Efeu - Die Kulturrundschau

Die einzige kleine Rebellion

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22.10.2021. In der SZ porträtiert Can Dündar die im Exil lebende kurdische Künstlerin Zehra Doğan. Die Welt fragt: Ist Max Liebermann wirklich ein europäischer Künstler? Die taz unterhält sich mit Jean-Yves Ferri über den neuen Asterix. Im Filmdienst erzählt die Doku-Filmerin Janna Ji Wonders Emanzipationsgeschichten aus ihrer Familie.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.10.2021 finden Sie hier

Kunst

In der SZ porträtiert Can Dündar die kurdische Künstlerin Zehra Doğan, die wegen ihrer Bilder in der Türkei fast drei Jahre im Gefängnis saß - sie hatte Polizisten bei einem Einsatz als Skorpione gemalt - und jetzt in Berlin lebt. Obwohl sie sich hier gut eingelebt hat, spürt sie schmerzhaft den Bedeutungsverlust als Künstlerin im Exil: "Als die Rede von Berlin auf Sulaimaniyya kommt, leuchten ihre Augen auf: 'In Sulaimaniyya gibt es kein Wasser und keinen Strom. Es herrscht Dürre. In den Gärten wimmelt es vor Schlangen und Skorpionen. Die Flüsse sind ausgetrocknet, die Fische tot. Aber der verdorrte Baum, die rissige Erde sind meins. Ich muss mich den Fischen in dem ausgetrockneten Flussbett stellen, muss für sie kämpfen. In der Türkei wird verhaftet, wer diesen Kampf führt. In Deutschland steht mir frei zu sagen und zu malen, was ich will. Für mich bedeutet Freiheit aber nicht, in einem demokratischen Land sagen zu können, was ich will, sondern dort couragiert 'Nein' sagen zu können, wo es am schwierigsten ist. Dieser Kampf macht die Freiheit kostbar.'"

Max Liebermann, Holländische Nähschule, 1876


Am Darmstädter Landesmuseum versucht eine Ausstellung Max Liebermann als europäischen Künstler zu beschreiben. Aber "kann ein Deutscher, ein mannhafter Preuße zumal, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein 'europäischer Künstler' sein? Nach 1870? Nach der Belagerung von Reims, an der Liebermann als Sanitäter teilnahm? Nach der Hungerblockade der französischen Hauptstadt? Nach dem demütigenden Deutschen-Sieg über Frankreich? Nach der Kaiserkrönung Wilhelm I. in Versailles", fragt ein skeptischer Hans-Joachim Müller in der Welt. "Vielleicht sollte man die Kunstgeschichte doch nicht allzu europäisch überstrapazieren - zumal bei einem Maler, dem die hochgemute Ich-Befähigung gleichsam in den Frack eingebügelt war. Jedenfalls müsste man schon blind sein, wenn man die erfolgsbürgerliche Leistungszufriedenheit übersehen wollte, die in diesem Werk jedes Bild grundiert."

Auch Laura Weißmüller hat jetzt für die SZ das Munch Museum in Oslo besucht. Der Bau beeindruckt sie nicht sehr, aber die Bilder von Munch! "Beglückt durch diese Kunsterfahrung beginnt man das Museum in seinem Hochhaus zu schätzen, Stockwerk für Stockwerk. Je höher es geht, desto großartiger werden die Blicke auf die Menschen unten, wie sie über das Dach der Oper laufen oder von einem der kleinen neuen Saunaschiffe ins Wasser springen. Auf das Licht in den Wolken und die Hügel, die sich in der Ferne abzeichnen. Auf das Meer und natürlich auch auf den atemberaubend schönen Fjord, den Edvard Munch in seinen Bildern so oft gemalt hat und der sogar in seinem Schrei auftaucht. Wenn man so will, antwortet die Bucht von Oslo also mit einer Umarmung auf MUNCH."

Pink Sunshine in der Wiener Staatsoper, von Beatriz Milhazes. Foto: Museum in Progress
Weitere Artikel: Der Standard annonciert einen neuen Theatervorhang von Beatriz Milhazes für die Wiener Staatsoper. In der FAZ freut sich Stefan Trinks für das Städel Museum in Frankfurt, das von der Philantropin Ulrike Crespo eine Jahrhundert-Schenkung erhalten hat, mit Werken von Dix, Marc, Klee, Ernst, Klimt über Léger, Schlemmer, Kirchner, Francis bis zu Kandinsky, Moholy-Nagy, Feininger, Jawlensky und Wesselmann. Besprochen werden eine Ausstellung über die "Dürerzeit" im Wiener Belvedere (Standard) und die Paula-Modersohn-Becker-Ausstellung in der Frankfurter Schirn (FR).
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Film

Drei Generation und ein See: "Walchensee Forever"

