Efeu - Die Kulturrundschau

Viel feinstoffliches Miteinander

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17.05.2021. Die SZ erinnert an den Abriss des Nationaltheaters in Tirana vor einem Jahr. Im Tagesspiegel fürchtet die Regisseurin Simone Dede Ayivi, dass sich in herrischen Theaterstrukturen vor allem die zähen und lauten Typen durchsetzen. Die Welt möchte lieber vor Bismarck als vor der Majestät der politischen Korrektheit in  die Knie gehen. Die FAS hadert dagegen mit dem Literarischen Quartett als neuer Trutzburg gegen die Cancel Culture. Und die NZZ genießt Literaturlesungen auch gern beim Spazierengehen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.05.2021 finden Sie hier

Bühne

Vor einem Jahr wurde das Nationaltheater in Tirana abgerissen, doch die albanischen SchauspielerInnen haben ihre Kampf gegen die dort geplante Shopping Mall noch nicht aufgegeben, berichtet Florian Hassel in der SZ. Sie streiten weiter für einen Wiederaufbau des Theaters, arbeiteten den skandalösen Hergang minutiös auf und reichten Klagen gegen die beteiligten Politiker ein: "Unter Rama verschwindet in Tirana ein historisches Gebäude nach dem anderen, wird die Stadt mit Wolkenkratzern, Apartmentblocks und Malls überzogen. Den Zuschlag bekommen die immer gleichen Bauunternehmer, etwa Shkelqim Fusha. Im Februar 2018 schlägt Fusha der Stadt, geführt von Ramas früherem Kulturminister Erion Veliaj, vor, im Stadtzentrum ein neues Nationaltheater zu bauen - und sechs Wolkenkratzer mit Wohnungen und Geschäften. Fusha gehören dort nicht einmal drei Prozent des zum Bau benötigten Landes, der Löwenanteil ist öffentlicher Besitz - etwa des Nationaltheaters. Die albanische Bürokratie - von der Stadt bis zum Regierungschef und von dessen Partei kontrolliertem Parlament - liefert in wenigen Wochen alle Gutachten, Stellungnahmen, Abstimmungen."

Die Regisseurin Simone Dede Ayivi spricht im Tagesspiegel über Macht und Angst am Theater, möchte aber den Einzelnen angesichts patriarchaler Strukturen nicht aus der Verantwortung lassen: "Der Theaterbetrieb ist von der Ausbildung an darauf angelegt, Druck von oben nach unten weiterzugeben. In diesem patriarchalen System bestehen eben nicht die kollegialsten, höflichsten, fürsorglichsten Menschen. Sondern diejenigen, die am zähesten sind und am lautesten schreien. Der Fehler liegt nicht nur im System. Die Hierarchien begünstigen ein bestimmtes Verhalten, sie sind aber nicht allein verantwortlich für die Missstände. Es geht immer auch um den einzelnen Menschen."

Weitere Artikel: Christian Zaschke verschafft sich für die SZ bei New Yorks SchauspielerInnen ein Stimmungsbild kurz vor Öffnung der Theater am Broadway. Axel Köhler, Rektor der Dresdner Musikhochschule, beklagt im FAZ-Interview, dass Sachsen dem Dirigenten Christian Thielemann ab 2024 den Stuhl vor die Tür setzt. taz-Korrespondentin Verena Harzer geht mit Modesto Flako Jimenez auf "Theater-Taxifahrt" durch New Yorks Bushwick. Sylvia Staude schreibt in der FR zum Tod des Tänzers und Choreografen Raimund Hoghe, Dorion Weickmann in der SZ.

