Efeu - Die Kulturrundschau

Äußerst explizite Gruppentänze

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22.02.2020. Der Tagesspiegel findet die "Essenz des Ortes" in der überwältigenden Monet-Schau in Potsdam. Für solche Ausstellungen fehlt in Berlin das nötige Kleingeld, sekundiert die taz. Die FAZ schaut mit jungen Künstlern der afrikanischen Diaspora hinter den "Black Atlantic" in Hannover. Außerdem bewundert sie den Mut der russischen Theaterszene, wenn etwa Olga Schiljajewa zornig und lüstern das Drama des Frauseins besingt. Die NZZ erntet mit Rem Koolhaas in Manhattan Tomaten unter rose Kunstlicht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.02.2020 finden Sie hier

Kunst

Bild: Tschabalala Self. "Big Toe", 2019. Private Collection

Mit seiner Theorie des "Black Atlantic" kritisierte der britische Soziologe Paul Gilroy die systematische Nichtbeachtung schwarzer Kultur in den westlich geprägten Kulturwissenschaften und deren Einflüsse auf die Moderne, klärt Nora Sefa in der FAZ zunächst auf, um dann auf die Ausstellung "Beyond the Black Atlantic" im Hannoveraner Kunstverein zu sprechen zu kommen, in der sich vier KünstlerInnen aus der afrikanischen Diaspora mit den Themen Herkunft, Identität und Sexualität auseinandersetzen: Etwa die in Harlem geborene Künstlerin Tschabalala Self: "Leinwände, teils mit Acryl- und Vinylfarbe, teils mit Nähten aufgetragene Stoffe, etwa aus Samt oder mit Leopardenmuster, zeigen verfremdete, meist weibliche Körper. Dabei werden bestimmte Körperteile, wie die Beine und das Gesäß, überproportional dargestellt. Es entsteht eine hypersexualisierte Darstellung der Körper. Self, die Tochter einer Näherin, berichtet, die Gemälde seien auch das Ergebnis der Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Körper. Der schwarze weibliche Körper sei besonders 'politisiert'."

Bild: Claude Monet, Steilküste von Aval, 1885, Öl auf Leinwand, 65 x 81 cm, Privatsammlung

Mag als Thema "banal" klingen, aber die Ausstellung "Monet. Orte" im Potsdamer Barberini Museum versetzt den Betrachter doch in Staunen, versichert Nicola Kuhn im Tagesspiegel, die den Künstler hier quer durch Frankreich, Italien und Großbritannien auf der Suche nach der "Essenz des Ortes" begleitet: "Sie drückt sich ebenso im flirrenden Licht eines sonnenbeschienenen Feldes aus wie im dunstigen Nebel, der über der Themse hängt. Monet malte wie besessen, um die Lichtwechsel festzuhalten. Im Savoy Hotel, in dem er während seines London-Aufenthaltes residierte, soll er rechts und links auf dem Balkon mehrere Staffeleien aufgebaut haben, um bei Sonnenaufgang die Waterloo-, bei Sonnenuntergang die Charing Cross Bridge zu malen. Mit den minutenschnellen Veränderungen der Lichtverhältnisse wechselte er von Staffelei zu Staffelei." In der taz erklärt Ronald Berg das Erfolgsrezept des Barberini, das mehr Besucher als die Berliner Staatlichen Museen empfängt: Die finanziellen Mittel spielen für Hasso Plattner keine Rolle, weiß Berg. (Aber vielleicht ist nicht alles nur eine Frage des Geldes, sondern auch der Fantasie und des Unternehmungsgeistes, und daran könnte es in Berlin ja auch fehlen, nein?)

Weiteres: Wie "Schiele auf Ecstasy" erscheint Standard-Kritiker Michael Wurmitzer das malerische Frühwerk von Friedensreich Hundertwasser, das derzeit in der Schau "Imagine Tomorrow" im Wiener Leopoldmuseum dem Werk von Egon Schiele gegenüber gestellt wird. Der Einfluss war keineswegs einseitig, lernt Wurmitzer: "Als Hundertwasser nach Paris ging, trug er Schiele mit in die Welt hin aus. Bis in die 1970er rührte er vor Kollegen für ihn die Werbetrommel, war er doch international bekannter." Besprochen wird die Ausstellung "Machines to change the world" mi Arbeiten von Elena Asins in der Berliner Galerie KOW (taz).
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Film

In Berlin hat die Berlinale mit dem offiziellen Programm begonnen. Alle Aufmersamkeit richtet sich vor allem auf die ersten Filme des klassischen und des neuen Wettbewerbs "Encounters". Alles dazu erfahren Sie in unserem gesonderten Pressespiegel in unserem Berlinale-Blog, wo Sie auch mehrfach täglich Updates unserer Kritikerinnen und Kritiker vor Ort finden.

