Efeu - Die Kulturrundschau

Zitronengelb leuchtet der Mond

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04.11.2022. Wie politisch eine gelbe Kuh und ein roter Engel sein können, lernt die FAZ in der Chagall-Ausstellung der Frankfurter Schirn. Wie unästhetisch eine politisch höchst korrekte Ausstellung über "Die grüne Moderne" sein kann, lernt die taz im Kölner Museum Ludwig. Die SZ schreibt um den Goncourt-Preis für Brigitte Giraud herum. Tagesspiegel und taz werfen in einer Studie zur Nazi-Vergangenheit des Berlinale-Gründers Alfred Bauer auch einen Blick auf den Mikrokosmos der jungen Bundesrepublik. Zeit online empfiehlt das Werk der britischen Soulband Sault - doch muss man sich mit dem Herunterladen beeilen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.11.2022 finden Sie hier

Kunst

Marc Chagalls "Engelsturz" (1923 - 1947). Kunstmuseum Basel


So unpolitisch, wie man immer denkt, war Marc Chagall gar nicht, lernt FAZ-Kritiker Stefan Trinks in einer neuen Ausstellung der Frankfurter Schirn, die vor allem Chagalls Werk aus den dreißiger und vierziger Jahren gewidmet ist. Als Leihgabe ist auch Chagalls "Engelssturz" zu sehen, das der Maler zwischen dem Novemberputsch 1923 und 1947, in der Emigration in den USA, dreimal "grundlegend überarbeitete". In der Schirn kommt das Bild besser zur Geltung als neben den Franz Marcs in Basel, meint Trinks, während er auf die gelbe Kuh blickt: "Im selben Zitronengelb leuchtet der Mond mit seinem Hof darüber in die nachtschwarze Finsternis des surrealen Geschehens, bei dem ein grüngesichtiger Mann ... seinen Spazierstock in der Rechten zum Ohr eines violett gekleideten Rabbi mit blauem Gesicht und aufgerollter Thora-Schrift richtet. Leicht rechts aus der Mittelachse gerückt aber steigt feuerrot ein geflügelter Engel mit in Flammenzungen endenden Gewändern und Flügeln vom unteren Ende des Bildes bis nach oben auf, nur das nicht die positive Assoziation eines Phoenix vorherrscht, vielmehr durch die verquält in den Rücken geworfene, offenbar abstürzende Figur mit dem schreckensgeweiteten linken Auge und dem vollständig verdunkelten rechten die eines Ikarus."

Installationsansicht Grüne Moderne. Die neue Sicht auf Pflanzen Museum Ludwig, Köln 2022, Foto: Leonie Braun


Regine Müller wandert für die taz lustlos durch die Ausstellung "Die Grüne Moderne" im Kölner Museum Ludwig, die von Deutschlands erster Museumskuratorin für Ökologie, Miriam Szwast, politisch superkorrekt ausgerichtet wurde: "In der aktuellen Schau schlägt sich das unter anderem nieder in handgemalten Wandtexten (um Plastik zu sparen), der Übernahme der Architektur von früheren Ausstellungen, der Entscheidung, keine Originale auszuleihen und den Katalog nicht zu drucken, sondern kostenlos zum Download im Netz anzubieten. Die eigentliche Ausstellung über jene Zeit der ersten grünen Moderne im frühen 20. Jahrhundert zeigt dann überwiegend Fotografien. Zu sehen sind Kakteen-Arrangements als Clou modernistischer Wohnungseinrichtungen, man sieht Aufnahmen von Werner Mantz und Anne Biermann oder Nahaufnahmen verschnörkelt wirkender Pflanzen, in denen Karl Blossfeldt die 'Urformen der Kunst' erblickte." Doch leider, so Müller, "wirken die Fotos verloren und die mittels grober Klebestreifen befestigten Fotokopien aller nicht entliehenen Originale rustikal improvisiert. Das ökologische und das ästhetische Ausstellungmachen finden hier zu keiner überzeugenden Versöhnung."

Weiteres: Nach dem Documenta-Debakel plädieren Jana Talke und Alexander Estis in der NZZ für eine jüdische Weltkunstschau angesichts des Antisemitismus, der viele alte und neue Kunstwerke prägt. Paul Ingendaay besucht für die FAZ Goyas Geburtsort, das Dörfchen Fuendetodos im spanischen Aragonien, das zusammen mit anliegenden Dörfern "eine Art Goya-Kulturzone" errichten will, um Besucher anzulocken. Besprochen wird die Ausstellung der indischen Fotografin Gauri Gill in der Frankfurter Schirn (SZ).
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Literatur

