Efeu - Die Kulturrundschau

Heiter, hell und luftig

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17.02.2020. Die NZZ erkundet im Zürcher Museum für Gestaltung, wie sich der mächtige Mensch die Schönheit der Tiere aneignet. Die SZ bewundert in der Frankfurter Schirn den großen Zorn des amerikanischen Künstlers Richard JacksonFR und SZ feiern das Messa di Voce des Countertenors Jakub Józef Orliński. taz und Tagesspiegel blicken mit der Regisseurin Aysun Bademsoy in den Abgrund, den der Terror des NSU hinterlassen hat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.02.2020 finden Sie hier

Design

Energie animale. Bild: Museum für Gestaltung, Zürich

Der Mensch trägt nicht nur gerne Kleidung tierischen Ursprungs, er verziert seinen Alltag auch gerne mit Darstellungen von Tieren, schreibt Claudia Mäder in der NZZ nach Besuch der Ausstellung "Energie animale" im Museum für Gestaltung Zürich. "Die Funktionalität der tierischen Materialien ist immer nur eine Seite der Sache. Denn etliche Formen und Farben, die draußen in der Natur auftreten, bestechen auch durch ihre schiere Schönheit, und also versucht der Mensch, der Mächtige, die Pracht auf sich zu übertragen. Leicht kann es komisch wirken, wenn er sich so mit fremden Federn schmückt, Hütchen aus halben Vögeln auf dem Kopf trägt oder mit Mokassins im Schlangenstil durch die Stadt pirscht. Nicht selten aber gelingt der Transfer; diverse Mäntel und Kostüme zeugen in der Schau davon. Dass diese Aneignungsprozesse zuweilen blutig verlaufen und ethische Fragen aufwerfen, verschweigt das Museum nicht."
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Film

"Etwas an sich heranlassen": In "Spuren" stehen die Hinterbliebenen der Opfer des NSU-Terrors im Mittelpunkt

Sehr sehenswert findet Matthias Dell im Tagesspiegel Aysun Bademsoys Dokumentarfilm "Spuren - die Opfer des NSU" (hier dazu mehr), der sich mit den Folgen des rechten Terrors auf Seiten der Opfer und Hinterbliebenen befasst. Man blicke in diesem Film "von Anfang an in den Abgrund, den der NSU-Komplex noch immer darstellt." In Berlin sprach die Filmemacherin über ihren Film, berichtet Katharina Granzin in der taz: "Als der NSU-Prozess nach fünf langen Jahren mit einem derart unbefriedigenden Ergebnis zu Ende gegangen sei, habe der Richter es nicht einmal für nötig gehalten, den Angehörigen der elf Ermordeten für ihre Geduld und ihren Anstand zu danken. 'Im Nachhinein habe ich gedacht, man hätte den Prozess viel mehr stören sollen', sagt Bademsoy."

Nach seinem Horrorfilm-Remake "Suspiria" (unsere Kritik) meldet sich Luca Guadagnino mit einem von der Modemarke Valentino co-produzierten 30-Minüter "The Staggering Girl" zurück, der derzeit und noch für etwa einen Monat auf Mubi online zu sehen ist. Das Konzept des Films beschränkt sich darauf, "dass eine umwerfend schöne Frau, gespielt von Julianne Moore, umwerfend schöne Mode trägt", erklärt Philipp Stadelmaier in der SZ - wobei es immerhin noch darum geht, dass Moore die New Yorker Schriftstellerin Francesca Moretti spielt, die ihre Autobiografie schreibt und dann nach Rom reist, um ihre Mutter zu besuchen. "Francesca bewohnt eine Welt, die aus Träumen und Erinnerungen besteht, aus Geistern und Stimmen - und natürlich aus schönen Kostümen, die sie entweder selbst trägt oder auch mal im Nachtwind wehen können. ...Romantik und Horror kommen wunderbar zusammen, verbinden sich in der ebenso unheimlichen wie melancholischen Filmmusik des berühmten Komponisten Ryuichi Sakamoto." Gedreht wurde im übrigen auf 35mm-Filmmaterial. Einen kleinen Eindruck der Sinnlichkeit des Films vermittelt der Trailer:



Außerdem: Im Dlf Kultur sprechen Carlo Chatrian und Marianne Rissenbeek ausführlich über die erste von ihnen geleitete Berlinale. Emeli Glaser zerpflückt in der FAZ die "Schulmädchen-Report"-Reihe, deren erster Teil vor 50 Jahren in die Kinos kam. Christiane Peitz widmet sich im Tagesspiegel den 70ern und 80ern der Berlinale-Geschichte. Für die WamS plaudert Martin Scholz mit "Star Trek"-Schauspieler Patrick Stewart. Besprochen werden Corneliu Porumboius "La Gomera" (FAZ, Standard, unsere Kritik hier), der deutsche Netflix-Fernsehfilm "Isi & Ossi" (taz) und eine Robert Wienes Stummfilmklassiker "Das Cabinet des Dr. Caligari" gewidmete Ausstellung im Filmmuseum in Berlin (Tagesspiegel). Den Film selbst kann man derzeit online bei Arte sehen.
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Bühne

Jakub Józef Orliński als Tolomeo und Louise Kemény als Seleuce. Foto: Falk von Traubenberg / Badisches Staatstheater Karlsruhe

Zur Eröffnung der Händel-Festspiele in Karlsruhe wurde die selten aufgeführte Oper "Tolomeo, re d'Egitto" gezeigt, in der zwar "krass wenig passiert", wie Judith von Sternburg in der FR einräumt , das aber in musikalisch makelloser Inszenierung. Die große Sensation des Abends war der polnische Countertenor Jakub Józef Orliński, wie Michael Stallknecht in der SZ schreibt: "Orliński gestaltet die Partie des Tolomeo, die Händel für den Star-Kastraten Senesino schrieb, enorm farbenreich. Dass seine Stimme viriler klingt als die mancher Counterkollegen, liegt am Fundament in einer kraftvollen Mittellage. Ebenso dunkel wie warm ist der Stimmkern, den er auf einem schier endlosen Atem zu entfalten vermag. Das bringt auch jenen Effekt hervor, mit dem schon die Kastraten mindestens den weiblichen Teil des Publikums regelmäßig der Ohnmacht nahe brachten: das Messa di Voce, also das langsame An- und Abschwellen der Stimme auf einem Ton." Breakdance kann Orliński übrigens auch!