Jenseits der Berlinale: Kai Müller spricht im Tagesspiegel mit Chris Lewis, dem Sohn von Jerry Lewis: Wie er sich vor der Kamera verhielt, so war er wirklich. Wir lachten beim Abendessen so oft, dass meine Mutter uns ermahnen musste, weiter zu essen. Doch er hörte nicht auf, Grimassen zu schneiden. ... Ich muss ehrlicherweise sagen, dass er keine Mitte kannte. Er war entweder das Eine oder das Andere. Entweder total verrückt oder geradeheraus."

In der FAZ gratuliert Andreas Kilb der Schauspielerin Miou-Miou zum 70. Geburtstag. Besprochen werden Valeria Golinos "Euforia" (Freitag) und die Amazon-Serie "Hunters" mit Al Pacino (FAZ).
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Musik

In Venedig kann man derzeit den Komponisten Reynaldo Hahn wiederentdecken, schreibt Laszlo Molnar in der FAZ.

Besprochen werden das neue Album von Grimes (Jungle World, SZ, FAZ, mehr dazu bereits hier), ein von Kirill Petrenko dirigiertes Konzert der Berliner Philharmoniker in Frankfurt (FR), das neue Album der Punkband True Dreams (taz), ein Chopin-Abend mit dem Pianisten Jan Lisiecki (Tagesspiegel) und Liam Gallaghers Auftritt in Zürich (NZZ).
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Literatur

Für den Perlentaucher berichtet Stefanie Diekmann vom Comicfestival in Angoulême, das in den letzten Jahren mitunter schwer in der Kritik stand: "Inzwischen hat das Festival einige Anpassungen vorgenommen, um sexistische, gallochauvinistische und paternalistische Perspektiven ein wenig zu korrigieren. Der Ärger, den Angoulême auch 2020 erlebt hat, entzündete sich deshalb nur punktuell an den alten Konflikten und vor allem an der fortschreitenden Prekarisierung derjenigen, denen der französische Comic seine Existenz und seine Reputation verdankt. Minimale Tantiemen, minimale Absicherung, ökonomische Machtlosigkeit und eine lange zurückgehaltene ministeriale Stellungnahme zur Unterstützung von Autorenrechten: In Angoulême wurde während des Festivals auf der Straße und später auf der Bühne protestiert."

Weiteres:  Tilman Krause freut sich in der Literarischen Welt zwar enorm darüber, dass James Baldwins Werke nach und nach wieder auf Deutsch erscheinen - an der Übersetzung aber hat er einiges auszusetzen: "Eine Übersetzerin, der immer nur das Adjektiv 'wütend' einfällt, wo die alte Version so schöne Ausdrücke wie 'aufgebracht' oder 'in Harnisch' parat hält, überzeugt nicht." Karl Corino schreibt in der NZZ über das Dreiecksverhältnis, in dem Robert Musils Eltern lebten. Für die FAZ porträtiert Cornelius Wüllenkemper den haitianischen Autor James Noël.

Besprochen werden unter anderem Ann Petrys ursprünglich 1946 veröffentlichte Roman "The Street" (FR), Valerie Fritschs "Herzklappen von Johnson & Johnson" (NZZ), Dirk Kurbjuweits "Haarmann" (Tagesspiegel), Verena Güntners "Power" (SZ), Victor Marguerittes "La Garconne - die Aussteigerin" (Literarische Welt) und Susanne Neuffers Erzählband "Im Schuppen ein Mann" (FAZ).
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Bühne

Während der Regisseur Kirill Serebrennikow, der Produzent Alexej Malobrodski und die Direktorin des Moskauer Jugendtheaters Sofia Apfelbaum in Russland auf ihre Verurteilungen warten, pulsiert die russische Theaterszene, weiß Kerstin Holm, die sich für die FAZ umgesehen hat. Etwa im Teatr.doc, wo derzeit das Frauenoratorium "28 Tage" von Olga Schiljajewa aufgeführt wird: "Die ironiefähige Feministin Schiljajewa vergegenwärtigt das Drama des Frauseins als Dialog eines reflektierenden Ich mit einem wilden Chor, der die hormonelle Achterbahnfahrt des weiblichen Zyklus vergegenwärtigt. In der Regie von Juri Murawizki und Swetlana Michalischtschewa trällert die als Faschingsprinzessin kostümierte Sängerschauspielerin Nadeschda Fljorowa virtuos erschrockene Koloraturen über ihre Blutungen und ihre bald aggressiven, bald liebevollen, bald depressiven Gemütszustände, die ihr ein ruppiges Rapperinnen-Ensemble im Gothic-Look als Follikel-, Ovulations- beziehungsweise Lutealphase erklärt und in zornige, lüsterne, zärtliche, dabei stets äußerst explizite Gruppentänze übersetzt. Das intellektuelle Publikum im ausverkauften Saal amüsiert sich königlich."