Im Filmdienst spricht Bettina Hirsch mit Janna Ji Wonders über deren (besprochen auf Artechock, ZeitOnline und in der SZ besprochenen) Dokumentarfilm "Walchensee Forever", in dem die Filmemacherin ihre Familiengeschichte matrilinear als Chronik weiblicher Emanzipation rund um ein von den Frauen ihrer Familie betriebenes Café erzählt. "Ich konzentriere mich dabei vor allem auf die Sicht der Frauen, von denen jede auf ihre Weise den patriarchalen Strukturen ihrer Zeit trotzt", sagt die Filmemacherin. "Meine Großmutter hat ihr Leben pflichtbewusst im Café am See verbracht, ganz hermetisch mit harter körperlicher Arbeit, symbolisch von äußeren Mauern umgeben. Die einzige kleine Rebellion gegen ihre Eltern war die Wahl ihres Ehemannes, der ja Künstler war. Im Gegensatz zu meiner Großmutter wollte sich meine Mutter dann aus der Enge des Dorfes befreien und ist als Fotografin und Musikerin um die Welt gereist. Der Walchensee hat aber auch sie nie ganz losgelassen. Ich wiederum habe heute eigentlich alle Freiheiten. Und ich habe das Gefühl, dass ich keine äußeren Mauern einreißen muss, sondern eher innere Mauern, um mich weiterzuentwickeln."

Außerdem: Im Standard empfiehlt Dominik Kamalzadeh die dem Filmkurator Amos Vogel gewidmete Retrospektive der Viennale. Rüdiger Suchsland schreibt auf Artechock einen Nachruf auf den Filmproduzenten Eberhard Hauff. Im Guardian schreibt Ai Weiwei einen Nachruf auf die Dokumentarfilmproduzentin Diane Weyermann.

Besprochen werden Monika Treuts Dokumentarfilm "Genderation" (Artechock), Clint Eastwoods "Cry Macho" (critic.de, SZ, Welt, mehr dazu bereits hier), Wes Andersons "The French Dispatch" (Artechock, NZZ, mehr dazu bereits hier), Yuri Ancaranis bei der Viennale gezeigter Film "Atlantide" (Standard, mehr dazu bereits hier), Todd Haynes' auf AppleTV+ gezeigte Doku "The Velvet Underground" (SZ, mehr dazu bereits hier), Dash Shaws und Jane Samborskis auf Mubi gezeigter Animationsfilm "Cryptozoo" (SZ), Laura Gabberts kulinarischer Dokumentarfilm "Ottolenghi und die Versuchungen von Versailles" (ZeitOnline), die Sky-Serie "Die Ibiza-Affäre" (FAZ), die Netflix-Serie "Squid Game" (taz) und die Netflix-Serie "Life's a Glitch", in der sich der Influencer Julien Bam selbst spielt (FAZ),
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Literatur

Für die taz spricht Ralph Trommer mit Jean-Yves Ferri, dem Szenaristen des neuen Asterix-Abenteuers (mehr dazu hier). Mythologische Aspekte stehen diesmal deutlich im Vordergrund, ist Trommer aufgefallen. Nähert sich der Comic der Fantasy an? "Wie René Goscinny bin ich von historischen Schriften ausgegangen, diesmal von Herodot, der aus einem heute verschollenen Epos des Aristeas von Prokonnesos zitiert. Darin erzählt Aristeas unter anderem von Amazonen, die gegen Greifen kämpfen, um an das von diesen gehütete Gold heranzukommen. Diese Quelle war die wichtigste Grundlage für die neue Geschichte. Neben paläontologischen Fossilienfunden im Eis, die möglicherweise die Vorstellung von Greifen inspiriert haben."

Außerdem: Penguin hat sich die deutschen Rechte an den Romanen des Literaturnobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah gesichert, meldet unter anderem der Standard. Die FR plaudert mit Wolf Biermann unter anderem über Gott und dessen "Bodenpersonal". Im Standard spricht Amira Ben Saoud mit dem österreichischen Schriftsteller Elias Hirschl über dessen Generalabrechnung mit dem System Sebastian Kurz (unser Resümee). Gerrit Bartels schlendert für den Tagesspiegel beim kanadischen Pavillon auf der Frankfurter Buchmesse vorbei. Für die FAZ schickt Tilmann Spreckelsen Skizzen von der Buchmesse. In der SZ gratuliert Tobias Lehmkuhl der literaturwissenschaftlichen Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter zum 60-jährigen Bestehen. Außerdem bringt ZeitOnline zur Buchmesse einen ganzen Blumenstrauß von Gedichten, Essays und Geschichten diverser Schriftstellerinnen und Schriftsteller.

Besprochen werden unter anderem Simone de Beauvoirs Nachlassroman "Die Unzertrennlichen" (NZZ), Lee Lais Comic "Steinfrucht" (Tagesspiegel), Helmut Böttigers "Die Jahre der wahren Empfindung" über die deutsche Literatur der Siebziger (Freitag), Emine Sevgi Özdamars "Ein von Schatten begrenzter Raum" (FAZ), Lajos Kassáks Autobiografie (Freitag) und Michael Köhlmeiers "Matou" (SZ).
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Bühne

Der Choreograf Boris Charmatz wird neuer Leiter des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch, meldet der Tagesspiegel.

