Im Kino

Völlig aus der Zeit gefallen

Die Filmkolumne. Von Robert Wagner, Jochen Werner
26.12.2019. Tom Hoopers Filmmusical "Cats" ist seltsam und megalomanisch, der Plot dünn und die Ausführung vollkommen artifiziell. Aber was für eine Augenweide! Sabus "Jam" treibt am Beispiel eines abgehalfterten japanischen Schlagersängers und einiger anderer Protagonisten das diskontinuierliche Erzählen von den Widersprüchen einer Gesellschaft zu neuen Höhepunkten.


Einige Monate ist es jetzt her, dass der Trailer zu Tom Hoopers Musicalfilm "Cats" das Filminternet in helle Aufruhr versetzte. Obgleich es natürlich in diesen Tagen nicht unbedingt viel bedarf, um das Filminternet in helle Aufruhr zu versetzen, mögen die heftigen Reaktionen einen nicht recht überraschen ob des wunderlichen Charakters dessen, was in diesem Trailer zu sehen ist: bekannte und weniger bekannte Darsteller*innen in CGI-Catsuits, deren Felleffekte einen Stützpfeiler der PR-Strategie darstellen, sowie mehr als zweifelhafte Größenverhältnisse in artifiziell neonnachtfarbenen Bühnenbild-Sets. Nun gibt es aber durchaus verschiedene legitime Formen, auf solch wunderliches Werbematerial zu reagieren, was etwas in Vergessenheit geriet, als sich das gesamte Internet fortan in Spott zu überbieten suchte. Man könnte nämlich auch entzückt sein ob der kaum übersehbaren Seltsamkeit des ganzen Unterfangens.

Natürlich darf man nicht vergessen, wie merkwürdig Andrew Lloyd Webbers gleichnamiges Bühnenmusical selbst ist. Und wieviel merkwürdiger noch, dass ausgerechnet diese Show zu einer der erfolgreichsten Bühnenproduktionen der neueren Musiktheatergeschichte avancierte. Im Grunde ist das Ganze ja eine Schnapsidee: auf der Grundlage eines Kindergedichtbuchs von T.S. Eliot eine nahezu plotfreie musikalische Nummernrevue zu komponieren, in der Sänger*innen und Tänzer*innen als überlebensgroße Katzen einen Talentwettbewerb austragen, an dessen Ende eine von ihnen eine als Reinkarnation gemeinte Himmelfahrt gen dem "Heaviside Layer" getauften Katzenparadies erfährt. Viel ist im Film nicht zu diesem mehr als losen Gerüst hinzugekommen, aber rekapitulieren wir dennoch kurz.

Die ausgesetzte Katze Victoria (Francesca Hayward) trifft in den nächtlichen Gassen und Hinterhöfen rund um den Londoner Piccadilly Circus auf die Straßenkatzengang der "Jellicle Cats", die sich auf ihren rituellen Sangeswettstreit vorbereiten, um den oder die Auserwählte zu finden, der die Gnade der Wiedergeburt zuteil wird. Über den Dächern lauert jedoch der böse Kater Macavity (Idris Elba), der immer mal wieder mit vernehmlichem Puff in das Geschehen hinein- und hinausteleportiert wird, einige der Jellicle Cats entführt und auf einem Kahn auf der Themse in der Obhut seines Handlangers Growltiger (Ray Winstone) ablädt. Trotz dieser widrigen Umstände findet der Wettbewerb unter den gütigen Augen der Rudelführerin und Jurorin Old Deuteronomy (Judi Dench) statt, und die Abfolge der bühnenerprobten Gassenhauer kann ihren Gang nehmen. Macavity lugt immer mal wieder bedrohlich um irgendeine Ecke, aber am Ende singt die gefallene Katze Grizabella (Jennifer Hudson) ihren Gewinnersong "Memory" und fährt in einem Kronleuchter auf gen Katzenhimmel.



Den Plot mit dünn zu bezeichnen, wäre ein Euphemismus, und die Kinoadaption versucht nicht wirklich, dies zu verbergen. Wo Tom Hoopers erste große Broadway-Musical-Adaption "Les Misérables" noch einen seltsamen Spagat ausführen musste zwischen dem stets spürbaren Streben nach den großen Leinwandbildern und der bei allem Pomp nie so ganz übertünchten Bühnenhaftigkeit des Geschehens, da gibt er sich in "Cats" gänzlich der letzteren hin. Jedes Set ein Bühnenbild, das Nummer für Nummer erklettert, ertanzt und ersungen wird. Und jedes für sich ist - das wird im Reigen der Verrisse nicht ausreichend betont - eine Augenweide.

