Efeu - Die Kulturrundschau

Dieser Narzissmus des Hörens

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27.12.2019. Das Bröhan Museum zeigt, wie die Nordeuropäer das Bauhaus etwas hyggeliger machten. Die taz hört noch einmal das 40 Jahre alte Album "Y" von The Pop Group und stellt fest: die ganze Hören-muss-wehtun-Überwältigungsästhetik ist noch da. Die Berliner Zeitung bewundert Hans Hesses Annaberger Bergaltar mit seiner Darstellung des mittelalterlichen Bergbaus. Die Zeit feiert Offenbachs "Hoffmanns Erzählungen" in Brüssel, mit einer Titelfigur, die ganz im 21. Jahrhundert lebt. Und: Die Musikkritiker trauern um Peter Schreier.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.12.2019 finden Sie hier

Design

Kein Stahlrohr hier: der Armlehnstuhl Modell 41 "Paimio" 1932 aus Birke von Alvar Aalto und O.Y. Huonekalu-ja. Foto: Iiro Muttilainen


Das Bröhan-Museum in Berlin zeigt in einer Ausstellung "Nordic Design" als Antwort aufs Bauhaus. Etwas mehr Hygge wünschte man sich in Nordeuropa angesichts der Stahlrohrstühle, notiert Simone Reber im Tagesspiegel. "Eine kleine Sensation stellt das Krankenzimmer dar, das der finnische Stararchitekt Alvar Aalto gemeinsam mit seiner Frau Aino entworfen hat. ... Das Gebäude schlängelt sich schwungvoll durch die Landschaft, alle Zimmer sind nach Süden ausgerichtet. Die Inneneinrichtung sollte das 'Salz in der Suppe' werden. Als Alvar Aalto selbst krank war, stellte er fest, wie die Patienten ihr Zimmer im Liegen wahrnehmen, dass sie nämlich zuerst an die Decke schauen. Die Zimmerdecke ist deshalb in ruhigem Graugrün gestrichen, das Bettgestell aus lackiertem Stahlrohr freundlich gerundet. Selbst das Waschbecken ist so geformt, dass es die Ruhe nicht stört, der Wasserstrahl soll kaum zu hören sein."
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Stichwörter: Nordisches Design, Bauhaus

Kunst

In der Berliner Zeitung schreibt Ingeborg Ruthe über Hans Hesses Annaberger Bergaltar, der ab April kommenden Jahres "als digitale Großinstallation" einer Gruppe Leipziger Künstler in der Landesausstellung Industriekultur zu sehen sein wird: "Der imposante - schon früh lutherisch reformierte - Sakralbau machte die Bergstadt Annaberg weltberühmt. Und ebenso Hesses Altar, mit der Schilderung des mittelalterlichen Bergbaugeschehens auf der Rückseite des Retabels. Hans Hesse malte auf die Holztafeln die wohl früheste Darstellung der Technik des Bergbaus. In präziser Bildsprache ist die schon damals ingenieurtechnisch ausgeklügelte 'Wasserkunst' zur Entwässerung der Gruben, des Transportes von Bergleuten, Erz und Abraum zu besichtigen. Ebenso die Anordnung der Kauen über den Schachtmündungen, die Luftschächte wie auch das Zusammenspiel der Gewerke. In seinem lebensnahen, den anschaulichen Bilderbögen des Mittelalters gleichender Malstil erzählt Hesse von der harten Arbeit der Bergleute, der Steiger, Hauer, Huntschlepper, Zimmerleute, Haspelknechte, der Erzklopfer, Schmiede und Münzpräger."

Weiteres: Auf der Wissenschaftsseite der taz stellt Wolfgang Löhr kurz einen Weltatlas für Quallen vor, deren prachtvolle und grazile Formen man auch sehr gut unter Kunst subsumieren kann. Und auch der Guardian widmet sich einer Ausstellung zum Pilz. Besprochen werden die Ausstellung "Ost/West Berlin" von Nelly Rau-Häring im Freiraum für Fotografie in Berlin (Tsp) und die Stillleben Vincent van Goghs im Museum Barberini in Potsdam (FAZ).
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Film

Porträt der Nationalheldin als junge Frau: "Jeannette" von Bruno Dumont (Grandfilm)

Gleich zwei Filme hat Bruno Dumont über Jeanne d'Arc gedreht, beide kommen in kurzem Abstand in die deutschen Kinos. Dass es sich dabei um mit Metalmusik unterlegte Musicals handelt, passt gut ins spitzbübische Kino des Franzosen, der sich hier auf Texte des Dichters Charles Péguy bezieht. Klar, dass er "die Form des Musicals nicht ganz ernst nimmt", meint Andreas Busche im Tagesspiegel. "Dennoch verbindet sein Film zwei vollkommen gegensätzliche Formen des kreativen Ausdrucks auf stupende Weise: die Eleganz und Melodik von Péguys zeitloser Sprache und den kindlichen Bewegungsdrang, inklusive Radschlagen und Ententanz. Dumont war immer ein polarisierender Regisseur, aber selbst seine größten Verächter können sich dem Charme von 'Jeannette' unmöglich entziehen." (Im Perlentaucher sah Olga Bruck das ähnlich)

