Im Kino

Ekstatische Effekte

Die Filmkolumne. Von Olga Baruk, Thomas Groh
18.12.2019. Die kleine Jeannette rockt in Bruno Dumonts Filmmusical über "Die Kindheit der Jeanne d'Arc" die Naturbühne und entfaltet zu ihren Disco-Moves einen theologischen Diskurs auf hohem Niveau . J.J. Abrams schummelt sich mit "Star Wars - Der Aufstieg Skywalkers" gerade mal so durch die Franchiseruinen der Saga.


Bruno Dumont ist ein seltener Fall von einem Regisseur, der sich neu zu erfinden versteht. Seine filmische Laufbahn begann 1997 mit "Das Leben des Jesu", gefolgt von weiteren Filmen, die allesamt in der nordfranzösischen Provinz spielten. Sie zeigten Menschen vor Hauseingängen, auf dem schmalen Fußweg, mit einem Bein gegen die Wand gestützt, wartend und sichtlich schwitzend in der schmachtenden Hitze. Das Dorfleben strahlte etwas Ungemütliches, gar Unanständiges aus, roh und brutal waren Dinge, die hier vonstattengingen, der obligatorische Sex hart und primitiv, die Gefühle blieben stets stumm. Seine Figuren, von Laiendarsteller*innen gespielt, waren schräg, sprachlos und von herkömmlichen Schönheitsvorstellungen weit entfernt.
 
Dann kam "Twentynine Palms" (2003), amerikanische Wüste, existenzielle Weite, gerahmt von Felsenlandschaften, lange Fahrten auf leeren Highways, das Entsetzliche und später noch viele Messerstiche in einem Motelzimmer, die eine Figur der anderen zufügte. Bilder, die man nicht so schnell wieder vergisst, leider. Spätestens mit der Fernsehserie "Kindkind" von 2014 trat eine neue, sehr überraschende Wende in Dumonts Werk ein. Die Rückkehr in den abgehängten französischen Norden. Noch immer war die Gewalt allgegenwärtig, diesmal jedoch als Kriminalkomödie aufbereitet, erzählt in einer völlig anderen Tonalität, mit schwarzem Humor und herrlichem Slapstick.
 
Warum eigentlich nicht auch mal ein Musical? Dumont sucht nach einem passenden Thema, so die Eigenauskunft, und stößt dabei auf Jeanne d'Arc. In der Folge stößt er logischerweise auf Charles Péguy, Schriftsteller, Buchhändler und flammenden Sozialisten, der um die Jahrhundertwende zwei Theaterstücke über die französische Nationalheldin verfasste. Der Fokus auf das Hier und Jetzt, so Dumont in einem Interview, das verbinde einen kritischen Denker wie Péguy und das Bauernmädchen Jeannette, die im 15. Jahrhundert in einem Dort die Schafe hütete und anschließend ihre Heimat von der englischen Besatzung befreite.
 


Dieses Hier und Jetzt ist im Genre des Musicals wunderbar aufgehoben. Frankreich, Hochsommer 1425. Seit Jahrzehnten herrscht ein blutiger Krieg, aber nichts davon bekommen wir im Film zu sehen. Stattdessen immer dasselbe Stück Natur in Küstennähe, der Himmel ist strahlend klar und die Erde sandig, hohe Gräser, Bäume und viel Wind, die hügelige Gegend ist durchzogen von Bächen, Schafe wandern durchs Bild und blöken hin und wieder dazwischen. Jeannettes Leinenhemd ist pastellblau.

Jeannette (Lise Leplat Prudhomme) ist acht Jahre alt und eine, die gern Fragen stellt. Warum dieser verdammte Krieg? Wozu, unser Vater im Himmel, das ganze Leid und Verderben? Sie fixiert mit einem vorwurfsvollen Blick die Kamera und hakt singend nach, ob die ganze Entwicklung, Jesus und die vielen Heiligen, denn umsonst gewesen seien. Jeannette kann auch nerven. Was sie noch nicht kann und niemals können wird - was Péguy, den Zeugnissen seiner Zeitgenoss*innen zufolge ebenfalls nicht sonderlich schätzte - sind Kompromisse mit dem eigenen Gewissen. Jeannettes Gerechtigkeitsgefühl lässt sie ungeduldig werden.
 
Kompromisse will auch Dumonts Film nicht machen. Jeannette und das überschaubare Figurenensemble (Freundin Hauviette, Madame Gervaise als Nonne in Doppelausgabe und ein paar andere) rocken die Naturbühne, ohne Playback, das hört und sieht man genau, a cappella oder in Begleitung. Musikalisch ist das eine wilde Mischung, komponiert von Gautier Serre alias Igorrr. Populäre und folkloristisch gefärbte Stücke, Synthiepop, Rap-Einschübe und Heavymetal-Refrains. Dazu viel frontal und schräg von unten gefilmtes Headbanging (Kamera: Guillaume Deffontaines), die langen Haare fliegen, die Füße wirbeln den Sand auf, die Arme immer wieder hoch zum Himmel, der Hals und der Rücken gestreckt. Jeannette tanzt, sie beschreibt Kreise auf dem Boden. Als die Zeit vergeht und sie älter wird, und nicht mehr Jeannette, sondern bitte ausschließlich Jeanne genannt werden möchte, wandern ihre Bewegungen deutlich ins Abstrakte und Fließende.
 


