitte Werneburg der Biennale, auf der sie vor allem das postkoloniale Afrika als "Avantgarde unserer nächsten Zukunft" ausmacht.

Besprochen wird die Ausstellung "Wie der Krieg auf den Teppich kam" in der Berliner Bumiller Collection (taz).
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Design

In der SZ stellt Max Scharnigg das schwedische Modeunternehmen Asket vor, das mit nachhaltigen Kleidungsstücken der massenhaften Bekleidungsproduktion entgegentreten will. Auch im Kontakt zu den Herstellern will man andere Wege beschreiten: "Andere Modemarken, egal ob günstig oder edel, produzieren jedes Jahr ein halbes Dutzend Sortimente und wählen dafür immer den Hersteller, der für die geplanten Designs den günstigsten Preis anbieten kann. 'So entsteht nie eine echte Verbindung zwischen Marke und Produkt. Wir wollen eine ewige Kollektion, unsere Partner können damit langfristig planen und investieren', sagt Bringéus. Das geht so weit, dass heute Näherinnen mit der gewachsenen Asket-Gemeinschaft über ihre Arbeit an einem Shirt chatten - eine in der Modewelt absolut ungewöhnliche Verbindung von Produzent und Konsument", die allerdings auch zu ziemlichem Aufwand führt, etwa bei der Jeansherstellung: "Drei Jahre lang suchten sie eine nachhaltige Produktion, denn die tiefe Indigofärbung verbraucht immense Mengen an Wasser und Chemikalien. Schließlich wurden sie bei einer modernen Weberei in Japan fündig, in der sogar herumfliegende Flusen wieder verwendet werden."

Weitere Artikel: In der NZZ räumt Sabine von Fischer mit dem Mythos auf, das Bauhaus habe kostengünstig und alltagstauglich produziert.
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Film

Frostige Welterschütterung aus China: "Die wandernde Erde"

Kai Marchal schreibt auf ZeitOnline ziemlich episch über Frant Gwos chinesischen, lose auf einer Novelle von Liu Cixin basierenden Science-Fiction-Film "Die wandernde Erde". Dass der in China alle Budget- und Kassenrekorde schlagende Film international von Netflix im Streaming-Portfolio versenkt wird, ficht Marchal dabei nicht an. Schließlich kommt ihm hier und da doch das Gruseln, was für eine Ideologie in dem Katastrophenszenario transportiert wird: "Wenn das Überleben von 3,5 Milliarden Menschen auf dem Spiel steht, kann menschliche Autonomie nur in die Irre führen; es bedarf hier einer nicht hinterfragbaren, höheren Autorität (man ergänze: einer Partei mit diktatorischen Vollmachten). Nur eine solche kann mitleidlos die nötigen Entscheidungen über Leben und Tod ganzer Bevölkerungsgruppen treffen." Fazit? "Dieser Blockbuster gibt der von Xi Jinping wiederholt beschworenen 'ökologischen Zivilisation' ideologischen Flankenschutz. ... Ein unbedingter Wille zur posthumanistischen Selbstüberschreitung ist dort selbstverständlich geworden." Für den Perlentaucher besprach Thomas Groh den Film.

Dem anhaltenden Serienboom ist es zu verdanken, dass der Fachkräftemangel nun auch die Medienbranche erreicht hat, berichtet Oliver Jungen in der FAZ nach einem Branchentreffen: "Produzenten finden mitunter keine Autoren; Schauspieler sind so gebucht wie lange nicht mehr; besonders eng aber wird es bei den Mitarbeitern auf praktisch-technischer Ebene wie Kameraassistenten und Beleuchtern."

Weiteres: In der Presse stellt Bettina Steiner die Drehbuchautorin Phoebe Waller-Bridge vor, die das Skript des nächsten "James Bond"-Films polieren soll. Besprochen werden Mohammad Farokhmaneshs und Frank Geigers essayistische Dokumentarfilm "Kleine Germanen" von (taz, Welt, mehr dazu bereits hier), die Netflix-Serie "Society" (FAZ) und vorab schon einmal ein Biopic über J.R.R. Tolkien, das NZZ-Kritikerin Marion Löhndorf in seinem Versuch, Leben und Werkt aufeinander zu beziehen, allerdings recht "angestrengt" findet.
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Musik

Die Stücke auf Jamila Woods' zweitem Album "Legacy! Legacy!" tragen die Namen schwarzer Kulturschaffender - ein Projekt, das das Vermächtnis schwarzer Kultur zum Gutteil der weißen Wertschöpfung entreißen will, erklärt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline, der sich mit der Musikerin getroffen hat. Sie selbst sieht sich "in der Rolle eines Griots, der eigene Geschichten und die seiner Weggefährtinnen in mündlicher Form überliefert. Oft müssen sich diese Geschichten gegen konkurrierende weiße Geschichten behaupten, und fast immer werden Letztere mit lauteren Megafonen erzählt. ... Oft beschränken sich die Rückversicherungen bei ihren Vorbildern auf atmosphärische Details, Gesten, einzelne Worte. Zwischen gediegenem Bandbesetzungssoul, weich gezeichneten Hip-Hop-Beats und sogar einem Rap-Rock-Versuch geht es Woods weniger um Heldenverehrung als um die Erforschung ihrer eigenen künstlerischen Identität. 'Legacy! Legacy!' ist auch eine alternative Geschichtsschreibung der Popmusik aus schwarzem Blickwinkel. Aber die erzählt sich nebenher, wie von selbst." Der Dlf Kultur spricht mit der Musikerin. Wir hören in ihr Stück "Miles":



