Efeu - Die Kulturrundschau
Traumtrichter
Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Film
Für die Welt hat sich Hanns-Georg Rodek die Mühe gemacht, die filmpolitischen Forderungen der AfD mal genauer unter die Lupe zu nehmen. Sein Fazit: Nicht nur wünscht sich die Partei einen Film, dem sämtliche Potenziale zum Diskurs und zur Kritik genommen wurden, würde man darüber hinaus noch die mit allerlei Sperrungsdrohungen durchsetzten Vorschläge dem Wortlaut nach umsetzen, käme die hiesige Filmproduktion schlagartig zum Erliegen. Wenn die Partei nicht weiß, was sie da tut, "würde sie den deutschen Martk, der sowieso zu zwei Dritteln von Amerika dominiert wird, komplett Hollywood ausliefern", meint Rodek, der aber eh davon ausgeht, dass die Partei sehr wohl weiß, was sie da schreibt: Dann "handelt es sich um eine Drohgeste gegenüber den Filmemachern, denselben Sack mit Knüppel, den sie seit Jahren Theatern und Museen zeigt: Seht her, wir werden euch die Mittel wegnehmen, wenn ihr nicht kuscht."
Weiteres: In seinem Blog schreibt der Filmemacher Christoph Hochhäusler über seine "sanfte Enttäuschung" über den von der Kritik durchaus gefeierten Polanski-Film "Intrige". Besprochen werden die bei 3sat online gestellte Doku "Kino Kanak - Warum der deutsche Film Migranten braucht" (SZ) und Johannes Holzhausens Dokumentarfilm "The Royal Train" über die Bestrebungen der rumänischen Kronprinzessin Margareta, der Bevölkerung die Monarchie wieder schmackhaft zu machen (SZ).
Kunst

Fasziniert verfolgt FR-Kritikerin Ingeborg Ruthe in der Berliner Galerie Judin, wie die rumänische Künstlerin Hortensia Mi Kafchin ihre emotional aufwühlende Umwandlung zur Frau ins surreale Bild setzt: "Die Nebenwirkungen der Hormone und ersten Operationen gerinnen zu rätselhaften Motiven: Albträume, Ängste, anderen und sich selbst nicht zu genügen, ausgegrenzt zu werden. 'Mein schlimmster Feind bin ich selber', sagt sie. Aber das Malen, diese Bildwelten aus virtuosem Handwerk und entgrenzten kunsthistorischen Referenzsystemen, sind die Rettung. An den Galeriewänden hängt das Resümee der letzten Jahre. Höllen-Paradies-Labore, okkulte Hexenkessel mit Hightech-Mikroskop. In Rundkolben köcheln rote, grüne, gelbe Flüssigkeiten, baumeln Infusionsschläuche. Eine der Frankenstein'schen Szenen zeigt die rumänische Arztlegende Ana Aslan, die um 1970 angeblich ein Mittel gegen das Altern erfand. Von ihr ließen sich Marlene Dietrich, Salvador Dalí, Indira Gandhi, auch Mao Zedong behandeln."
Hingerissen ist jetzt auch Kia Vahland in der SZ von der großen Jan-van-Eyck-Schau in Gent, allerdings nicht ganz einverstanden mit der Deutung des flämischen Malers als optischen Revolutionär. Jan van Eyck, meint Vahland, überwältigt mit seiner Menschenkenntnis und seiner sensiblen Bildkunst: "Ein Realist im modernen Sinn aber ist Jan van Eyck nicht. Das, was bis heute so frappiert an seiner Malerei, sind eben nicht nur Details wie die beiläufig gezeigte Waschschüssel der Jungfrau, die kostbaren bunten Bodenfliesen eines Palastes, die so steinhart funkelnden Juwelen im Kopfschmuck eines Engels. Es ist die selbstverständliche Spiritualität, mit der seine Figuren ohne Pathos ihr Leben bestreiten, als wären das Göttliche und das Menschliche nicht zweierlei."
Besprochen werden die Ausstellung "Krieg kuratieren" im Kunstraum Innsbruck, die der Verbindung von Kunst und Rüstungsindustrie nachspürt (Standard), die David-Hockney-Schau im Bucerius Kunstforum in Hamburg (Tsp), eine Ausstellung über das "Trauern" in der Hamburger Kunsthalle, eine Schau des Genremalers Ludwig Knaus im Museum Wiesbaden (FR) und die Ausstellung "Augen/Blicke" der Berlinale-Fotografin Birgit Kleber im Museum für Fotografie (Tsp).
Architektur