Schon bei der Ausstrahlung auf dem Bezahlsender Sky vor einem Jahr wurde der Neuverfilmung von "Das Boot" (die offenbar eher eine neue Geschichte auf Basis der bekannten Elemente bietet) Geschichtsklitterung vorgeworfen. Nun kommt die Serie mit großem Brimborium ins ZDF, und Lars Weisbrod greift in der Zeit die Vorwürfe auf: Besonders die Erzählung, dass amerikanische Kapitalisten - hier verkörpert von der fiktiven Figur Samuel Greenwood  - über Kriegsanleihen von der deutschen Kriegsführung profitierten, bereitet ihm tiefstes Unbehagen: "Die Serie leistet einem Geschichtsrevisionismus Vorschub, der die deutsche Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und seine Verbrechen relativiert. Die Autoren lassen die deutschen U-Boot-Fahrer darüber rätseln, ob Greenwood Jude ist. Der verneint das schließlich - er sei presbyterianisch erzogen worden, aber glaube an überhaupt nichts. Welche Geschichtspolitik bedient 'Das Boot', wenn es die Wahnidee von der jüdischen Weltverschwörung erst füttert, dann halbherzig entkräftet, um schließlich Verschwörungstheorien weiter zu bedienen?"

Dialogzeilen von weiblichen Filmfiguren zu zählen, sagen wenig darüber aus, wie ein Film mit Frauenfiguren umgeht, schreibt Barbara Schweizerhof auf ZeitOnline anlässlich der Golden-Globes-Nominierungen, die auch in diesem Jahr wieder sehr, sehr männlich ausfallen. Um etwas über die Allgemeinsituation auszusagen, brauche es komplexere, filmübergreifendere Statistik-Analysen und zwar jener Stelle, an der "Repräsentation und Wertschätzung zusammenkommen. Wo es darum geht, ob Filme von Frauen oder mit mehr Frauenrollen tatsächlich für würdig erachtet werden, mit 'The Irishman' in einer Liga zu spielen. Dafür ist es hilfreich, sich die Darstellernominierungen und -preise der letzten Jahre anzuschauen: Auch wenn die Tradition, dass der beste männliche Schauspieler im besten Film mitspielt, außer Mode geraten ist, so sind doch die Filme, für die Männer nominiert sind, mehrheitlich die breit diskutierten, favorisierten Werke. Die Frauen dagegen sind oft für die 'Ferner liefen'-Filme nominiert, die nur lauwarmen Kritikerzuspruch erhielten."

Weiteres: Beim Besuch in Indien fällt David Pfeifer von der SZ auf, "dass die neuen indischen Filmemacher mehr auf die Probleme ihres Landes blicken und weniger Märchen inszenieren".

Besprochen werden Caroline Links Neuverfilmung von Judith Kerrs Kinderbuchklassiker "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" (FR, Zeit, Welt, SZ, die FR hat außerdem mit der Regisseurin gesprochen), Tom Hoopers Filmadaption des "Cats"-Musicals ("ein Spektakel, das wirklich so bizarr ist, dass es fast schon magische Qualitäten hat", meint Patrick Heidmann auf ZeitOnline, höchst seltsam, aber eine "Augenweide", versichert Jochen Werner im Perlentaucher ), Ron Howards Hommage-Film "Pavarotti" (Tagesspiegel), Rémi Bezançons französische Tragikomödie "Der geheime Roman des Monsieur Pick" (SZ, FR), Fernando Meirelles' Netflix-Komödie "Die zwei Päpste" (taz), Sabus "Jam" (Perlentaucher) und eine Hedy Lamarr gewidmete Schau im Jüdischen Museum in Wien (Standard).
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Bühne

Szene aus "Hoffmanns Erzählungen". Foto: Bernd Uhlig


Hochaktuell findet Volker Hagedorn (Zeit) die Inszenierung von Offenbachs "Hoffmanns Erzählungen" am Brüsseler Opernhaus la Monnaie durch den polnischen Regisseur Krzysztof Warlikowski: "Wo beginnt das Verschwimmen der Realität, der Schwund der Seele, fragt er sich", und ist für Hagedorn, der in seinem Artikel auch die Aufbruchbereitschaft der Brüsseler Oper würdigt, damit ganz im 21. Jahrhundert: "Hoffmann, bei Offenbach ein tragisch versoffener Dichterheld, ... lebt ganz in jener Branchenblase, in der Menschen zu Objekten werden, Frauen zumal. Um Frauen geht es in dieser Oper ja verschärft: um die Frau als solche, die Hoffmann in viererlei Gestalt entgegentritt, als Schauspielerin, Kunstwesen, Sängerin, Kurtisane, und die er immer wieder verliert, weil er sie - so erlebt man es bei Warlikowski - nur in narzisstischer Gier wahrnimmt. Ein anderer Weinstein, über der Hose nur das Unterhemd, erpicht auf die quicke Realisierung seiner cineastischen Sehnsüchte."