Besprochen werden Anja Hillings Überschreibung von Paul Claudels Teil "Das harte Brot" am Münchner Residenztheater (Nachtkritik) und Lukas Rietzschels politisches Drama: "Widerstand" in Leipzig (FAZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Sicher, meint Tilman Krause in der Welt: Machtfülle, charakterliche Deformation und Altersstarrsinn haben Wilhelm von Bode zu einem problematischen Museumdirektor gemacht. Aber wie das Museum seinen Gründer in der Ausstellung "Klartext!" komplett demontiert und ohne Belege als Antisemiten darstellt, geht Krause zu weit: "Keine Frage: Am Beispiel dieses Hauses lässt sich viel über deutsche Verwerfungen und Modernisierungsstau erzählen. Wie lebendig und anschaulich hätte die Selbstproblematisierung hier geraten können, wenn man Bode als Exponenten der schon zu seiner Zeit so umstrittenen Hofkunst präsentiert hätte, in einer Reihe mit dem eingangs erwähnten Architekten Ihne oder auch dem Maler und Präsidenten der Preußischen Akademie der Künste, Anton von Werner, diesen Geheimräten mit vielen Parallelen zur Geschmacksverbildung Wilhelms II. - und auf der anderen Seite den Internationalisten der darauffolgenden Generation, den Cassirers, Kesslers, Schefflers, Meyer-Graefes. Aber so bleibt der etwas schale Eindruck, dass die Ausstellungsmacher sich einer neuen Autorität zu Füßen werfen: Ihrer Majestät der Politischen Korrektheit. Dann doch lieber ein Kniefall vor Otto von Bismarck!"

Weiteres: Philipp Meier zerbricht sich in der NZZ den Kopf, ob ihm die im Kunstmuseum Bern gezeigte Gegenwartskunst aus Süd- und Nordkorea gefallen darf. Joana Nietfeld porträtiert im Tagesspiegel die Künstlerin Louisa Clement als Meisterin der Künstlichkeit.
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Architektur

Kö-Bogen II. Bild: Christoph Ingenhoven

Grüne Fassaden oder vertikale Parks sind in Mode, an der Königsallee in Düsseldorf wurde gerade ein mit acht Kilometer Hainbuchenhecken bepflanztes Geschäftshaus errichtet, weiß Ulf Meyer in der NZZ. Aber was die Ökobilanz angeht, bleibt Meyer skeptisch, auch wenn Architekt Christoph Ingenhoven als Pionier des Green Building gelte: "'Grün ist das neue Gold', schrieb Claudia Moll, Präsidentin des Bunds Schweizer Landschaftsarchitektinnen und -architekten kürzlich, 'Grau ist das neue Grün', lautet wiederum ein Schlagwort der Kritiker von sichtbar grüner Architektur. Denn Architekten, wenn sie nicht im Team mit Landschaftsarchitekten arbeiten, sind manchmal zu schnell mit dem grünen Filzstift und zeichnen die absurdesten Dachgärten auf papierdünne Betonplatten. Nur selten beschäftigen sie sich vertieft mit vegetativer Architektur, die eben auch Tiefe zum Wachsen braucht."
Archiv: Architektur

Literatur

Am "Literarischen Quartett" des ZDF - immerhin die letzte Literatursendung, die im öffentlich-rechtlichen Fernsehen noch einigermaßen sichtbar ins Schaufenster gestellt wird - hat Tobias Rüther nur noch wenig Freude, schreibt er gestern in der FAS: Keine Literaturkritiker mehr in der Runde, dafür in den Gesprächen mitunter aber ein "Schlaumeierton" aus dem Oberseminar. Und überhaupt scheint es ihm mehr und mehr darum, zu gehen "Politik zu machen und zwischen den Zeilen Statements zu setzen. Gegen vermeintliche Cancel-Kultur, gegen den sogenannten verengten Meinungskorridor eines politisch korrekten und gegenderten Diskurses, aber für, um einen zentralen Begriff der Gastgeberin Dorn zu benutzen, die 'Freiheit' mit Blick auf die Coronamaßnahmen."