Besprochen werden die Uraufführung von Anne Leppers Jugendstück "Hund wohin gehen wir" am  - Staatstheater Darmstadt in der Regie von Alia Luque (nachtkritik), "Sehnsucht.Lohengrin" an der Berliner Staatsoper (nmz) und die Choreografie "Monument 0.9" von Eszter Salamon im Berliner HAU 1 (Tsp).
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Architektur

Angesichts der Bauskandale der letzten Jahre, bei denen die Kosten explodiert sind, weist Gerhard Matzig in der SZ fröhlich nach München: "Von München lernen heißt bauen lernen. Kaum zu begreifen, ja ein Wunder", ruft er, denn mit der Isarphilharmonie und dem Volkstheater wurde dort zuletzt nicht nur schön gebaut, es wurden auch Zeit- und Kostenpläne eingehalten. Architekt Arno Lederer, verantwortlich für das Volkstheater, erklärt ihm am Telefon, worauf es ankommt: "Was Lederer erzählt und was auch das Büro GMP für die Isarphilharmonie bestätigt, ist im Grunde simpel: Es schadet nicht, wenn man sich vertraut, wenn nicht allzu viele Gremien und Subsubsubs beteiligt sind, wenn vieles auf Zuruf erledigt werden kann. Der Bauherr soll sich vorab Zeit für das nehmen, was er eigentlich haben will. Die Architektinnen und Architekten sollen sich vorab Zeit nehmen für die Pläne. Dann erst kann man Zahlen nennen - und wenn dann alle Beteiligten auch noch was können, gelingt das Projekt. So einfach. Und doch so exotisch?"

Weiteres: In der NZZ berichtet Sabine von Fischer von einer hochkarätig besetzten Diskussion in Zürich zur Frage, wie sich Architektur im Museum widerspiegeln lasse: "Architektur sammeln und zeigen ist schwieriger, als man vorerst denken könnte. Wohnungen, Straßenzüge, Städte lassen sich nur in Repräsentationen an die Wand hängen oder in einem Raum aufstellen. Trotzdem benötigt die im Alltag allgegenwärtige Architektur genauso wie die Kunst auch Ausstellungen, als Räume der Reflexion."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Lederer, Arno

Musik

In der taz spricht Julian Weber mit dem amerikanischen Kulturwissenschaftler Louis Chude-Sokei, dessen Essay "Threshold" beim Berliner Festival "The Sound of Distance" als Medienperformance aufgeführt wird. Unter anderem geht es in dem Gespräch um die tragende Rolle David Bowies in Chude-Sokeis Leben und Werk, auf den er erstmals als Kind im Flüchtlingscamp in Gabun stieß, doch seinen Namen erfuhr er erst in den 70ern in den USA: "Er wurde mein erster Held. ... Wir hatten kein Geld für einen Plattenspieler, aber es gab einen Kassettenrekorder, mit dem ich Schnipsel von Bowie-Songs aus dem Radio mitgeschnitten habe. Als ich älter wurde, habe ich seine Texte besser verstanden. Über Bowie kam ich etwa zu Anthony Burgess und 'Clockwork Orange' und zum SciFi-Autor Robert Heinlein. Er brachte mir etwas näher, das ich als afrikanisch-karibischer Emigrant in den USA selbst so niemals herausgefunden hätte. ... Als ich jünger war, empfand ich die Musik als Zuhause, inzwischen ist es auch die Arbeit. Zuhause ist kein Ort mehr, eher Seinszustand."

Außerdem: Der Internationale Deutsche Pianistenpreis geht an Dmitry Ablogin, meldet Guido Holze in der FAZ. Jakob Biazza plaudert in der SZ mit Duran Duran. In der FAZ gratuliert David Geringas der Komponistin Sofia Gubaidulina zum 90. Geburtstag. Karl Lippegaus (Dlf) und Hilmar Klute (SZ) erinnern an den Chansonnier Georges Brassens, der vor 100 Jahren geboren wurde. Dazu passend gibt es beim Dlf Kultur ein Feature von Susanne von Schenck und Ralf Bei der Kellen - und von uns ein Youtube-Video:



Besprochen werden eine CD mit Aufnahmen aus dem Spätwerk des Komponisten Georg Katzer (NMZ), Joakims Album "Second Nature", dessen Klanggrundlage Natursamples bilden (taz), Isolation Berlins Poesie-Post-Punk-Album "Geheimnis" (Jungle World), Taylor McCalls Debütalbum "Black Powder Soul" (FR), ein Musikalbum von Hape Kerkeling, das SZ-Kritikerin Juliane Liebert schier in die Verzweiflung treibt: "Musik wie aus dem Limbo, der Vorhölle. Ohne Schmerzen, ohne Erlösung." Wir sparen uns den Videolink.
Archiv: Musik
Stichwörter: Bowie, David, Post-Punk, Gabun