Efeu - Die Kulturrundschau

Konzentration, kein Lächeln

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14.03.2020. Der Tagesspiegel hört die Berliner Philharmoniker mit Bela Bartok im Netz. In der Literarischen Welt erklären die Linguisten Frank Fischer und Boris Orekhov, wie man ein neuronales Netzwerk dazu bringt, wie Hölderlin zu dichten. Die Welt goutiert einige Amuse bouche im Museum Tinguely, scheut aber vor den Augäpfeln Janine Antonis zurück. Die NZZ begutachtet in London die "Forgotten Masters" imperialer Company Art. Außerdem geißelt sie flache Literaturkritik im Fernsehen. Die SZ übergibt die Literaturkritik an Sensitivity Reader.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.03.2020 finden Sie hier

Kunst

Fondation Custodia, Collection Frits Lugt, Paris


London? Ach was. In der Regel muss man in die britische Provinz reisen, um die "die Agenten des Imperialismus" im Museum zu sehen, schreibt Brigitte Ulmer in der NZZ. Das Empire ist in Britannien "ein blinder Fleck. Kein Museum, keine Dauerausstellung konfrontiert mit seiner Idee, seiner missionarischen Hybris und Brutalität". Eine Ausnahme ist jetzt die Schau "Forgotten Masters" in den "klaustrophobischen Kellerräumen" der Londoner Wallace Collection. Gezeigt wird "Company Art" von indischen Künstlern, die im Auftrag von Repräsentanten der East India Company gemalt wurde. Es ist die erste Ausstellung dieser Art überhaupt in Britannien, erklärt Ulmer, die bei aller Kritik am Umgang der Briten mit ihrer kolonialen Vergangenheit, doch den ganz eigenen Reiz dieser aus europäischen wie heimischen Stilen gemischten Kunst erkennt: "Kein europäischer Künstler hätte flächige mit perspektivischen Elementen vermischt, wie es einige Mogulkünstler taten, und im Gegenzug folgte man mit dem weißen Hintergrund für die Botanikstudien dem europäischen Stil neutraler Naturstudien: Denn kein Mogulkünstler hätte Tiere und Pflanzen von der Landschaft losgelöst. Und so wirkt denn auch das Kolonialpersonal wie eine seltene Schmetterlingsart, herausgelöst aus seiner natürlichen Umgebung."


Sam Taylor-Johnson, Still Life, 2001 (Filmstills), Sammlung Goetz, München

"Amuse-bouche" findet Hans-Joachim Müller (Welt) generell überbewertet. Auch der gleichnamigen Ausstellung im Baseler Museum Tinguely näherte er sich eher skeptisch, denn: "Was soll man schon dazu sagen, wenn Janine Antoni in ihrer Fotoarbeit 'Mortar and Pestle' eine Zunge zeigt, die an einem Augapfel schleckt?" Aber dann war es doch ganz interessant zu sehen, was sich so verändert hat. Bei den "Bistrotischauflagen" von Daniel Spoerri konnte Müller das ganz gut beobachten: "Das sieht zwar selten einladend aus, aber zumindest die übervollen Aschenbecher wirken doch wie kostbare Archivalien einer abgetanen Vergnügungssache. So wie fast niemand mehr versteht, dass man einmal sinnend vor Rémy Zauggs sauberen Schriftbildern stand und sich in Erwartung höherer Erkenntnis den linguistischen Charme eines grün grundierten Satzes gefallen ließ: 'Und wenn ich einen unreifen Apfel esse, das giftige Grün nicht mehr vorhanden wäre.'"

Weitere Artikel: Sophia Zessnik macht für die taz einen Spaziergang mit dem Fotografen Akinbode Akinbiyi durch Berlin. Wer sich coronabedingt zu Hause langweilt, dem empfiehlt die FAZ einige Museumspodcasts: "Finding van Gogh" des Städels etwa, das sich auf die Suche nach dem "Bildnis des Dr. Gachet" macht, das "British Museum Podcast" oder den Podcast "Quand La Peinture Raconte Léonard" des Louvre.