Die lautesten Kritiker der fortwährenden Auszeichnungen Peter Handkes durch serbische Nationalisten sind übrigens serbische Intellektuelle, schreibt Alida Bremer in einer Kolumne für die Deutsche Welle: "So schrieb der Literaturkritiker Teofil Pančić, dass Handke 'zum wer-weiß-wievielten Mal bewusst den Tanzbären der serbischen und der serbisch-bosnischen nationalistischen extremen Rechten spielte, derselben Rechten, die ihn im Kontext seiner beiden Heimatländer stören - jenem, in dem er geboren wurde, und jenem anderen, in dem er lebt. So ist es, wenn man koloniales Denken pflegt und auf die 'Eingeborenen' nicht dieselben Standards anwendet wie auf sich selbst und auf eigene Mitmenschen'. Doch vergeblich: Handke hat noch nie einen Dialog mit andersdenkenden Serben gesucht, sondern immer nur die Übereinstimmung mit den Nationalisten und die Nähe zu den Herrschenden."

Roman Bucheli singt in der NZZ ein Loblied auf die in Coronazeiten gestreamten Literaturfestivals: Saß man früher etwa bei den Solothurner Literaturtagen eng zusammen und blickte sehnsüchtig nach draußen ins von der Sonne gebadete Freie, spielt man nun einfach, gerade wo es einem passt, via Mobilnetz Mäuschen - sofern Datenvolumen, Netz und Aku des Empfangsgeräts denn mitmachen. "Ich ging die Stadt hinunter, als Alberto Nessi bewegende Sätze über den Kopfhörer meines Handys direkt in mein Ohr sprach. Kunst wird nicht die Welt verändern, sagte er im Gespräch über sein Tagebuch 'Corona Blues', aber sie wird unsere Sicht auf die Welt verändern. Und noch während er vom Glück und von der Schönheit der Literatur redete und ich durch die Straßen ging, glaubte ich zu wissen, was er meinte, da er von seiner Zuversicht erzählte, als täte er es ausschließlich für mich."

Weitere Artikel: Im Standard porträtiert Ivona Jelcic die Lyrikerin Barbara Hundegger, in deren Gedichten sich, wenn sie "die Sprache auseinandernimmt und verdichtet, weite Denkräume auftun, die mit präzisen Blicken auf die Realität möbliert sind." Gerrit Wustmann wirft für 54books einen Blick in die Welt der Schundromane. In der Dante-Reihe der FAZ schreibt Heather Webb über Dantes Konzept des "Luftkörpers".

Besprochen werden unter anderem Ivica Prtenjačas "Der Berg" (Freitag), Joachim Kalkas Neuübersetzung von Arthur Machens Horrorklassiker "Der Große Pan" (taz), Juli Zehs "Über Menschen" (FR), Aleksandar Tišmas Autobiografie "Erinnere dich ewig" (Standard), Mathijs Deens "Der Schiffskoch" (Standard), John Wrays "Madrigal" (Welt), eine Comicadaption von Orwells "1984" (Welt) und Hörspiele, darunter eine Box mit acht historischen Radiohörspielen nach Vorlagen vom Stanisław Lem (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Wolfgang Matz über Charles Baudelaires "Ohne Titel":

"Ich hab's nicht vergessen, bescheiden und weiß
unser Haus hinterm Stadtrand, klein aber leis
..."
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Film

Urs Bühler unterhält sich in der NZZ mit Eugene Chaplin über dessen Vater Charlie. Perlentaucher-Filmkritiker Jochen Werner und Matthias Dell ergründen in einem großen Filmgespräch im Dlf Kultur die Filmwelten des Thomas Gottschalk. Kevin Hanschke erinnert in der FAZ an die vor 75 Jahren gegründete DEFA. Die ARD-Mediathek bietet dazu derzeit ein umfangreiches Dossier mit zahlreichen Spielfilmen aus der DDR-Filmproduktion. Weitere DEFA-Filme lädt die DEFA-Stiftung auf Youtube hoch.

