Efeu - Die Kulturrundschau

Elfenbein! Ebenholz!

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.01.2021. Die FAZ protestiert gegen die Refeudalisierung der Stadtplanung und fordert mehr Architekturwettbewerbe. Der DlfKultur vernimmt Anzeichen für eine mögliche Verschiebung der Documenta. Mehr als das Theater selbst vermisst die SZ das Publikum. Die Welt ahnt, wie schwer es künftig für britische MusikerInnen sein wird, in die EU zu reisen. Die FAZ bewundert den französischen Chic der frühen DDR-Mode. Zur Abwechslung findet die taz verliebte, glückliche Schwarze im Film auch mal ganz schön.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.01.2021 finden Sie hier

Architektur

Zaubertürme für München: Herzog&de Meuron

Immer häufiger können Immobilieninvestoren ihre Hochhauspläne ohne Architekturwettbewerbe durchsetzen, beklagt Matthias Alexander in der FAZ, wenn sie nur mit großen Namen auftreten. "Ein Paradebeispiel ist gerade in München zu erleben. Dort will der Immobilienunternehmer Ralf Büschl auf dem Paketposthallenareal im Westen der Stadt zwei 155 Meter hohe Türme errichten. Obwohl es noch gar kein Planungsrecht gibt, hat er die Öffentlichkeit vor etwa anderthalb Jahren mit einem Entwurf der Schweizer Stararchitekten Herzog & de Meuron überrascht. Ihre Computerbilder zeigen zwei gläserne Türme, die sich vor dem leuchtenden Münchener Himmel in Luft aufzulösen scheinen, beinahe so, als hätte sie William Turner gemalt. Das ist natürlich fauler Budenzauber. Wie die Münchner nach ihren schmerzhaften Erfahrungen mit den Highlight-Towers wissen können, sind Glasbauten je nach Glassorte und Wetterlage grün, blau, grau oder auch gleißend hell, wenn sie das Sonnenlicht reflektieren, aber niemals transparent. Umso klarer ist das Kalkül des Investors: Mit der Aura der Unantastbarkeit, die die prominenten Architekten umgibt, sollen potentielle Kritiker beeindruckt werden." Ebenso ärgert Alexander, dass sich ausgerechnet SZ-Kritiker Gerd Matzig in einer Art "Plädoyer für die Refeudalisierung" über die eingeforderte Bürgerbeteiligung mokierte (unser Resümee).
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Design

Begeistert blättert sich FAZ-Kritikerin Rose-Maria Gropp durch den Prachtband "Zwischen Schein und Sein. Ostdeutsche Modegrafik 1960-1990", denn der hier gestattete "Blick auf die Vielfalt einer verschütteten Tradition der Modeillustration in der DDR ist so erhellend wie unterhaltsam. Es beginnt in den sechziger Jahren, und gar nichts ist da fremd. ... Noch sehr französisch angehaucht ist dieser Chic, elegante Köstümchen, Ensembles, spitze Pumps, Topfhüte, Kurzmäntel und Trenchcoats. Die Siebziger sind purer Pop, im sehr grafischen Umriss-Stil der Entwürfe wie entsprechend in den Modellen von Schlaghosen, darüber ärmellosen langen Westen, vielleicht etwas weniger Hot Pants und Miniröcke, dafür sind die Swinging Sixties nun in der DDR angekommen, ein Hauch von Hippie Fashion."
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Literatur

Caroline Jebens plädiert in einem online nachgereichten FAS-Text dafür, Art Spiegelmans Comicklassiker "Maus" zur Schullektüre zu machen. Denn: In den literarischen Werken, die ansonsten auf dem Lehrplan stehen, spiele meist die Zeit vor dem Holocaust eine Rolle, doch "die Ermordung der Juden bleibt eine Leerstelle. ...Ein generelles Umdenken könnte diese Lücke schließen: wenn sich die Lehrpläne konsequenter von der Perspektive 'der Täter' verabschieden würden. Dass 'Maus' in deutschen Lehrplänen fehlt, bestätigt die These des Historikers Raul Hilberg, nach der der Nationalsozialismus in Deutschland problematischerweise vor allem Familiengeschichte sei. Zwar seien der Zweite Weltkrieg und der Nationalsozialismus präsent, der Mord an den Juden werde aber lediglich als schlimmster Auswuchs einer Ideologie wahrgenommen. Die Erinnerungen der Opfer, Überlebenden, Nachkommen bleiben auf seltsame Weise 'jüdisch-fremd'."