Vorsicht, liebe Leserinnen, hier ist das Messa di Voce:



Besprochen werden Jonathan Meeses Krawallstück "Lolita (R)evolution (Rufschädigendst)" in Dortmund (das laut Nachtkritiker Martin Krumholz mit viel Hitlergruß um die Frage kreist, ob Kunstterror dasselbe sei wie Terrorkunst, DlfKultur), Nurkan Erpulats Inszenierung von Simon Stephens' "Maria" im Berliner Gorki-Theater (FR, Tsp, Nachtkritik), Inszenierungen vom Brechtfestival Lehrstückzentrale in Augsburg (Nachtkritik), Stefan Bachmanns Inszenierung von Max Frischs "Graf Öderland" (FAZ) und die Oper "Anna Nicole" über das Busenwunder, das einen greisen Milliardär heiratete, in Wiesbaden (und ja, FAZ-Kritikerin Julia Bähr findet den Stoff absolut operntauglich).
Archiv: Bühne

Kunst

"Dad shares all the shit from work at the dining table". Richard Jacksons Dining Room, 2006-2007. Foto: Schirn Kunsthalle Frankfurt

Aufregend und frech findet SZ-Kritiker Till Briegleb die große Ausstellung des amerikanischen Künstlers und Provokateurs Richard Jackson in der Frankfurter Schirn. Jackson nennt Sammler schon mal "Trottel mit kotzblödem Lebensstil", in der Ausstellung empfängt die Besucher ein nackter Hintern, der über einem Esstisch seinen Scheiß versprüht: "Diese Drehbühnen, Peepshows und Tableaus verraten aber nicht nur etwas vom Zorn des Künstlers auf die verlogene Oberflächlichkeit des amerikanischen Traums von Schönheit und Gier. Sein farbiger Amoklauf erzählt vor allem vom seelischen Brutkasten der Gewalt, für den er die erbitterte Konkurrenz um Geld, Macht und Applaus im kapitalistischen System (und im Kunstmarkt) hält. Im Gegensatz zu Paul McCarthy, der provozierende Strategien der Entblößung betreibt, demaskiert Jackson die us-amerikanischen 'Tugenden' aber eher mit den Mitteln der Satire."

Besprochen werden die Ausstellung "Der Traum vom Museum,schwäbischer' Kunst, mit der das Kunstmuseum Stuttgart seine NS-Vergangenheit aufarbeitet (taz) und eine Schau des Landschaftsmalers Karl Hagemeister im Potsdam Museum (taz).
Archiv: Kunst

Literatur

Für die NZZ porträtiert Jörg Scheller den Schriftsteller Selim Özdogan, der sich "für Freiheit im nichttrivialen Sinne" engagiert und gerade seinen Kriminalroman "Der die Träume hört" veröffentlicht hat: "Identitätspolitik sieht er skeptisch, das Migrationsliteratur-Label lehnt der türkischstämmige Kölner für sich ab."

Besprochen werden unter anderem Peter Handkes "Das zweite Schwert" (Tagesspiegel), Nicole Flatterys Erzählband "Zeig ihnen, wie man Spaß hat" (Tagesspiegel), Heinz Strunks "Nach Notat zu Bett. Heinz Strunks Intimschatulle" (Standard), Ulrike Winkler-Hermadens "Lily und Jack" (Standard), Tanya Tagaqs "Eisfuchs" (FR), Dominik Bartas "Vom Land" (ZeitOnline), Colm Tóibíns "Haus der Namen" (SZ) und neue Hörbücher, darunter eine Hörspielbearbeitung von Robert Seethalers Roman "Ein ganzes Leben" mit Peter Matić (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans Christoph Buch über Rudolf Hagelstanges "Venezianisches Credo":

"Denn was geschieht, ist maßlos. Und Entsetzen
wölkt wie Gewitter über jedem Nacken.
..."
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Musik

Im Tagesspiegel-Gespräch über Beethoven staunt der Musikwissenschaftler Matthias Henke, der gerade auch ein Buch über den vor 250 Jahren geborenen Komponisten geschrieben hat, wie kreativ sich Beethoven an die Digital-Generation vermitteln lässt: " Mich persönlich hat ein Youtuber namens DoodleChaos beeindruckt. In seinem Sandbox Game 'Line Rider' choreografiert er mithilfe eines Schlitten fahrenden Strichmännchens den Kopfsatz der fünften Sinfonie so, dass man diesen plötzlich nicht mehr dunkel und schwer, sondern heiter, hell und luftig hört."



Außerdem: In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Uwe Ebbinghaus über Hans Söllners "A Jeda". Besprochen werden der Live-Auftritt der Strokes in Berlin (SZ, Welt), das neue Album von Justin Bieber (Tagesspiegel) und Moses Boyds neues Album "Dark Matter" (Jungle World). Wir hören rein:

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