Besprochen werden Andrew Ahns Sozialdrama "Driveways", der nach dem Tod von Hauptdarsteller Brian Dennehy im vergangenen Jahr nun dessen künstlerisches Vermächtnis darstellt (Tagesspiegel, SZ), David France' auf Arte gezeigte Doku "Welcome to Chechnya" über Homofeindlichkeit in Tschetschenien (Freitag), Michalis Konstantatos' "All the Pretty Little Horses" (SZ) und eine neue Verfilmung des Videospiels "Mortal Kombat" (FAZ).
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Musik

Andrian Kreye schwärmt in der SZ vom Jazztrio Vijay Iyer, Linda May Han Oh und Tyshawn Sorey, bei denen "viel feinstoffliches Miteinander" zu beobachten ist. Wie sich im Stück "Night and Day" gut nachvollziehen lässt, "spielen die drei in jedem Moment auf Augenhöhe. Auch wenn Iyer die gar nicht mal so banale Akkordfolge des Stückes mit Linien umspielt, die im Normalfall für sich stehen würden. Doch vom ersten Moment an holen Tyshawn Sorey und Linda May Han Oh ihre Instrumente aus der Dienstleistungsrolle der Rhythmusgruppe. Sorey öffnet sein Drumkit in Melodieformen, wie sie nur wenige Schlagzeuger beherrschen. Oh hält die Mitte, ohne sich auf bewährte Muster zu verlassen. Beide lösen sich auf Strecken aus der Struktur. Aber das bleiben Dialoge mit den jeweils beiden anderen. Da gibt es kein Egotripping, keine Show. Hierarchien sind erledigt." Die drei bilden "eines jener seltenen Trios, die als Einheit das Ideal von Demokratie und Kommunikation verkörpern." Ein weiteres Stück vom neuen Album "Uneasy" hören wir hier:



Aus einem SWR-Gespräch mit dem Kritiker und Autor Wolfgang M. Schmitt darüber, dass auch in der klassischen Musik die Musiker immer häufiger in Influencer-Logiken operieren müssen, um in der Branche am Ball zu bleiben, nimmt NMZ-Autor Konstantin Parnian einige wichtige Hinweise an die Klassikkritik mit: "Auf die Frage, ob die klassische Musik in Zukunft 'schlecht, aber sexy' sein werde, gibt Schmitt zu bedenken, dass Veranstalter offenbar auf die Zahl der Follows schauen, wenn sie entscheiden, wen sie buchen. Wer sich also in Zukunft fragt, warum diese oder jene Person da auf der Bühne steht, kann im Anschluss an die Vorstellung ja mal auf den einschlägigen Plattformen online suchen. ... Gerade schreibende Kolleginnen und Kollegen möchte ich ermuntern, den Social-Media-Auftritt von Künstler*innen zukünftig mehr ins Blickfeld zu rücken - auch ergänzend zum realen Auftritt. Denn es ist durchaus denkbar, dass Social-Media-Reichweite eine noch bedeutendere Rolle für Besetzungsplanungen einnimmt."

Außerdem: Florian Bissig berichtet in der NZZ vom Jazzfestival "Unerhört". Jens Balkenborg porträtiert im Freitag DJ Roman Flügel, der derzeit in einem Impfzentrum aushilft. Jüri Reinvere schreibt in der FAZ einen Nachruf auf die estnische Komponistin Ester Mägi. Auf ZeitOnline gratuliert Reinhard Köchl Klaus Doldinger zum 85. Geburtstag. In der New York Times schreibt Ben Sisario einen Nachruf auf den New Yorker Punkmusiker Jack Terricloth, der mit seiner World/Inferno Friendship Society das dekadente Weimar aufleben ließ. Die Musikindustrie nahm kaum Notiz von ihnen, ihre Konzerte waren ausschweifende Feste:



Besprochen werden ein neues Album des Calmus-Ensembles (Tagesspiegel) und das Debütalbum der Londoner Post-Punk-Band Dry Cleaning (Jungle World).
Archiv: Musik