Efeu - Die Kulturrundschau
Es geht immer um die Sache.
Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Bühne

Das um sich selbst kreisende Diskurspop-Theater von René Pollesch kann dem harten Realitätscheck unter Coronabedingungen nicht standhalten, erkennt Peter Laudenbach in der SZ nach der Premiere von "Melissa kriegt alles" am Deutschen Theater. Aber Hakan Savaş Mican eröffnete die Saison am Maxim-Gorki-Theater mit seiner Großstadtballade "Berlin Oranienplatz" fulminant, schwärmt Laudenbach. Die "warmherzige Großstadtballade" erzähle vom verkrachten Can, der für fünf Jahre ins Gefängnis soll, weil er gefälschte Markenklamotten vertickt hat, und der jetzt Abschied nimmt, bevor er nach Istanbul flieht: "Er besucht den Freund, der irgendwann mit Cans Jugendliebe eine Familie gegründet hat und jetzt wohl die nächsten 40 Jahre lang seine Eigentumswohnung abbezahlt (Emre Aksizoglu). Es ist eine einzige melancholische Liebeserklärung an Kreuzberg und die Schicksale, die sich zwischen Oranienstraße und Prinzenbad kreuzen. Can, der ehrgeizige, naive Junge mit beschränktem Realitätssinn und den immer etwas zu großspurigen Mackerposen, ein reiner Tor und Großstadtdrifter, hat sein Leben gegen die Wand gefahren. Er scheint immer noch bei jeder Begegnung darüber zu staunen." In der FAZ genießt Irene Bazinger die "leichthändig-humorvolle, musikalisch charmante" Inszenierung. Auch auf ZeitOnline sieht Niels Erich darin eine gelunge Aktualisierung von Döblins "Alexanderplatz".

Marina Abramovics neue Perfomance "7 Deaths of Maria Callas" wird heute Abend an der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt. Es geht darin aber nicht um den Katholizismus, versichert die Künstlerin im Gespräch mit Rita Argauer in der SZ, sondern um die Hingabe - an die Liebe und die Kunst: "Viele Künstler hadern zu Beginn ihrer Karriere. Sie wollen Kunst machen, aber haben so viele Zweifel. Ich habe das Glück, dass ich von einem ganz frühen Stadium an wusste, dass ich Künstlerin werden will. Ich habe das nie hinterfragt. Ich habe nie etwas anderes gemacht. Zum zweiten, und das mag ein kommunistischer Gedanke sein, der aus meiner Erziehung kommt, ist das eigene private Leben nicht wichtig. Es geht immer um die Sache. Es geht nicht darum, glücklich zu werden, sondern darum, was man der Gemeinschaft geben kann. Das ist die Hauptsache. Was bleibt also übrig, wenn man stirbt?"
Weiteres: In der Berliner Zeitung stellt Birgit Walter ungläubig fest, dass sich auch nach acht Monaten Skandalberichten personell nichts an der Staatlichen Ballettschule geändert habe. In der taz sichtet Astrid Kaminski die Performances brasilianischer KünstlerInnen im Online-Programm vom Tanz im August, die zu ihrem Bedauern aber so schlecht aufbereitet seien, dass man sie ohne tiefere Kenntnisse nicht verstehen könne. Harals Raab berichtet in der Nachtkritik vom Auftakt des Kunstfest Weimar. Der Tagesspiegel meldet, dass der Friedrichstadtpalast jetzt unter Denkmalschutz steht.
Besprochen werden Antú Romero Nunes' Schiller-Potpourri "Ode an die Freiheit" am Hamburger Thalia Theater (SZ), Rainer Merkels Stück über eine Hilfsorganisation "Lauf und bring uns dein nacktes Leben" im Staatstheater Darmstadt (FR) und die Ausstellung "Poröse Stadt - Grenzgänge des Urbanen" im Berliner Kunstraum Kreuzberg (Berliner Zeitung).
Kunst
Besprochen werden die Ausstellung "Extra Large" in der Kunsthal Rotterdam, die Tapisserien der Moderne zeigt (taz) und die Schau zur Landschaftsmalerei im Kunsthaus Zürich (NZZ).
Design