Voller Trauer wandert Sophie Jung für die taz durch Armeniens Hauptstadt Jerewan, wo die Bauten der zweiten Sowjetmoderne dem Verfall oder dem Abriss anheimgegeben werden. In ihnen verband sich die Leichtfüßigkeit, die sowjetische Kosmopoliten für sich verbuchten, mit dem dunkel-erhabenen Stil der mittelalterlichen Königshauptstadt Armeniens, hat Jung in der Ausstellung "The City of Tomorrow" im Goethe Institut erfahren: "In den 1960er Jahren ließ die armenische Regierung den grünen Ringboulevard um die Innenstadt vollenden, den bereits der Nationalbaumeister Alexander Tamanyan im Zuge der Hauptstadtgründung 1924 geplant hatte, und platzierte darin die ungewöhnlichen Loisir-Architekturen: Wie ein rostiger Seedampfer ragte der Schachclub von Zhanna Meshcheryakova aus dem Ringpark empor. Als würde über einem Wasserbassin ein gigantisches Tischtuch gerade aufgeworfen und in der Schwebe gehalten - so sah das Poplavok-Café von Feniks Darbinyan und Felix Hakobyan aus. Und das Rossiya-Kino von Artur Takhanyan, Spartak Khachikyan und Hrachya Poghosyan war eine vollends kühne Konstruktion: Zwei monumentale Waagschalen aus Beton hingen über den Boulevard, gerade so, als wären sie aus der Balance geraten und stünden kurz davor, ins Gleichgewicht zurückzukippen."
Bühne

Daniele Muscionico huldigt in der NZZ dem Regisseur Stefan Bachmann, der als Intendant in Köln beständig an der Öffnung des Theaters an sich arbeitet und zum Beispiel seine Stücke türkisch übertiteln lässt. Am Theater Basel hat er jetzt Max Frischs ungeliebtes Stück "Öderland" rehabilitiert und mit Olaf Altmann, dem "Bühnenbildner der Stunde", grandios auf die Bühne gebracht, wie Muscionico jubelt: "Altmann hat für Max Frischs märchenhafte Moritat in zwölf Bildern eine riesige Raumskulptur entworfen. Es ist ein Traumtrichter, in den die winzigen Menschlein durch eine kleine Öffnung stürzen und haltlos in die Tiefe fallen. Dem Publikum kullern sie direkt vor die Füße. In diesem Kunstraum wird jede noch so kleine Geste, präzise gesetzt, in ihrer Wirkung überdimensional. Und wie artistisch und sportiv dem Ensemble das Tasten und Tappen, das Suchen nach Halt und Haltung im freien Fall glückt! Doch Altmanns Raum ist böse; hier können Menschen nur böse sein oder es werden. Der Trichter und seine halbrunden Wände sind auch ein kritisches Bild für die Glätte des Gesellschaftsparketts."
Weiteres: Tom Mustroph besucht für den Tagesspiegel das Moskauer Gogol-Center, wo das Deutsche Theater mit Kirill Serebrennow "Decamerone" probt. Besprochen werden Sophie Rois' Soloabend "Gegen die Wand" am Deutschen Theater (FAZ), Jonathan Meeses "Lolita (R)evolution (Rufschädigendst)" in Dortmund (taz), Händels "Alcina" in Düsseldorf (NMZ) und Dvořáks "Rusalka" in Oldenburg (NMZ).
Literatur
Außerdem: Der SWR meldet, dass der Schriftsteller Ror Wolf gestorben ist. Besprochen werden unter anderem Frank Witzels "Uneigentliche Verzweiflung. Metaphysisches Tagebuch I" (Zeit), Katya Apekinas Debütroman "Je tiefer das Wasser" (FR), Hanns Zischlers "Der zerrissene Brief" (NZZ), Koleka Putumas "Kollektive Amnesie" (NZZ), Hinrich von Haarens "Blaues Reich. Winterstadt" (taz), Hans Magnus Enzensbergers Gedichtband "Wirrwarr" (SZ) und Peter Handkes "Das zweite Schwert" (FAZ, mehr dazu hier).
Mehr in unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau. Alle besprochenen Bücher und viele mehr zum Bestellen finden Sie natürlich in unserem neuen Online-Buchladen Eichendorff21.
Musik
Außerdem: Für die Welt spaziert Dennis Sand mit dem Rapper Friedrich Kautz durch den Berliner Grunewald für einen Plausch über dessen beiden neuen - unter den Namen Prinz Pi und Prinz Porno veröffentlichten - Alben. Philipp Krohn begibt sich für die FAZ auf Beethovens Spuren in der Popkultur.
Besprochen werden Beatrice Dillons Album "Workaround" (taz), Stefan Karl Schmids Oktett-Album "Pyjama" (FR), das Berliner Konzert der Strokes (taz), eine neue Platte von Justin Bieber (Standard), das neue Album von Tame Impala, dem Standard-Kritiker Karl Fluch immerhin noch zugute hält, dass es sich hervorragend als "Hintergrundgeräusch für gedankenintensive Beschäftigungen wie Geschirrspülereinräumen oder Sockenzusammenrollen" eignet, und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine Strauss-Aufnahme der Cellistin Raphaela Gromes (SZ).