Außerdem: In der FAZ erinnert Markus Bauer an den rumänischen Ingenieur und Schriftsteller Gheorghe Ursu, der in den Siebzigern die haarsträubenden Hintergründe entlarvte, warum in Rumänien 1977 ein Wohnblock einstürzte und dabei über 1500 Menschen in den Tod riss, und in den Achtzigern von Handlangern des Ceauşescu-Regimes ermordet wurde.

Besprochen werden unter anderem zwei Bände mit Kritiken und Erzählungen von Wolfgang Welt (FR), Hans Ulrich Gumbrechts "'Prosa der Welt'. Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung" (NZZ), Sandra Newmans "Himmel" (ZeitOnline), Jay H. Gellers "Die Scholems. Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie" (taz), Olivia Mannings "Der größte Reichtum" (FR), Johann Scheerers "Unheimlich nah" (online nachgereicht von der FAS), Xavier Dorisons und Félix Deleps Comic "Schloss der Tiere" (Tagesspiegel), Tschingis Aitmatows "Tiergeschichten" (Freitag), Ivo Andrićs "Insomnia. Nachtgedanken" (SZ) und Mirko Bonnés Neuübersetzung von Joseph Conrads "Der Niemand von der 'Narcissus'" (FAZ).
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Kunst

Im DlfKultur erkennt Ludgar Fittkau erste Anzeichen dafür, dass die nächste Documenta 2022 auf 2023 verschoben werden könnte, wie er im Gespräch mit der Generaldirektorin Sabine Schormann erfahren hat: "Noch sei sie nicht so weit, dass sie das abschließend bewerten könne, so Sabine Schormann. Dafür sei auch noch Zeit bis zum Sommer. Aber sie sehe die Lage heute deutlich skeptischer als noch vor sechs Wochen."

Weiteres: Im Standard porträtiert Katharina Rustler die Künstlerin Barbara Kapusta, die in ihren Arbeiten  feministische Theorie und Science-Fiction verbindet dafür gerade mit dem Otto-Mauer-Preis ausgezeichnet wurde, Rustler zufolge eine der bedeutendsten Auszeichnungen in Österreich. Der Guardian startet eine neue Serie, in der er "verborgene Schätze" britischer Museen vorstellt.

Besprochen werden Besprochen werden die eine um ein Caravaggio-Gemälde herum gruppierte Ausstellung "Caravaggio. Das Menschliche und das Göttliche" in der Dresdner Gemäldegalerie (Tsp) und die "Italia"-Ausstellung des Fotografen Herbert List in der Pariser Galerie Karsten Greve (Monopol).
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Bühne

SZ-Kritikerin Marie Schmidt vermisst natürlich auch das Theater, das Kino, die Musik, aber sie vermisst auch die Orte, den Marmor und das Parkett, die Nebelmaschine und die Kanapees und vor allem das Publikum: "Nach der ewigen Weisheit des Loriot-Humors sitzt man ja im klassischen Konzert meistens neben dem Banausen, der die Karten beim Preisausschreiben einer Bratfett-Firma gewonnen hat. Gibt es eine bessere Übung in Demut für den Snob? So übersichtlich im Saal verteilt, ist das Publikum die beste Metapher für 'Gesellschaft'."
Archiv: Bühne
Stichwörter: Loriot

Film

Anna Dushime ist in der taz ganz hingerissen von dem Liebesfilm "Sylvie's Love", der zwar im Harlem der Fünfziger und Sechziger spielt, seine schwarzen Figuren aber nicht für ein Rassismusdrama nutzt, sondern sie eine Liebesgeschichte erleben lässt: "Wir wollen auch mehr Geschichten, die glückliche und (unglücklich) verliebte Schwarze Menschen zeigen." Die tazlerinnen und tazler sind ganz aufgeregt, dass "Sex and the City" - wenn auch unter neuem Namen und mit etwas kleinerer Besetzung - auf die Bildschirme zurückkehren wird.