Die große Schau "Kimono: Kyoto to Catwalk" im V&A Museum in London hat zwar im Detail ihre Schwächen, schreibt Susannah Clapp im Guardian, aber davon abgesehen: Was für eine "Offenbarung. In jedem einzelnen Detail findet sich Ruhm, in den Stoffen, ob nun bestickt oder schabloniert, kühn oder delikat bemustert, zugleich sumptuös und simpel, stumm und strahlend. Sie zeigt lebendig, wie ein Kleidungsstück die Geschichte eines Landes fassen kann. Anhand dessen, wie indischer Chintz und französischer Brokat auftaucht, lassen sich die Konjunkturen des japanischen Handels mit der Außenwelt nachvollziehen. Die Strenge der Luxusgesetze lässt sich anhand der kleinen Gesten beobachten, mit denen sie missachtet wurden: Rote Farbe, für die äußere Schicht eines Kimonos verboten, wurde dafür häufig in Futter und Unterwäsche verwendet. Ein Holzschnitt zeigt eine Frau, die mit einem Gefährten flirtet, indem sie ihren Saum etwas hebt, um ihm dem Hauch einer Ahnung von Scharlachrot darunter zu gewähren."
Außerdem: In der taz gratuliert Marielle Kreienborg der Modeikone Iris Apfel zum 99. Geburtstag. Außerdem bespricht Marina Razumovskaya in der taz den von von Dmitri Dergatchev und Wladimir Velminski herausgegebenen Band "Mode & Revolution".
Literatur
Weitere Artikel: Heiner Boehncke erinnert in der FAZ an die Schwestern Hassenpflug, die nach derzeitigem Stand der Forschung etwa 30 Märchen zur Sammlung der Brüder Grimm beigetragen haben.
Besprochen werden unter anderem Elena Ferrantes "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" (SZ), Olaf Veltes Lyrikband "Schmales Licht" (FR) und Heinrich Steinfests "Der Chauffeur" (FAZ). Mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr.
Film

Besprochen werden außerdem einige Fernsehdokus über den Wendesommer 1990 (Berliner Zeitung).
Musik
Etwas weniger apokalyptisch, aber umso kritischer sieht es der Newsletter von Crescendo: Sind die Agenturen, die gerade eingehen, nicht "die Dinosaurier einer alten Klassik-Welt, in der die immer gleichen Orchester und Künstler an allen Orten der Welt zu erleben sind? Vielleicht geht es in Zukunft ja auch eine Nummer kleiner, eine Nummer direkter, eine Nummer persönlicher, eine Nummer intimer. ... Tenor Michael Schade war selber lange bei der CAMI - auf Facebook stellt er nun die kritische Frage, wo eigentlich all die Millionen hin seien, welche die Agentur durch die Künstler gescheffelt habe. Er nennt es das CAMI-System ein 'House of cards' und sieht es nun nicht ganz so erstaunt, wohl aber betroffen, einstürzen - ohne Rücksicht auf die Künstler, die dieses System einst mal fördern wollte."
Weitere Artikel: Der Saisonauftakt im Berliner Pierre Boulez Saal heute Abend wird sich bei der Verteilung des Publikums, das aber auch durchgehend Maske tragen muss, nicht an Berliner Vorgaben, sondern am deutlich engmaschigeren Salzburger Modell orientieren, meldet Frederik Hannsen im Tagesspiegel: Das kann sich der Spielort erlauben, weil seine Mittel nicht vom Berliner Senat, sondern von der Kulturstaatsministerin und dem Außenministerium stammen. Im TLS huldigt Roger Parker dem pragmatischen und ungeheuer produktiven Komponisten Gaetano Donizetti und erklärt ihn zum Dickens der Oper (während Bellini ihr Flaubert gewesen sei). Die FAS hat Susanne Romanowskis Gespräch mit dem belarussischen Musiker Maksim Kulsha online nachgereicht. Im ZeitMagazin träumt der Musiker Michael Rother. Nadja Dilger schreibt in der Berliner Zeitung über die MTV Video Music Awards, die ganz im Zeichen von Lady Gaga und ihrer Schutzmaskenperformance stand.
Besprochen werden der Abschluss der Salzburger Festspiele mit Daniil Trifonov (SZ, Standard), Sophie Hungers neues Album (NZZ), eine EP des queeren Countrymusikers Orville Peck (SZ), ein Hölderlin-Abend mit Musik des Arditti Quartetts in Weingarten (FAZ), neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine Beethoven-Aufnahme von Frank Peter Zimmermann und Martin Helmchen (SZ) und "Blackbirds", das neue Album der Soulveteranin Bettye LaVette (Standard).