9punkt - Die Debattenrundschau

Eine gewisse akademische Arroganz

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.05.2021. Amerika spricht sich für eine Freigabe der Patente auf Impfstoffe aus - und löst damit die größte Debatte des Tages aus. Bei CNN begründet Özlem Türeci, Miterfinderin des Biontech-Impfstoffs, warum sie dagegen ist. Netzpolitik plädiert für eine Open-Source-Politik. Bei emma.de erzählt die ehemalige Prostituierte Huschke Mau, warum sie von Antirassisten als Rassistin beschimpft wurde, obwohl sie Rassismus in der Prostitution anprangerte. Für die SZ schickt Serhij Zhadan einen Lagebericht aus der Ukraine. Der Guardian fragt, warum sich ausgerechnet Jacinda Ardern, die neuseeländische Ministerpräsidentin, nicht stärker für die Uiguren einsetzt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.05.2021 finden Sie hier

Politik

Die USA haben zwar keine Impfdosen exportiert, sprechen sich jetzt aber für eine Freigabe der Patente auf Impfstoffe aus, berichtet unter anderem Andreas Zumach in der taz. Eric Bonse ergänzt, dass der Druck auf die EU nun stark ist: "Bisher gilt die von Merkel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verabredete Linie: Massenproduktion in Deutschland und Europa sowie Export in alle Welt - doch die Patente sind tabu. Diese Linie hat die EU-Kommission bekräftigt. 'Wir haben schon 200 Millionen Impfdosen exportiert', sagte eine Sprecherin. 'Damit haben wir genauso viel in die Welt geliefert wie an unsere eigenen Bürger.'"

Özlem Türeci, Miterfinderin des Biontech-Impfstoffs und Miteignerin der Firma spricht sich in diesem CNN-Interview nachvollziehbarerweise gegen eine Freigabe aus. Die Installation von Fabriken, die Beschaffung von Rohstoffen und die Weitergabe von Knowhow würden die Sache ohnehin nicht beschleunigen:

Es gibt eine Alternative zur Patentfreigabe, schreibt der Experte Axel Metzger im FAZ-Feuilleton, nämlich Zwangslizenzen, die bereits jetzt bei öffentlichem Notstand vergeben werden können. Firmen wie Biontech seien aber zur internationalen Kooperation bereit. Und es sei zu bedenken, "dass eine Zwangslizenz allein noch niemanden in die Lage versetzt, technisch komplexe Impfstoffe sicher herzustellen. Wirksamer wäre die Förderung der Kooperation forschender Pharmaunternehmen mit lokalen Herstellern in den betreffenden Ländern."

Im Tagesspiegel nennt Anna Sauerbrey Bidens Vorstoß zwar "historisch", sieht aber vor allem geopolitische Interessen am Werk: "Indem sie sich für eine Freigabe von Impfstoffpatenten aussprechen, sammeln die USA international politisches Kapital für den 'Systemkonflikt' mit China. Wie Russland nutzt China die Pandemie für eine Art Impfstoff-Diplomatie. Anders als die USA exportiert das Land Teile seiner Impfstoffe Sinovac und Sinopharm, oft mit großem öffentlichkeitswirksamem Tamtam. China-Kenner sprechen von einer 'Gesundheitsseidenstraße'."

"Haben nicht monatelang ausgerechnet die USA nur an sich selbst gedacht, Masken beschlagnahmt, Impfstoff gehortet?", fragt Marc Beise in der SZ. Auch er fragt sich, ob die Freigabe von Lizenzen wirklich helfen würde: "Impfstoffproduktion ist so komplex, dass die Vorstellung weltfremd ist, man könne hier mal eben schnell Wissen abziehen und dort eine neue Produktion hochziehen."

Anders sieht es Leonhard Dobusch bei Netzpolitik: "Letztlich stellt sich angesichts der enormen öffentlichen Investitionen in die Impfstoffentwicklung die Frage, warum Impfstoffe und Medikamente in Zeiten von Pandemien nicht überhaupt Open Source entwickelt werden? Bestehende Versuche offener Impfstoffentwicklung, etwa jene der 'Open Source Pharma Foundation' (OSPF) und deren Covid19-Projekt OpenVAX, scheitern an fehlender Finanzierung vor allem der kostenintensiven Phase-3-Studien sowie an Haftungsfragen."

Tja, vielleicht ginge es dann schneller, sich in Algier impfen zu lassen als in Berlin. Dort sieht man seit 24 Stunden nur dieses Bild:



Die neuseeländische Ministerpräsidentin Jacinda Ardern wurde zur Ikone, als sie sich nach dem Anschlag auf die Moschee von Christchurch mit Hidschab zeigte, um ihre Verbundenheit zu bekunden. Bei der Verfolgung der muslimischen Uiguren durch China agiert sie nicht ganz so dezidiert, schreibt Guled Mire im Guardian. Neuseeland spricht hier nur von "Menschenrechtsverstößen", nicht von "Genozid": "Ja, wir mögen ein kleines Land sein und starke Handelsbeziehungen bedeuten, dass Neuseeland anfällig für Vergeltungsmaßnahmen von China ist. Aber letztlich wäre es für Neuseeland besser, sich in dieser Frage mit anderen gleichgesinnten Staaten zu verbünden, als der wirtschaftlichen Macht Chinas zu erliegen, denn das schützt uns letztlich vor Chinas zunehmender Aggression und Missachtung eines auf Regeln basierenden internationalen Systems."
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Medien