Sehr überrascht kommt SZ-Kritikerin Julia Spinola aus London nach Hause, wo sie die europäische Uraufführung von Philip Glass' neuer Sinfonie "Lodger" besucht hat. Der Minimal-Music-Komponist hat nach "Low" (1992) und "Heroes" (1996) nun auch das dritte Album aus David Bowies Berlin-Trilogie sinfonisch umgesetzt. Doch steht diesmal nicht die Musik der Vorlage im Vordergrund, sondern die urban-düsteren Texte von insgesamt sieben Stücken daraus. "Der Ton des oft vom massiven Orgelklang (James McVinnie) dominierten Orchesters, ist unvermutet laut, direkt und brutal: Musik, die einem ins Gesicht schlägt. Angélique Kidjo durchschneidet mit ihrer rauchig-dunklen Soulstimme die komplex-rhythmisierten Klänge. Die Koordination mit dem Orchester wackelt gelegentlich - ein paar mehr Blicke zum Dirigenten wären angebracht gewesen. Aber dafür trifft sie mit ihrer Unumwundenheit, und ihrem furios-kompromisslosen Ausdruck den Nerv dieser Komposition." Ganz und gar nicht begeistert ist Guardian-Kritiker John Lewis: "Es klingt peinlich, wenn Angélique Kidjo (...) Bowies Texte zu Glass' zerfahrenen, mäandernden Melodien rezitiert. Glass selbst saß im Publikum und man ist versucht, diesen großartigen Mann am Revers zu packen, um ihn zu fragen, was er mit dieser Sinfonie überhaupt bezwecken wollte."

Weitere Artikel: Im Standard schreibt Margarete Affenzeller über Anna Witts Klangexperiment "Beat House Donaustadt", das heute die Wiener Festwochen eröffnet. Tel Aviv - "die schwulste Metropole am Mittelmeer" - freut sich auf den Eurovision Song Contest, berichtet Jan Feddersen in der taz. In der FR plaudert Daniel Dillmann mit Waving the Guns über linken Battle-Rap. Für die taz hat Dirk Schneider mit Aldous Harding über deren neues Album "Designer" gesprochen. Daraus das Video zu ihrem Song "The Barrel":



Besprochen werden die neue CD des Jazzmusikers Brad Mehlau (Standard), ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter dem Dirigat des mittlerweile 90-jährigen Bernard Haitink (Tagesspiegel), Tim Heckers "Anoyo" (Pitchfork) und die von Bogomir Doringer kuratierte Wiener Ausstellung "Dance of Urgency" zum Verhältnis zwischen Techno und Politik (Standard).
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Literatur

Für die NZZ begleitet Bernd Noack Karol Sidon, den früheren Oberrabbiner von Prag, dessen Erinnerungen "Traum von meinem Vater" gerade auf Deutsch erschienen sind, durch die tschechische Hauptstadt: "In seiner Prosa ist die Erinnerung an den Vater eingefroren. Diese Figur des Erzeugers, den der kleine Karol nur zwei Jahre lang lebend kannte, schwebt über dem Erwachsenen, und in poetisch vorsichtigen Worten vergewissert sich Sidon der ewigen Anwesenheit des Verschwundenen: 'Ach, heute kann nur der Vater, er und nur er - und auch das nur zum Teil -, in den Überbleibseln des verblassten Glanzes lesen, er und nur er kann die losen alten Kalenderblätter einigermassen richtig anordnen und sie in das Geflecht aus Vorstellungen und verjüngter Nichtigkeit hineinweben, nur er, weil alles Übrige auf der anderen Seite ist, auf der Seite des Nichtseins.'"

Weitere Artikel: Ralph Gerstenberg fasst in einem zurückblickenden Feature für Dlf Kultur die Kontroverse um Takis Würgers Roman "Stella" zusammen. Werner von Koppenfels blickt in der NZZ auf 300 Jahre "Robinson Crusoe" zurück. Im Dlf Kultur gibt Stefan Mesch Tipps zum heutigen Gratis-Comic-Tag. In ihrem literarischen Wochenendessay bringt die FAZ heute einen Text des Schriftstellers Patrick Roth über seine Zeit in Los Angeles, den die Zeitung dem von Martin W. Ramb und Holger Zaborowski herausgegebenen Band "Heimat Europa" entnimmt.

