Efeu - Die Kulturrundschau
Mit oder ohne Zwiebel
Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Bühne

Johan Simons, der 72-jährige Theaterveteran aus den Niederlanden, hat seine Intendanz am Bochumer Schauspielhaus mit Lion Feuchtwangers Romanklassiker "Die Jüdin von Toledo" begonnen, und die Kritiker kennen kein Halten: In der taz freut sich Benjamin Trilling noch etwas zaghaft, dass Simons in Bochum wieder globales Bewusstsein versprüht. In der FAZ aber verkündet Simon Strauß: "Das Stadttheater unserer Zeit. Es steht in Bochum, der alten Ruhrpott-Provinz, nicht in Berlin, Frankfurt oder Wien. Im fahlbeleuchteten Abseits findet sich wie von selbst, was bei grellem Metropolenglanz mit größter Anstrengung vergeblich gesucht wird: ein Theater der Gegenwart, eine Bühne, die wieder Versprechungen macht, und ein Spiel, so lustvoll und leicht, dass einem aller betriebliche Pessimismus, alle gewohnte Klage peinlich wird."
Schön programmatisch findet Bernd Noack in der NZZ Simons Inszenierung: "Simons lässt aber auch den Historiker Philipp Blom eine Eröffnungsrede halten, in der dieser leidenschaftlich vor den Gefahren selbstgenügsamer Kunstpflege und überheblicher Gutmensch-Lethargie ('Die Linke hat sich zu Tode gesiegt') warnt: Die Kulissen der Demokratie stünden zwar noch, aber darin werde längst ein anderes Spiel gespielt. Die Welt ist rund, wie das neue Emblem des Bochumer Schauspiels zeigt, doch das macht sie auch zum Spielball." In der SZ begeistert sich Christine Dössel vor allem für die Schauspieler: "Hier spielt ein jeder mit allen und gegen alle, und alle sind auch immer anwesend und verfügbar, selbst wenn einzelne zwischendurch wie Schlafende oder Leichen auf dem Boden liegen. Sind sie dran, sind sie sofort wieder im Spiel. Und wie! Man spürt: Denen geht es um etwas."
Peter Laudenbach applaudiert in der SZ noch einmal den Berliner SchauspielschülerInnen, die mit ihren Aktionen vor sechs Jahren den jetzt eröffneten Neubau der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch gerettet hatten: "Der Charme der Proteste, mit denen die Studierenden den Neubau vor sechs Jahren retteten, lag unter anderem darin, dass die eigentlich als notorisch egozentrisch geltenden Nachwuchsschauspieler und -Regisseure nicht für sich selbst, sondern für ihre Hochschule und nachfolgende Studierendengenerationen kämpften."
Besprochen werden Anselm Webers Uraufführung von Lutz Hübners und Sarah Nemitz' Stück "Furor" in Frankfurt (FAZ), David Böschs Bühnenadaption von Luchino Viscontis Filmklassiker "Die Verdammten" am Berliner Ensemble (Tagesspiegel, Berliner Zeitung).
Kunst