Brigitte Giraud kann sich über zehn Euro mehr auf ihrem Konto freuen. Außerdem wurde sie für ihren Roman "Vivre vite", in dem sie den Tod ihres Mannes verarbeitet, gestern mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Die deutschen Feuilletons haben seit 14 Jahren keine Bücher der französischen Schriftstellerin mehr besprochen. Vielleicht auch deshalb spricht Nils Minkmar in der SZ vor allem vom Drumherum der leicht befremdlichen Rituale rund um die Entscheidungsfindung und Feier des wichtigsten französischen Literaturpreises. Erst im 14. Durchgang, und auch nur weil darin die Stimme des Jurypräsidenten Didier Decoin doppelt zählt, konnte gestern eine Entscheidung getroffen werden. "Wer in Paris ein bisschen die Nachrichten verfolgt, wird im den Gleichstand brechenden Votum des Goncourt-Präsidenten die literarische Entsprechung zur Maßnahme der Regierung gesehen haben, die derzeit Gesetze nur mit dem Verordnungsartikel 49.3 und am Parlament vorbei durchsetzen kann. Denn seit Wochen stand der Sieger des Goncourt gefühlt fest. Es sollte der in Paris oft zitierte, oft eingeladene schweizerisch-italienische Politikwissenschaftler Giuliano da Empoli werden, der in diesem Jahr seinen ersten Roman veröffentlicht hat", der von Machtintrigen in Russland handelt. Doch "die Leute schauen schon das ganze Jahr nach Osten, zum Krieg und zu Putin, da mag es eine gute Wirkung von Literatur sein, die Gedanken zurückzuführen auf das Leben selbst." in der FAZ erklärt Jürg Altwegg nochmal ausführlich, warum Virgine Despentes von Anfang an keine Chance hatte, auch nur nominiert zu werden, stellt ansonsten aber fest: In Frankreich werden derzeit vor allem Schriftstellerinnen ausgezeichnet.

Weiteres: In der NZZ schreibt Sergei Gerasimow weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Außerdem meldet die Jury des Dlf Kultur die besten Krimis des Monats - auf Platz Eins: Yves Raveys "Die Abfindung".

Besprochen werden unter anderem Norbert Millers Studie "Die künstlichen Paradiese. Literarische Schöpfung aus Traum, Phantasie und Droge" (Tsp), Josefine Sonnesons "Stolpertage" (Tsp), Michael Kumpfmüllers "Mischa und der Meister" (FR), Martin Mosebachs "Taube und Wildente" (Standard), Tom Segevs "Jerusalam Ecke Berlin" (Dlf Kultur), John Jeremiah Sullivans "Vollblutpferde" (Dlf Kultur) und Bette Westeras illustrierter Gedichtband "Auseinander" (SZ).
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Film

In Berlin gab eine Veranstaltung Einblick in Wolf-Rüdiger Knolls und Andreas Malychas Recherchen zu Alfred Bauers Nazi-Vergangenheit. Wie die Zeit vor wenigen Jahren einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machte, war der erste Berlinale-Leiter im nationalsozialistischen Film als Funktionär durchaus keine Randfigur. Immerhin in einer Hinsicht kann Entwarnung gegeben werden, berichtet Julia Hubernagel in der taz: Bauer habe kein braunes Festival aus der Taufe gehoben. "Das Filmprogramm habe der Tendenz der frühen Bundesrepublik entsprochen, unpolitische Filme zu zeigen, sagt er, auf die Blütezeit des Heimatfilms in den 1950er Jahren verweisend. Eine Ausnahme stelle der Fall Ritter dar. Bauer schlug in den Anfangstagen der Berlinale einen Film des Naziregisseurs Karl Ritter (die 'Nummer zwei hinter Veit Harlan', laut Knoll) vor; allerdings ohne Nennung des Namens. Die Senatsverwaltung lehnte das vehement ab."

Bemerkenswert ist dann aber doch der Befund, dass die Senatsverwaltung seinerzeit durchaus wusste, es mit einem Braunbär im Schafspelz zu tun zu haben, berichtet Christiane Peitz im Tagesspiegel. Interessant sei im weiteren "der Blick auf die Berlinale als Mikrokosmos der jungen Bundesrepublik. Wie arbeiteten sie in der Gründungsphase zusammen, NS-Funktionäre (zu denen auch die Filmfunktionäre Oswald Cammann und Günter Schwarz gehörten), Widerstandskämpfer wie Theodor Baensch, Holocaust-Überlebende, Remigranten und Vertreter der Siegermächte? ... Wie konnte die Berlinale mit einem NS-belasteten Direktor ein 'Schaufenster der freien Welt' werden, ein Leuchtturm der Demokratie und Weltoffenheit? Welches Leid, welchen Schmerz müssen die NS-Opfer bei der Kooperation mit NS-Tätern empfunden haben?"