Besprochen werden eine Doppelretrospektive mit den Werken von Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky im Museum Wiesbaden (FR), ein Video der Maori-stämmige neuseeländischen Künstlerin Lisa Reihana im Hamburgs ethnografischem Museum Markk (taz), die Ausstellung "Bremen vierkant" des Künstlers Robert Schad im Gerhard-Marcks-Haus in Bremen (taz) und eine Ausstellung mit frühen Radierungen von Dürer bis Bruegel in der Wiener Albertina (FAZ).
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Literatur

"Daß ich das Kind der Jugend,
Wie die Liebe das geschweigende Land,
Und der Strom und kühner Freudentage
So schien der Gesang der Morgen ihm auf,
Mich liebend der Tränen,
Mit uns ihr mich nicht!"

Dieses Hölderlin-Gedicht kennen Sie nicht? Kein Wunder. Das hat ein mit 10.000 Hölderlinzeilen trainiertes neuronales Netz unter der Aufsicht der Linguisten Frank Fischer und Boris Orekhov ausgespuckt. In der Literarischen Welt erklären die beiden, was hier vor sich geht: Mit einem HAL9000 aus Kubricks "2001" ist auch weiterhin nicht zu rechnen, "aber diese Nicht-Hölderlin-Verse sind doch gefühlt nah am Original. Die Algorithmen sind so weit, die Rechenleistung der Computer ist so weit, und die Masse an Daten schreit nach solchen Unternehmungen", zumal der digitale Hölderlin9000 mit selbst den Grimms nicht bekannten Wörtern wie "bewinnen" bereits kreative Eigenleistungen vorlegt, die sich die Forscher nur halb erklären können: "Ein Blick aufs Ausgangsmaterial legt nahe, dass das Portmanteauwort 'bewinnen' seine Eigenschaften wohl von den Kontexten der vorkommenden Wörter 'beweinen' und 'gewinnen' geerbt hat." In der taz schreibt Stephan Wackwitz über Hölderlin.

Die SZ hat inzwischen online den Aufmacher ihrer Literaturbeilage nachgereicht: Die mit dem Kerr-Preis ausgezeichnete Literaturkritikerin Marie Schmidt macht sich stark für Sensitivity Reader, die ein Manuskript darauf prüfen, "ob sich nicht unabsichtlich abwertende Beschreibungen wie Mikroaggressionen in den Text geschlichen haben", zitiert sie die Sensitivity Reader um Alexandra Koch, die hauptberuflich in der IT-Branche arbeitet und im Rollstuhl sitzt. "'Wir sprechen keine Verbote aus, wir zeigen nur, was vielleicht blöd rüberkommt, welche Formulierungen viele beleidigen.' Leute, die nicht selbst Diskriminierung erfahren, würden deren subtile Formen leicht übersehen, deshalb sei ein spezielles Lektorat durch Betroffene sinnvoll. Die Abwehr dagegen versteht sie nicht: 'Als ob wir jemandem seinen Status wegnehmen wollten, weil wir jetzt mitdiskutieren.'" (Abgesehen davon, dass Schriftstellersein kein Status ist - ist das Problem hier nicht eher, dass Sensitivity Reader beanspruchen, für "ihre" spezielle Gruppe zu sprechen, als sei diese in ihren Reaktionen auf einen Text völlig homogen?)

Was das Fernsehen an Literaturangeboten bereit stellt, ist weitgehend katastrophal, meint Rainer Moritz in der NZZ nach dem jüngsten Versuch, das "Literarische Quartett" wieder zu reanimieren (unser Resümee). Fachkenntnisse? Fast immer Fehlanzeige. "Lesen, so der Grundgedanke, kann fast jeder, und wer sich dazu bekennt, das gern zu tun, scheint automatisch dazu prädestiniert, Profundes über seine Lektüren zu äußern. Prominenz schafft Aufmerksamkeit, lautet die Parole", auch wenn viele prominent aufgehübschte Sendungen floppen. "Diese Debakel änderten nichts daran, dass alle TV-Verantwortlichen unvermindert an einem Grundsatz festhielten: Wenn über Literatur geredet wird, dürfen diejenigen, die das professionell tun - die Kritiker -, möglichst nicht zu Wort kommen. Gegen diesen Trend legen seit längerem Podcasts mit Erfolg die Anspruchslatte hoch und beanspruchen eher viel als wenig Zeit."