In der SZ schreibt Helmut Mauró zum Tod des großen Tenors Peter Schreier, der vor allem Bach und die Schubert-Lieder singen konnte wie kaum ein zweiter: mit einer Schlichtheit, deren Kunst man oft erst beim zweiten Hören bemerkt, weil "diese Stimme schon a priori als eigenständiges, stabiles Kunstmedium vorhanden ist. Manchmal hat man den Eindruck, das Komponierte lenke lediglich einen für sich unaufhaltsam dahinfließenden Strom, in dem die Werke dann aber wie neu und veredelt auftauchen." (Weitere Nachrufe in der Welt, hier und hier, in der FAZ Jürgen Kesting, in der Berliner Zeitung Arno Widmann, im Tagesspiegel Georg-Albrecht Eckle

Hier, gerade noch passend, mit einer Arie aus Bachs "Weihnachtsoratorium":



Weiteres: Im Tagesspiegel unterhält sich Nadine Winter mit Peaches über ihr Spektakel "There is only one Peach with The Hole in the Middle" an die Volksbühne.

Besprochen werden Kai Voges' Endzeitoper "Dies Irae" am Wiener Burgtheater (SZ), Tschaikowskys Oper "Eugen Onegin" in Klagenfurt (Standard), eine Choreografie des Duos Laborgras, "In the land of small details", im Berliner Radialsystem (Berliner Zeitung) und die Filmdoku "Pavarotti" (Welt).
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Literatur

In den online nachgereichten "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Elmar Krekeler an Edgar Allan Poes Weihnachten 1848. Besprochen werden unter anderem Benjamin Mosers Biografie über Susan Sontag (Freitag), Samuel Becketts "Echos Knochen" (Freitag), Burkhard Spinnens "Und alles ohne Liebe" über das Frauenbild in den Werken Theodor Fontanes (Dlf Kultur), Akiko Higashimuras Manga-Reihe "Tokyo Girls - Was wäre wenn …?" (Tagesspiegel) und Joseph Incardonas "Asphaltdschungel" (SZ).

Mehr dazu ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau. Alle besprochenen Bücher und viele weitere finden Sie natürlich in unserem neuen Online-Bücherladen Eichendorff21.
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Musik

In der ZeitOnline-Reihe mit Rückblicken auf die zehner-Jahre widmet sich Tobi Müller dem mobilen Musikstreaming, das in den letzten Jahren das Straßenbild zu bestimmen begonnen hat. Zwar konnte man sich zuvor auch schon mit dem Walkman in der Öffentlichkeit mit tragbarer Musik abkapseln. Doch der Walkman "war noch Teil eines Dialogs mit der Öffentlichkeit. Wer einen Walkman trug, war jung und stellte kalifornische Körperkultur oder Popaffinität zur Schau. Das Signal ging auch nach außen. Beim Streaming hingegen strömt alles nach innen. Und was da strömt, wird mit immenser Computerkraft errechnet. Wir hören unseren eigenen Geschmack als endlosen Spiegel, meistens auf Kopfhörer. Dieser Narzissmus des Hörens ist neu. Musik handelte immer von Ritualen, Zeremonien, vom Sozialen. Pop war eine Wissenschaft der Massen, die sammelten, lasen, tauschten und zusammen hörten. Streaming hat das mehr oder weniger erledigt." Hat Müller denn wirklich noch nie online Hörtipps von Freunden erhalten?   

In der taz unterzieht Klaus Walter das vor vierzig Jahren erschienene Album "Y" von The Pop Group einer Bestandsaufnahme - will man sich diesen Klassiker heute wirklich nochmal anhören? An Intensität hat das Album jedenfalls nicht verloren: "Stewarts Berserkerbrüllen, Gitarren, die in die Haut schneiden, Messerwetzen, Saxofonsirenen, die ganze Hören-muss-wehtun-Überwältigungsästhetik, das alles ist noch da. Aber auch: Lebendigkeit, Soul, Schönheit gar." Was für Walter vor allem mit dem jamaikanisch sozialisierten Produzenten Dennis Bovell zu tun hat: "Der unwiderstehliche Funk-Punk in 'We are time', das spooky (oder eerie) dissonante Piano in 'Snowgirl', näher ist die Band einem Liebeslied nie gekommen, da knistert das Feuer. ...  Und der Bass, der Message ist und Massage, der Bass, der die Musik erdet, der das, was wohlmeinende Kritiker Free Jazz nennen, warm umhüllt, dubby eben, was für ein schönes Wort." Wir hören rein:



Besprochen werden das neue Country-Album der Heavy Horses (taz) und die Compilation "Kraut Jazz Futurism", die die junge Experimental-Szene Berlins abseits des Technos abbildet ("ein erfrischendes Statement, ein anderer Blick auf Berlin", meint Jan Kedves in der SZ). Wir hören rein:

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