Der Film hält trotzdem bestenfalls notdürftig zusammen, was nicht heißt, dass Regisseur Hooper sowie alle beteiligten Choreograf*innen, CGI- und Set-Designer*innen nicht das Möglichste aus dem vorliegenden Material gemacht haben. Die vielverspotteten Fell-Animationseffekte, die im Trailer wohl noch unfertig verwendet wurden, sehen im finalen Film gut aus, und die vollkommen artifizielle Welt von "Cats" ist wunderschön. Vielleicht ist das hier gar die beste Kinoadaption von "Cats", die möglich ist. Das heißt aber nicht unbedingt, dass eine Kinoadaption von "Cats" eine gute Idee war.

In die Kinogeschichte eingehen wird Hoopers Film als eine der großen Exzentrizitäten Hollywoods - eine jener völlig aus der Zeit gefallenen, an jedem denkbaren Publikum vorbeiproduzierten Megaproduktionen, die immer mal wieder kurz aufleuchten und sofort wieder versinken, um vielleicht Jahrzehnte später von einem Publikum wiederentdeckt zu werden, das über ausreichend historische Distanz und Campiness verfügt, um gerade die megalomanischen, gescheiterten Großfilme in ihre Herzen zu schließen. Denn gescheitert, im Hier und Jetzt, ist "Cats" definitiv: Es ist keine Zielgruppe für ihn denkbar. Gleichwohl ist ihm - in all seiner stolz ausgestellten Seltsamkeit definitiv ein Unikat in der kontemporären Kinolandschaft - ein schwaches, widerständiges Funkeln nicht abzusprechen: nicht gerade ein kostbares Stück Edelmetall, aber vielleicht ein kleines, krummes Klümpchen Katzengold.

Jochen Werner

Cats - USA 2019 - Regie: Tom Hooper - Darsteller: Francesca Hayward, Taylor Swift, Idris Elba, Laurie Davidson, Rebel Wilson, Judi Dench, Jason Derulo - Laufzeit: 110 Minuten.

---



Enka ist eine vor allem bei älteren Japanern populäre Musikgattung. Im deutschen Wikipedia-Artikel wird sie mit volkstümlichem Schlager verglichen, da beide auf Elementen traditioneller Volksmusik aufbauen, wobei das Althergebrachte durch die Kleidung der Performer, durch Kimono beziehungsweise Lederhose unterstrichen wird. Im Grunde jedoch handelt es sich bei beiden um moderne Popmusiken, die der Volksmusik ein neues Gewand geben, wobei das Alte nostalgisch und verklärend verfremdet wird. Stefan Mross' Musik entstammt der gleichen Welt wie Britney Spears und wäre beispielsweise in der k.u.k.-Zeit undenkbar gewesen. Der Widerspruch zwischen verleugneter Modernität und angepasster Tradition ist ein wesentlicher. Womit wir bei "Jam" angekommen sind, einem Film, der sich durch Widersprüche konstituiert.

Hiroshi (Shô Aoyagi) ist ein abgehalfterter Enka-Sänger. Wenn er nach Konzerten mit Sonnenbrille durch die Nacht schlurft, verströmt er eine Atmosphäre von Resignation und Überdruss. Seine Fans sind ausschließlich mittelalte Frauen. Eine schöne Szene zu Beginn zeigt ihn handlungsunfähig, als zwei von ihnen ihn zum Schiedsrichter zwischen ihren Meinungen machen. Normalerweise redet er seinen Anhängerinnen hemmungslos nach dem Mund. Für ein solches Patt besitzt er keine Strategie. Masako (Mariko Tsutsui) ist eine der beiden Meinungsvorbringerinnen. Sie wird ihn entführen und zwingen, ein Lied für und über sie zu schreiben. Ganz automatisch hatte er sie seinen größten Fan genannt. Für sie ist es bitterer Ernst. Ihr Zusammensein ist stets eine Spaltung. Auch optisch. Wenn Hiroshi sich im Scheinwerferlicht befindet, steht Masako im Schatten - und vice versa. Wird Masako in der Nacht von orangenem Licht angestrahlt, trifft Hiroshi grünes.