Weiteres: Gerrit Bartels vom Tagesspiegel ist trotz abgesagter Buchmesse dennoch nach Leipzig gefahren, um zu sehen, wie vor Ort mit diesem Wegbruch umgegangen wird - Lesungen gibt es dennoch zahlreiche, bei sehr prominenten Autoren sogar ausverkaufte. Für die FAZ ist Andreas Platthaus vor Ort. Aus Berlin sendet Dlf Kultur ein Notprogramm - und simuliert im Kulturpodcast in großer Redaktionsrunde mit den Schriftstellern Bov Bjerg und Tilmann Rammstedt das typische Buchmessen-Partygeplauder Gregor Dotzauer liest für den Tagesspiegel die neue Ausgabe des Schreibhefts, das diesmal dem ungarischen Dichter István Kemény gewidmet ist. In den online nachgereichten "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Gisela Trahms an einen Autounfall, den Thomas Bernhard mal hatte. Dorothea Westphal spricht im Dlf Kultur mit Aris Fioretos sehr ausfürlich über seinen neuen Roman "Nelly B.s Herz". Enno Stahl (Dlf) und Insa Wilke (SZ) schreiben Nachrufe auf den deutsch-georgischen Schriftsteller Giwi Margwelaschwili.

Besprochen werden unter anderem Tade Thompsons "Rosewater", den uns Florian Schmid im Freitag als Anzeichen einer vielversprechenden nigerianischen Science-Fiction-Welle wärmstens ans Herz legt, Valerie Fritschs "Herzklappen von Johnson & Johnson" (ZeitOnline), Deepa Anapparas "Die Detektive vom Bhoot-Basar" (FR), Benjamin Quaderers "Für immer die Alpen" (Zeit), ein Gedichtband des Rammstein-Sängers Till Lindemann (NZZ), Marina Frenks Debütroman "Ewig her und gar nicht wahr" (SZ), Hilary Mantels "Spiegel und Licht" (Literarische Welt) und Hanns Zischlers "Der zerissene Brief" (FAZ).
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Bühne

Verena Harzer schickt der nachtkritik einen Theaterbrief aus New York, wo die Broadway-Theater wegen Corona schließen. Der Schauspieler Nico Holonics erzählt im Gespräch mit der Berliner Zeitung vom vorläufig letzten Theaterabend am Berliner Ensemble und kündigt Hilfe für die freien Mitarbeiter an: "Für diese Menschen möchte ich eine Lobby, eine Solidargemeinschaft bilden, Sponsoren suchen, Menschen zusammenbringen, die das Theater lieben und diesem jetzt vielleicht in diesen schweren Zeiten helfen können." Auch in Zürich sagen die Bühnen und das Lucerne Festival alle Veranstaltungen ab, meldet die NZZ. In der taz schreibt Dominikus Müller über die Schinkel-Pavillon-Performance-Reihe "Disappearing Berlin".

Besprochen werden Peter Eötvös' Oper "Angels in America" am Staatstheater Braunschweig (taz), die Strauss-Oper Ariadne auf Naxos" am Deutschen Nationaltheater in Weimar (nmz), die "Opera for Sale" an der Neuköllner Oper in Berlin (taz) und die Uraufführung von Andrew Schneiders Choreografie "Remains" mit dem Ensemble Sasha Waltz & Guests (FAZ).
Archiv: Bühne

Film

Christiane Peitz vom Tagesspiegel hat in Erfahrung gebracht, wie die letzten noch geöffneten Kinos in Berlin mit dem runterfahrenden öffentlichen Leben umgehen: "Die Kinos in den Hackeschen Höfen wollen ihren Spielbetrieb vorerst aufrecht erhalten, aber mit besonderen Vorsichtsmaßnahmen. Nur die Hälfte der Tickets wird verkauft, wegen des Abstands. Man bitte um bargeldlosen oder Online-Ticketerwerb, die Saaltüren werden von Mitarbeitern geöffnet und regelmäßig desinfiziert. Das fsk am Oranienplatz hält es genauso. Ähnlich praktiziert es auch die Yorck-Kinokette: Im International und im Delphi werden maximal 400 Plätze belegt, die kleineren Häuser seien wegen der corona-bedingt geringeren Nachfrage ohnehin nicht voll ausgelastet, heißt es auf Nachfrage. Cleane Kinos, trotzdem nicht einfach, das zu realisieren."