Besprochen werden die Netflix-Serie "Lupin", in der berühmteste Gentleman-Gangster der französischen Literatur als schwarze Figur neu erfunden wird, die denn auch den Rassismus der Gesellschaft gegen diese ausspielt (NZZ), Steve McQueens BBC-Anthologieserie "Small Axe" über die Geschichte der karibischen Community in England (Tagesspiegel) und Kornél Mundruczós Netflix-Drama "Pieces of a Woman" (Tagesspiegel, Welt).
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Musik

Gut beraten ist Simon Rattle, sich vor dem politischen Brexit aufs Festland-Europa zurückzuziehen (hier unser Resümee), meint Manuel Brug in der Welt: Für britische Musiker könnte es nämlich künftig schwierig werden, in der EU Geld zu verdienen - visumfreie Reisen für Musiker werde es nicht geben, meldet zumindest der Independent. Spontane Gastspiele wären damit eine Sache der Vergangenheit und "Musiker hätten einmal mehr die Verliererkarte gezogen. Sie werden sowieso schon durch die absurden, sich dauernd ändernden Regeln der Fluggesellschaften hinsichtlich der Mitnahme ihrer Instrumente in der Kabine gegängelt und vor allem bei wertvollen, alten Celli oder Geigen auch von Zöllnern und Naturschützern (Elfenbein! Ebenholz!) in Schach gehalten. Und das, wo die meisten in den vergangenen zehn Monaten sowieso fast überhaupt nichts verdienen konnten. Angeblich denken deshalb bereits über die Hälfte der britischen Musiker ernsthaft darüber nach, ihren Beruf aufzugeben."

Hannah Bethke schreibt in der FAZ über ihre Synästhesie - dass sie also beim Musikhören, noch mehr aber beim Musizieren unwillkürlich akustische auch in visuelle Reize übersetzt. Man wird fast neidisch, wenn man von dem Farbenmeer liest, das insbesondere Brahms in seiner Musik verborgen habe: "Die filigranen Elemente, die in meiner synästhetischen Wahrnehmung manchmal wie kleine, violett schimmernde Glaskugeln aussehen, gehören zu den überraschenden Momenten im 'Deutschen Requiem'. ...  Die Blasinstrumente produzieren Lichtfunken und dunkelblaue Farblinien, bevor die Pauke mit weißen Riesenkreisen die tiefen Chorstimmen einläutet, die schließlich den gesamten Klangraum mit hellen Pfeilen, violetten, sich bewegenden Schlangenlinien und einer gelben, expandierenden Kugel ausfüllen."

Weiteres: Wolfgang Sandner schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Jazz-Tubaspieler Howard Johnson. Wie er mit seinem Instrument das Bühnenbild beherrschte, ist sehr beeindruckend:



Auf Social Media hat sich Lana del Rey nach der Ankündigung ihres neuen Albums sehr entrüstet gezeigt, als ihr vorgeworfen wurde, ihre Entourage sei zu wenig divers, was als Vorwurf noch nicht einmal zutreffe, schreibt Jakob Biazza in der SZ-Popkolumne. Außerdem hat die Musikerin gerade ihr neues Video online gestellt, mit dem sie ihr für März angekündigtes, neues Album bewirbt. Ein Analogfilm fetischisierender Exzess in satten Farben, der am Ende in blanken Americana-Surrealismus kippt - schön!



Besprochen wird Steve Earles Album "J.T.", auf dem der Countrysänger, der in den 90ern knapp den Absprung von Heroin schaffte, um seinen Sohn trauert, dem dies nicht gelungen ist (SZ).
Archiv: Musik