Erneut hat sich Monika Gintersdorfer mit der Tanzcompagnie "La Fleur" für das Theater Bremen Emile Zolas "Nana" vorgenommen, diesmal gemixt mit Virginie Despentes' Roman "Pauline und Claudine", um tanzend und diskurslastig Geschlechterrollen zu dekonstruieren. "Zündet", findet Jan-Paul Koopmann in der taz: " Und Spaß macht es noch dazu, diese handgreifliche Aneignung von Rollenbildern und kulturellen Praxen: von Twerking bis Vogueing, bis zu den weißen Tennissocken in Matthieu Svetchines Stöckelschuhen. 'Homo' steht da drauf, in Fraktur. Was bleibt, ist die - im besten Sinne des Wortes - Basisbanalität, dass man Menschen einfach mal machen lassen soll." Nachtkritiker Jens Fischer meint indes: "Keine schlau präzisierende Lecture Performance ist Gintersdorfer gelungen, sondern afroeuropäisch vertanzte und verplauderte Gender-Debatten-Schnipsel sind zu erleben, die allzu leicht abzunicken sind.

Besprochen wird Nurkan Erpulats Inszenierung von Simon Stephens' "Maria" am Berliner Maxim Gorki Theater (taz), Simone Geyers Inszenierung von Bettina Wilperts "nichts, was uns passiert" im Thalia Gaustraße (taz), Manfred Langners Inszenierung von Eric Assous' "Paarungen" am Frankfurter Remond-Theater (FR), Boris Nikitins "24 Bilder pro Sekunde" in der Kaserne Basel (Nachtkritik) und Kate Prince' Tanzperformance "Message in a Bottle2 am Londoner "Sadler's Wells Theatre" (FAZ).
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Architektur

Dass die Zukunft nicht in den Städten, sondern auf dem Land geschrieben wird, lernt Sabine von Fischer (NZZ) in der Ausstellung "Countryside, The Future" im New Yorker Guggenheim-Museum, in der Rem Koolhaas mit seinem Team auf die Bedeutung der ländlichen Gebiete aufmerksam macht. Wo heute noch Kuhweiden zu sehen sind, werden künftig Serverfarmen stehen: "Den Indoor-Plantagen, in denen fahrende Roboter unter rosa Kunstlicht das Wachstum von Kressen oder Tomaten überwachen, ist eine ästhetische Wirkung nicht abzusprechen. Der Befund der Landwirtschafts- und Lebensmitteltechnologie ist nämlich, dass nicht das Sonnenlicht, sondern ein Magenta-Farbspektrum das Wachstum der Pflanzen am meisten fördere. Prominent sind Bilder von Indoor-Plantagen in der Ausstellung montiert, und für die halbjährige Dauer der Schau steht auch ein weißer Container mit einer solchen Indoor-Plantage neben einem riesigen Traktor auf dem Trottoir vor der eleganten Spirale des Museums." Für die Zeit bespricht Tobias Timm die Ausstellung.

Im Welt-Interview mit Rainer Haubrich spricht Wilhelm von Boddien, Geschäftsführer des Fördervereins Berliner Schloss über die enorme Spendenbereitschaft für den Wiederaufbau und die politische Botschaft des Schlosses: "Durch die Wiederaufführung des Schlosses in seiner großartigen Ästhetik wird die nötige Rückbesinnung auf die einstige Schönheit unserer Städte gestärkt, die durch Krieg und Nachkriegszeit verloren ging. Wenn Architekten und Bauherren begreifen, dass die Schönheit wieder höchste Priorität haben muss neben der zur Monotonie neigenden Nützlichkeit, dann kann die Rückkehr des Schlosses als Vorbild viel bewirken. Vielleicht wächst auch die Erkenntnis, dass die Stadt nicht nur zum Konsum da ist, sondern dass man sich für sie zum allgemeinen Nutzen engagieren sollte."

In der SZ erzählt Thomas Steinfeld die Geschichte des neapolitanischen Viertels Scampia, dessen Wohntürme und Blocks Stück für Stück abgerissen werden. Vom historischen Zentrum Neapel aus "sollte die Bevölkerung in lichte und luftige Wohnungen überführt werden, die Le Corbusiers Konzept der 'Unité d'Habitation' (der 'Wohnmaschinen') folgen, zugleich aber vertraute Elemente der Altstadt in sich aufnehmen sollten: Durchgänge, schmale Gassen, kleine und große Piazzen (die später erheblich dazu beitrugen, die Arbeit der Polizei zu erschweren). Das Leben sollte, wie zuvor, weitgehend im Freien stattfinden. Zum gleichfalls geplanten Bau von Einkaufsmöglichkeiten, sozialen oder kirchlichen Einrichtungen oder gar Parks kam es allerdings kaum, vermutlich aus Gründen der Spekulation. Als ein Erdbeben dann im Jahr 1980 Teile des historischen Zentrums unbewohnbar machte und die nunmehr Obdachlosen in Scampia unterkamen, fiel die Macht im Viertel an mafiöse Gruppen, die das Viertel zu einem Zentrum des Drogenhandels machten."
Archiv: Architektur