FR-Autor Arno Widmann begibt sich in San Sebastián auf die Spuren des baskischen Bildhauers Eduardo Chillida, dem das Museum Wiesbaden demnächst eine große Ausstellung widmet: "Bei Chillida wächst nichts zusammen, das zusammen gehört. Hier wird zusammengeschlagen, mit Gewalt auseinandergerissen oder zusammengebracht, was ohne Gewalt in ganz anderen Paarungen läge. Einer der Söhne Chillidas erklärte mir die 'Windkämme'. Sie streckten die Arme aus, weil sie sich nacheinander sehnten. Denn einst seien all diese Steine ein einziger Fels gewesen, aus dem das Wasser sie Stück um Stück herausgerissen habe."
Literatur
Weitere Artikel: Der Standard dokumentiert Florjan Lipus' Dankesrede zum Erhalt des österreichischen Staatspreises für Literatur. Online nachgereicht, präsentiert Bestseller-Autorin Maja Lunde in der Welt die Bücher, die sie am meisten geprägt haben.
Besprochen werden unter anderem Patrick Modianos "Schlafende Erinnerungen" (Standard), der erste Band von Jiro Taniguchis "Jäger"-Comiczyklus (Tagesspiegel), Erika Pluhars "Anna. Eine Kindheit" (Standard), Volker Kutschers Krimi "Marlow" (FAS), Friedrich Lufts Feuilletonsammlung "Über die Berliner Luft" (FR), Josef Winklers "Lass dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe" (Standard), Ulrich M. Hambitzers Krimi "De Lege Artis" (Zeit), Ursula Krechels "Geisterbahn" (SZ) und Karl-Heinz Otts Und jeden Morgen das Meer" (FAZ).
In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Werner von Koppenfels über D.H. Lawrence' "Gloire de Dijon":
"Wenn sie am Morgen aufsteht,
laß ich mir Zeit, sie zu betrachten;
sie breitet das Badetuch aus unterm Fenster,
..."
Musik
In der taz resümiert Oliver Kontny außerdem das Berliner Dice-Festival, bei dem die griechische Musikerin Lena Platonos vom Publikum enorm gefeiert wurde: "In den 1980er Jahren verkörperte sie die artifizielle, androgyne Ästhetik des Synth-Pops in griechischer Sprache. Das Label Dark Entries begann 2015 ihre klassischen, elektronischen Alben wiederzuveröffentlichen und die vintagehungrige globale Szene machte aus ihr eine Überfigur: Frau. Griechenland. Vor-meiner-Geburt. Awesome." Das klang dann in den 80ern so:
Weitere Artikel: Der Kurier spricht mit Hans-Joachim Roedelius über dessen Lebensweg und unter anderem darüber, wie sein ursprünglicher Job als Masseur ihn in die Kunstszene brachte. Tobias Sedlmaier freut sich in der NZZ auf das Zürcher Konzert der Indiepopband Metric. Besprochen werden das neue Album von Peter Licht (SZ), der Berliner Auftritt von Aphex Twin (taz, FAZ), das neue Album von Elektro Guzzi (Standard) und ein Konzert von Voodoo Jürgens (Standard).
Film

Die Auszeichnung sei "absolut verdient", meint hingegen SZ-Kritiker Philipp Bovermann, denn: "Anstatt den Film mit 'Achtung, Nazis'-Hinweisschildern vollzukleistern, verließen seine Macher sich auf genuin filmische Mittel wie Montage, Kameraführung, Musik. Man kann das, wie die Kritiker in Leipzig, distanzlos finden. Allerdings entsteht dadurch etwas, das in Youtube-Videos fehlt: Zwischentöne. Die Kids im Film sind ebenso widersprüchlich wie das, was sie so von sich geben. Man muss diese Widersprüche wahrnehmen, um sie darauf ansprechen zu können."
Weitere Artikel: Katrin Schregenberger wirft für die NZZ einen Blick ins Programm der Winterthurer Kurzfilmtage. Im ZeitMagazin träumt Jamie Lee Curtis. Besprochen werden Tomáš Weinrebs und Petr Kazdas "I, Olga" (Freitag), Panos Cosmatos' Kunst-Horrorfilm "Mandy" (taz, Tagesspiegel, mehr dazu hier), Bryan Singers Queen-Biopic "Bohemian Rhapsody" (Jungle World, mehr dazu hier und hier), Adina Pintilies "Touch Me Not" (Freitag, mehr dazu hier und hier) und die groß angelegte Dokumentationsserie des RBB "Berlin - Schicksalsjahre einer Stadt" (FAZ).
Architektur


Sehr lesenswert ist auch Thomas Flierls Artikel über den Schweizer Architekten Hannes Meyer, der 1927 Direktor des Bauhauses wurde, aber drei Jahre später seinen Posten räumen musste (auf der sonst hervorragenden Seite zum Jubiläum ist der Eintrag zu Hannes Meyer bisher nur Englisch zu finden). Auch damals wollten die Funktionäre der Stadt keinen Ärger mit den Nazis riskieren. Doppelt tragisch findet das Flierl: "Tatsächlich verzögerte die politische Intrige gegen Hannes Meyer die notwendige Selbstkritik des Bauhauses und der Moderne für Jahrzehnte und trieb ihn, der zu diesem Zeitpunkt noch ganz linkssozialistisch-genossenschaftlich dachte, endgültig an die Seite der Kommunisten. Nach seiner Entlassung wandte er sich an die sowjetische Botschaft in Berlin und siedelte im Oktober 1930 mit einem ihm verbundenen Kreis von Bauhäuslerinnen nach Moskau über."