Besprochen werden unter anderem Mario Vargas Llosas "Der Ruf der Horde" ("ein überraschendes und auch experimentelles Werk", meint René Scheu in der NZZ), Sibylle Bergs "GRM. Brainfuck" (taz), Han Kangs "Deine kalten Hände" (NZZ), Nico Walkers "Cherry" (SZ), Bret Easton Ellis' Essaysammlung "Weiß" (Jungle World, Standard), Leila Slimanis "All das zu verlieren" (Literarische Welt), Zadie Smiths Essaysammlung "Freiheiten" (Literarische Welt), Axel Milbergs Romandebüt "Düsternbrook" (FAZ) und die Werkausgabe der Schriften der kommunistisch gesinnten Aristokratin Hermynia Zur Mühlen (SZ, die Literarische Welt bringt dazu Auszüge aus Felicita Hoppes essayistischem Vorwort).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Bühne

Bei aller Poesie und allem Witz des diesjährigen Theatertreffens, vermisst die polnische Kulturjournalistin Iwona Uberman in der Nachtkritik doch politische Positionen und Gesellschaftskritik. Sie schlägt deshalb ein über die Einführung einer Frauenquote hinausgehendes, verändertes Auswahlverfahren vor: "Die Jury wählt die Longlist-Inszenierungen (mit klaren Begründungen) aus, die letzten 10 daraus werden von 10 verschiedenen Gremien gewählt, je eine von beispielsweise Theaterkritiker*innen, Schauspieler*innen, People of Color, Frauen, Männern, Senior*innen, Theaterleiter*innen, LGBTI-Community usw. Noch ein anderes Modell zum Ausprobieren wäre in Polen zu finden: Zum Warschauer Theatertreffen werden nicht nur Produktionen der großen Häuser eingeladen, da auf die Provinz zu hören, sehr bereichernd sein kann."

Weitere Artikel: Im Dlf-Kultur-Interview mit Ute Welty spricht FAZ-Redakteur Dietmar Dath über sein dystopisches Theaterstück "Die nötige Folter", das heute am Staatstheater Augsburg Premiere feiert. Aufgeregt fiebert Standard-Kritikerin Margarete Affenzeller schon dem Auftakt der Wiener Festwochen entgegen, bei dem die Künstlerin Anna Witt ihr Projekt "Beat House Donaustadt" vorstellt, für das sie per Ultraschall die Herzschläge der BewohnerInnen des Alfred-Klinkan-Hofes aufgenommen hat.

Besprochen werden Dieter Dorns Inszenierung von Georges Feydeaus Stück "Herzliches Beileid" am Staatstheater Nürnberg (nachtkritik), Antu Romero Nunes' Inszenierung von Wilhelm Buschs "Max und Moritz" bei den Ruhrfestspielen (nachtkritik), Laura Linnenbaums Brecht-Inszenierung "Mutter Courage und ihre Kinder" am Staatstheater Kassel (nachtkritik), Anna Bergmanns Adaption von Ingmar Bergmans "Persona" beim Theatertreffen (nachtkritik), das Berliner Kinder- und Jugendtheaterfestival "Augenblick mal!" (Tagesspiegel, taz), Ulrike Schwabs und Juliane Stadelmanns Inszenierung von Paul Linckes "Frau Luna" in der Neuköllner Oper (Tagesspiegel) und Georg Friedrich Haas' Oper "Koma" am Klagenfurter Stadttheater (FAZ).
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Architektur

Pavillon Le Corbusier in Zürich-Seefeld. Quelle: Wikipedia. Roland ZH.
Dieses Wochenende wird das von der Schweizer Unternehmerin und Feministin Heidi Weber gegründete, von Le Corbusier gebaute und 1967 eröffnete "Heidi-Weber-Museum - Centre Le Corbusier" wiedereröffnet - allerdings ohne Weber im Namen, die überhaupt von der Stadt Zürich aus jeder Rolle im Museum gedrängt wurde, berichtet Harold von Kursk in der FAZ. Der Fall werde derzeit juristisch verhandelt, aber: "Heidi Weber war im konservativen sozialen und politischen Klima der Schweiz vielen als Feministin und Querulantin ein Dorn im Auge, zumal sie sich öffentlich für das Frauenwahlrecht einsetzte, das in der Schweiz erst 1971 flächendeckend eingeführt wurde. (...) Warum aber jetzt diese Auslöschung des Namens einer Frau, der die Schweiz viel zu verdanken hat und die das Museum im Alleingang finanzierte und ein halbes Jahrhundert lang kuratierte? Will man beweisen, dass, nachdem das Bankgeheimnis fiel, wenigstens die alte Herrenclubmentalität in der Schweiz in MeToo-Zeiten noch eine Heimat hat?"

Besprochen wird die Ausstellung "Ost-Berlin. Die halbe Hauptstadt" im Berliner Ephraimpalais (Tagesspiegel) und die Ausstellung "bauhaus imaginista" im Berliner Haus der Kulturen der Welt (NZZ).
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