Mit roten Ohren las Georg Seeßlen Quentin Tarantinos Filmbuch "Cinema Speculation", in dem der Filmregisseur erzählt, welche Filme und haarsträubenden Kinoerlebnisse ihn in den Siebzigern zu dem gemacht haben, der er heute ist: "Kino, das ist Heimat, und das ist Familie", schreibt Seeßlen auf ZeitOnline. "Aber es ist für Quentin Tarantino noch etwas ganz anderes. Die Wahrheit, 24-mal in der Sekunde. Filme müssen dorthin gehen, wo es wehtut, sonst taugen sie nichts. Und an diesem Leitfaden von Vertrautheit und Provokation sortiert der nun selbst erwachsene Regisseur seine Kino- und Filmerfahrungen. Zu lernen gibt es dabei immer was. ... Dieses Buch ist wie ein Tarantino-Film: scheinbar naiv und ein bisschen willkürlich an der Oberfläche, ziemlich raffiniert und gebrochen im Inneren." Übrigens, einen eigenen Podcast, in dem er mit Freunden Filme von VHS sichtet, hat Tarantino seit kurzem auch.

Weiteres: Endlich wird das Internet zum Privatfernsehen der Neunziger, denn die Streamingdienste werden sich künftig wohl mit Werbeblöcken finanzieren, glaubt Wilfried Urbe in der taz. Besprochen werden Pola Becks Verfilmung von Olga Grjasnowas Roman "Der Russe ist einer, der Birken liebt" (Tsp), Lila Neugebauers "Causeway" mit Jennifer Lawrence' Comeback im Indiefilm (Freitag), Hans-Christoph Schmids "Wir sind dann wohl die Angehörigen" nach dem Buch von Johann Scheerer (Welt) und die Serie "The Bear" (BLZ).
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Bühne

In der NZZ denkt Lilo Weber darüber nach, wie eine Reform des von Missbrauchsvorwürfen gezeichneten klassischen Balletts aussehen könnte. In der SZ erzählt die Schriftstellerin Kristen Roupenian, wie sehr sie Lars Eidinger in Thomas Ostermeiers "Hamlet"-Inszenierung, die sie in Brooklyn gesehen hat, beeindruckte.

Besprochen werden ein Auftritt des Griessner Stadls mit Elfriede Jelineks Frauenmördermonolog "Moosbrugger" im Studio Mahlerstraße in Wien (Standard), Marco Goeckes Choreografie "A Wilde Story" am Opernhaus Hannover (taz) und Sven-Eric Bechtolfs Inszenierung von Hindemiths "Cardillac" an der Wiener Staatsoper (Standard).
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Musik

Noch bis morgen kann man fünf neue Alben der anonym auftretenden britischen Soulband Sault herunterladen - sofern man das richtige Passwort errät (Unser Tipp: Probieren Sie es doch fürs Erste mit "godislove"). "Die neue Musik bewegt sich innerhalb der Grenzen, die Sault mit ihren bisherigen Alben für sich selbst abgesteckt haben als Bewahrerinnen afrodiasporischer Musikkulturen", erklärt Albert Koch auf ZeitOnline. Doch "was will das Kollektiv mit dieser Veröffentlichungspolitik eigentlich erreichen? Vielleicht einer Generation ein paar Hindernisse in den Weg legen, die es gewohnt ist, in Sekundenschnelle Musikwünsche auf Zuruf an Sprachassistentinnen erfüllt zu bekommen, und sie mit dem Musikdownload konfrontieren, einem im Jahr 2022 längst anachronistisch und unhandlich gewordenen Format. ... Das Statement, das Sault damit setzen, ist eher symbolischer Natur", denn "angesichts verschwindend geringer Gewinnausschüttungen aus dem Musikstreaming können unbekanntere Künstlerinnen als das Kollektiv Sault ihre Musik gleich verschenken, ärmer werden sie davon nicht mehr werden." Auch Christian Schachinger vom Standard ist der Download geglückt, er berichtet von einem "zwischen Vintage und Retro, Moderne und Hypermoderne sowie zwischen kratzendem und grammmelndem Vinylplatten-Soul und Bling-Bling-R'n'B changierenden Gesamtpaket".

Außerdem: Für den Tagesspiegel porträtiert Andreas Hartmann Daniel Meteo, der das exklusiv im Berliner Dussmann-Kulturkaufhaus vertriebene Kleinauflagen-Vinyl-Label Edition Dur betreut. In der taz stellt Maxi Broecking die brasilianische Schlagzeugerin Mariá Portugal vor. Ralf Dombrowski erzählt in der SZ von seiner Begegnung mit dem Trompeter Ibrahim Maalouf, dessen Jazz "die Linearität des Vorhersehbaren" verlasse. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Gisela Trahms über Chuck Berrys "You Never Can Tell", das durch Tarantinos "Pulp Fiction" endgültig zum ewigen Klassiker wurde:



Besprochen werden ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko (Tsp), die Compilation "Hallo 22" mit Funk und Soul aus der DDR (taz), Julia Jacklins Folkpopalbum "Pre Pleasure" (FR), Stephan Eichers Album "Ode" (NZZ), Phoenix' "Alpha Zulu" (online nacgereicht von der FAZ) und und ein neues Album von Lo & Leduc (TA).
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