Laut "einer Studie der dpa und der Hamburger Behörde für Kultur und Medien gaben über die Hälfte der Jugendlichen an, es nicht für wichtig zu halten, sich über traditionelle Medien zu informieren", weiß Linda Tutmann, die im Zeit-Online-Gespräch die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim (aktuelles Buch "Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit") dazu befragt: "Ich glaube, der traditionelle Journalismus hat ein Arroganzproblem - sie setzen für viele ihrer Inhalte und auch für ihre Sprache eine gewisse Bildung voraus, von der sich viele Jugendliche nicht abgeholt fühlen. Ein Beispiel ist Rezo. Auch bei der Diskussion um ihn schwingt immer eine gewisse akademische Arroganz mit. Wenn Rezo 'worken' sagt in seinem Video statt arbeiten, dann erreicht er damit seine Zielgruppe - und das zählt. Die beste Sprache ist die, die ankommt. Über die neuen Medien wird bei den traditionellen öfter mal die Nase gerümpft, aber man sollte sich zumindest der Diskussion stellen: Was bedeutet Journalismus in der Zukunft?"
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Europa

In der SZ schickt der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan, der in sieben Kriegsjahren mit Musikerfreunden immer wieder vor ukrainischen Soldaten spielte, einen Frontbericht. Er beschreibt den "Informationskrieg", der dazu führe, dass die Ukrainer weder russischen Beschwichtigungen, noch Bekräftigungen der EU oder den Aussagen ihres Präsidenten Wolodomir Selenskij noch trauen. Und er schildert den Wandel der ukrainischen Gesellschaft: "Seit dem Beginn des Konflikts im Frühjahr 2014 sind viele Menschen bereit, ihr Land mit Waffen in der Hand zu verteidigen. Deswegen muss der Präsident in seinen Äußerungen nicht nur die Meinung der westlichen Partner oder die Erklärungen von Wladimir Putin berücksichtigen, sondern auch die Reaktion der ukrainischen Gesellschaft, und die wird eine Kapitulation ihrer Führung nie akzeptieren. Wenn man die Lage in der Ostukraine und an der ukrainisch-russischen Grenze betrachtet, sollte man außerdem Folgendes bedenken: In sieben Jahren haben Millionen Ukrainer Erfahrungen als Soldaten an der Front oder als freiwillige Helfer gemacht oder irgendwie die Armee unterstützt. Der Krieg hat Tausende Menschen verändert, ihr Bewusstsein, ihre Einstellung gegenüber dem eigenen Land."
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Kulturpolitik

Noch immer wird um Franz Marcs Gemälde "Füchse" gestritten. Patrick Bahners und der Richter Friedrich Kiechle lehnten eine Rückgabe ab, weil das Bild nach der Emigration des Besitzers Kurt Grawi frei verkauft worden sei (unser Resümee). Hans-Jürgen Papier, Mitglied der beratenden Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts, erklärt heute in der FAZ, warum die Kommission anders entschied: "Nach Ansicht der Kommission war das keine freiwillige Entscheidung, sondern ein Verkauf unter dem unmittelbaren Druck der Verfolgung, auch wenn das Rechtsgeschäft letztlich in New York abgewickelt wurde. Deshalb hat die Kommission eine Rückgabe des Bildes empfohlen."
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Geschichte

Amerikanischer Rassismus ist nicht mit europäischem Rassismus gleichzusetzen, hält Toni Stadler in der NZZ mit Blick auf die Geschichte fest: "Der institutionelle Rassismus Europas war (mit Ausnahme des Nationalsozialismus) nicht gegen ethnische Minderheiten zu Hause gerichtet, sondern primär gegen Andersfarbige weit weg. Moralisch besser macht ihn das nicht, aber anders als in den USA. Mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 verschwand die rassistische Literatur aus ordentlichen Haushalten."

In den USA ist nach der Enthüllung einer Bronzeskulptur im New Yorker Central Park eine Diskussion über den angeblichen Rassismus der Suffragetten entbrannt, die Vorwürfe basieren unter anderem "auf der Behauptung, die Vorkämpferinnen für das Frauenstimmrecht hätten sich an einer angeblichen Vorzugsbehandlung schwarzer Männer gestört", berichtet Marc Neumann in der NZZ und wendet ein: "Wenn sich jemand darüber ärgert, dass man das eine (Abschaffung der Sklaverei, Wahlrecht für Afroamerikaner) tut, aber das andere (Wahlrecht für weiße und schwarze Frauen) lässt, dann macht das noch niemanden zum Rassisten, sondern vielmehr zur Kämpferin für soziale Gerechtigkeit für alle, Frauen inklusive."

Außerdem: Ebenfalls in der NZZ schreibt die Historikerin und Biografin Maren Gottschalk über die Widersprüche der Sophie Scholl.
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Gesellschaft

Zu welchen Absurditäten die neumodisch-kulturalistische Linke fähig ist, erzählt ein Text der ehemaligen Prostituierten Huschke Mau auf emma.de. Mau setzt sich heute gegen Prostitution ein, die sie als ein Gewalt- und Ausbeutungsverhältnis anprangert. Sie war bei den Grünen in München eingeladen, um über Prostitution zu sprechen. Aber sie wurde attackiert - ausgerechnet weil sie Rassismus in Prostitution und Pornografie benannt hatte. Unter anderem wurde ihr vorgeworfen, dass "ich jede 'Attraction' zu 'nichtweißen Frauen' als pervers und Fetisch einordnen" würde: "Ich wurde als 'migrantenfeindlich' bezeichnet, als ich darauf hingewiesen habe, dass es vor allem Menschen aus sehr armen Ländern sind, die hierzulande in der Prostitution von deutschen Männern sexuell ausgebeutet werden: Frauen aus den Armenhäusern Europas, aber auch geflüchtete Männer, die sich zum Beispiel im Berliner Tiergarten unter Elendsbedingungen prostituieren." Über jenen Rassismus in der Prostitution, von dem die "sexpositiven" AntirassistInnen nichts hören wollen, schreibt Mau auch hier.
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