Sie sind aber nicht allein. Takeru (Keita Machida) fährt durch die Nacht, weil ein Geist ihm erzählte, dass seine Freundin wieder aus dem Koma erwacht, wenn er täglich drei gute Taten erfüllt. Tatsächlich aber wirkt er unwissentlich bei der Ausführung von Verbrechen mit. Ihm werden zwei Gangster beigestellt, die von ihrem schlechten Gewissen belastet sind, aber trotzdem nicht von Gewalt und Diebstahl lassen können. Und zu guter Letzt gibt es Tetsuo (Nobuyuki Suzuki), der mit einem Hammer auszog, um sich an ehemaligen Komplizen zu rächen. Während er nun seine demente Oma mit ihrem Rollstuhl durch die Nacht schiebt - sie trägt dabei ein seltsam diabolisches Lächeln -, tauchen immer größere Gruppen von Gangstern auf, die sich mit ihm wilde Straßenschlachten liefern, während die alte, beistehende Frau nur selig ins Nichts schaut.



Das ist auch schon alles, was es über diese Figuren zu erfahren gibt. Sie werden wie Typen behandelt und die Konflikte, die entstehen, wenn sie aufeinandertreffen, und die sich um Überdruss und Fanatismus, um Hilfeleistung und ihre Ausnutzung, um Gewalt und Fürsorge drehen, finden keine Auflösung. Komik und Tragik der Situationen entstehen durch die Anstauung an Gegensätzen. Tetsuo schiebt seine Oma und es werden einfach nur immer mehr Gangster, die plötzlich vor ihm stehen. Zu Beginn quält Masako Hiroshi durch ihre einfache Anwesenheit, obwohl er doch nur seine Ruhe haben möchte, später ist er außerdem noch gefesselt und muss den immer entrückteren Wünschen einer Frau entsprechen, die mit einem Messer vor ihm steht und sagt, dass sie ihn liebt.

Auch über seine Figurenkonstellation hinaus ist der Film von einem Widerspruch geprägt, der dem des Enka nicht unähnlich ist. Das digitale Color Grading macht "Jam" deutlich zu einem Kind seiner Zeit, wie auch Tetsuos Schlägereien ziemlich auf dem neuesten Stand des Möglichen sind. Diesem zeitgemäßen Aussehen steht aber eine Struktur entgegen, die strikt aus den Neunzigern stammt. "Jam" beginnt mit einem Autounfall und erzählt daraufhin rückblickend die Geschichten der beteiligten Personen, bis wir wieder bei dem eröffnenden Vorfall angekommen sind. Sporadisch laufen sie sich über den Weg und beeinflussen einander, wie vom Schicksal geleitet. Es ist, als würde sich der kulturelle Einfluss von "Short Cuts" und vor allem "Pulp Fiction", lange Jahre nach den letzten Großtaten des diskontinuierlichen Erzählens in "Memento" oder "Irreversible", noch immer auf seinem Höhepunkt befinden.

Wenn die Widersprüche in "Jam" schließlich an ihre Grenzen geraten, dann folgt eine sinnbildliche Explosion und alle beginnen zu rennen und zu rasen. Von den Figurenkonstellationen bleibt nur noch die Kinetik übrig, die alle voneinander weg und doch zusammentreibt - zum Autounfall. Das passt dann doch wieder sehr gut zum Regisseur SABU, dessen Metier Leute in Bewegung sind. Er selbst tauchte zur Jahrtausendwende mit "Postman Blues" und "Monday" kurz auf der Shortlist der Tarantino-Nachfolger auf. Seit dieser Zeit werden seine Filme aber deutlich weniger breit wahrgenommen und ihre Qualität ist seit "Blessing Bell" (2003) eher schwankend.

Mit "Jam" bietet SABU seinem Publikum wieder das Kino, für das er zu seinen Hochzeiten stand. Wie das Lied, das Hiroshi und Masako schreiben, klammert er sich an das eigene Genre, um das zu erhalten, was wir schon kennen. Nur wenige Ausreißer lässt "Jam" zu. In der Mitte des Films verschwinden zum Beispiel die überzogenen, leicht zum Slapstick tendierenden Schlägereien Tetsuos, die bis dahin als running gag seinen Rhythmus bestimmen und besonders deutlich an den "alten" SABU erinnern. Ihr Verschwinden hinterlässt eine seltsame Asymmetrie, die wie ein (unbewusster) Hilferuf wirkt es. Ausgestoßen von einem Filmemacher, der nicht im gefälligen Erfüllungsdienst untergehen möchte.

Robert Wagner

Jam - Japan 2018 - Regie: SABU - Darsteller: Shô Aoyagi, Mariko Tsutsui, Keita Machida, Nobuyuki Suzuki, Hayato Onozuka - Laufzeit: 102 Minuten.