Viele Kinos bieten übrigens den Online-Erwerb von Kinogutscheinen an. Vielleicht eine Möglichkeit, liebgewonnenen Spielstätten beim Überbrücken der momentanen Phase etwas unter die Arme zu greifen.

Das bereits seit gestern geschlossene Arsenal Kino in Berlin sendet via Facebook eine Botschaft:



Neben allerlei verschobenen Kinostarts aus dem großen (der neue James Bond) und den kleinen Segmenten (der neue Film von Christian Petzold) betreffen die Vorsorgemaßnahmen gegen eine zu rasche Ausbreitung des Coronavirus nun auch die Filmproduktionen selbst, schreibt Tim Caspar Boehme in der taz: "Die in Venedig geplanten Dreharbeiten für den jüngsten "Mission Impossible"-Blockbuster mussten abgesagt werden. Drehbücher werden unterdessen derart umgeschrieben, dass für die Aufnahmen keine Reisen nötig sind."

Tobias Kniebe und David Steinitz geben in der SZ Streamingtipps für den selbstverordneten Hausarrest - und empfehlen hier all jenen, die sich nicht nur McDonald's fürs Auge erhoffen den kleinen, aber feinen Anbieter mubi.com, denn dort "gibt es immer Klassiker von großen Regisseuren, aktuell unter anderem von Kenji Mizoguchi, Alain Resnais, Rainer Werner Fassbinder, Alfred Hitchcock und Werner Herzog."

Besprochen werden Waad al-Kateabs und Edward Watts' Dokumentarfilm "Für Sama" über den Krieg in Syrien (taz, mehr dazu bereits hier), Autumn de Wildes Jane-Austen-Adaption "Emma" (Freitag) und Stefan Ruzowitzkys Hesse-Adaption "Narziss und Goldmund" (Tagesspiegel).
Archiv: Film

Musik

Für den Tagesspiegel hat sich Ulrich Amling das vor leerem Saal, aber via Internet mit für die Welt offenstehenden Toren gegebene Konzert der Berliner Philharmoniker mit Simon Rattle angesehen: "Die menschenleeren Saalterrassen lassen die Philharmonie weit expressionistischer als gewohnt erscheinen, die Kameratotale bietet bizarre Ausblicke." Darüber hinweg tröstet spätestens die zweite Konzerthälfte mit Béla Bártok: "Glühend ist die Bártok-Interpretation, virtuos und tief, voller Anspielung auf Werke, die man eigentlich kennen müsste. Konzentration, kein Lächeln. Nach dem letzten Ton ist die Philharmonie wirklich verwaist."

Das Konzert kann man beim Dlf Kultur nachhören.  Und wer sich dieser Tage zurückzieht, aber das Kulturleben vermisst, für den haben die Berliner Philharmoniker für die kommenden 30 Tage ihre Digital Concerthall gratis geöffnet:

Weiteres: Stephanie Grimm spricht in der taz mit Caribou über dessen neues Album. In der Welt porträtiert Elmar Krekeler den Violinisten Daniel Hope, der sich auf einer Aufnahme der Musik der Belle Epoque widmet. Frederik Hansen beugt im Tagesspiegel den Kopf über Beethovens Partituren. Dlf Kultur wiederholt eine Lange Nacht von Beate Bartlewski über den sowjetischen Pianisten Swjatoslaw Richter. In der FAZ gratuliert Laurenz Lütteken dem Musikhistoriker Ludwig Finscher zum 90. Geburtstag. Manuel Brug gibt bei der Welt Klassik-Streamingtipps für die Selbstquarantäne. Und: Auf Twitter hat Igor Levit gestern sein zweites Corona-Hauskonzert gegeben:

Besprochen werden das neue Album von Porridge Radio (Pitchfork), das Debüt des österreichischen Musikers Asril (Standard), Werner Lindemanns Buch "Mike Oldfield im Schaukelstuhl", in dem der Vater des Rammstein-Sängers Till Lindemann über sein Verhältnis zu seinem Sohn nachdenkt (SZ), und ein Boxset mit Aufnahmen der bürgerrechtsbewegten Soul- und Gospelband Staple Singers aus den Sechzigern (Standard). Wir hören mit diesem Mix ein bisschen in diese wärmende Musik:

Archiv: Musik