Dürfen Menschen Gott nach seinen Gründen fragen? Muss man sich als Einzelne fügen und alles akzeptieren, was kommt? Was Jeannette und Co. in diesem Film singen, sprechen und mit ikonischen Disco-Moves fundieren, ist ein theologischer Diskurs auf hohem Niveau. Mit Wucht und Nachdruck geht es ums Säen und Ernten, Leiden der Leiber, Schmerz und blutende Wunden. Man merkt, dass die Vorlage einer anderen Zeit entstammt, und so kann man dem Ganzen kaum folgen. Aber das Hier und Jetzt ist das, was zählt. Die Worte haben ihre Suggestionskraft, die Wiederholungen zeitigen ekstatische Effekte. Die Lust, das Ganze hier und da zu überspringen und zu beschleunigen, überkommt die Zuschauerin manchmal dennoch.
 
Davon abgesehen ist "Jeannette - Die Kindheit der Jeanne d'Arc"  toll, und das Tolle besteht darin, dass der Film vom Nicht-Perfekten lebt, vom abrupten Tempowechsel, von der Naivität und dem Nicht-Können seiner jungen Laiendarsteller*innen. Von den unfreiwillig beiläufigen Blicken in die Kamera, von der Asynchronität der Tanzbewegungen, den nicht getroffenen Tönen, dem kurzen Stocken. Ein Musical, das alles gibt, aber sich dabei nicht wirklich ums Publikum schert und nicht auf Applaus wartet. Wie mühelos, lebendig und gewagt es daher kommt - das ist schon fast eine Frechheit. Nach der Cannes-Premiere vor zwei Jahren bekommt "Jeannette - Die Kindheit der Jeanne d'Arc" jetzt auch in Deutschland einen kleinen Kinostart.

Olga Baruk

Jeannette - Die Kindheit der Jeanne d'Arc - Frankreich 2017 - OT: Jeannette, l'enfance de Jeanne d'Arc - Regie: Bruno Dumont - Darsteller: Lise Leplat Prudhomme, Jeanne Voisin, Lucile Gauthier, Victoria Lefebvre - Laufzeit: 105 Minuten.

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Warum gewinnt der Wookie immer beim Dejarik-Spiel? (Wenn Ihnen beide Begriffe nichts sagen, können wir sofort zum Serviceteil übergehen: Sie brauchen nicht weiterlesen und können auch den neuen "Star Wars"-Film bedenkenlos übergehen - es gibt in Text wie Film für Sie nichts zu holen außer das unbefriedigende Gefühl verschwendeter Lebenszeit.) Der Wookie gewinnt beim Dejarik-Spiel, weil er immer schummelt. So in etwa das vom Wookie natürlich lautstark kritisierte Fazit aus einem Dialog gleich zu Beginn des neuen "Star Wars"-Films "Der Aufstieg Skywalkers", dem neunten in der Zählfolge der Hauptsaga, dem mittlerweile elften, wenn man die beiden als kanonisch geltenden Nebenfilme dazuzählt, und der fünfte allein in den letzten vier Jahren, der Disney-Ära des Franchise.

Bis auf etwas Nostalgie - Dejarik ist natürlich das nach Ray-Harryhausen-Manier animierte Monster-Brettspiel, das für einen Moment lang im allerersten "Star Wars"-Film in Han Solos Rasendem Falken zu sehen ist - ist dieser Dialog für den weiteren Film herzlich belanglos. Aber man hat ja gelernt, solche "Star Wars"-Dialoge programmatisch zu lesen: "This will begin to make things right", lautete die erste, von Max von Sydow gesprochene Zeile des Disney-Franchise-Reboots im Jahr 2015 - ein Garantieversprechen an die Fans, dass "Star Wars" nach der weithin als Katastrophe empfundenen Prequel-Trilogie jetzt tatsächlich wieder "Star Wars" sein darf. Wofür auch der Name J.J. Abrams stehen sollte, der zuvor bereits das "Star Trek"-Erzähluniversum fürs 21. Jahrhundert fit gemacht hatte. Der sich dieser Ansage anschließende Film "Das Erwachen der Macht" entpuppte sich in der Tat als kaum camoufliertes Remake des allerersten "Star Wars"-Films.

Jetzt also wird geschummelt. Vielleicht hat das Franchise dies nötig, denn Disney hat sich in den letzten vier Jahren, was "Star Wars" betrifft, ziemlich zu Tode gesiegt: Die beiden Fanservice-Nebenfilme "Rogue One" und "Solo" stießen nicht gerade durch die Bank auf die erhoffte Gegenliebe - "Solo" entwickelte sich gar zum Flop -, zudem hat das Franchise binnen kürzester Zeit eine beachtliche Tradition verbrannter Erde entwickelt, was kommende und wieder gehende Autoren und Regisseure betrifft. Der zweite Teil der neuen Trilogie - "Der letzte Jedi" - bekam zudem den bemerkenswert geballten Hass zumindest der hartnäckigen Fans ab: Zu unorthodox waren Rians Johnsons Entscheidungen, Erzählmanöver und Weichenstellungen als Regisseur und Drehbuchautor.



Allgemeines Fazit enttäuschter Fans: Die Story wurde geradewegs in eine Sackgasse bugsiert - weder hatte der Film (im Grunde nur ein Nachklapp zum vorangegangenen) die Saga nennenswert vorangebracht, noch Voraussetzungen geschaffen, um dem abschließenden Teil entgegen zu fiebern. Auch Disney hat das erkannt: Eine rasch erfolgte Vertragskündigung, später wurde kurzfristig wieder J.J. Abrams verpflichtet, um den alten Kahn neuerlich aus dem Sumpf zu ziehen.

Diese Hektik hinter den Kulissen merkt man dem Film an: In zweieinhalb Stunden hat "Der Aufstieg Skywalkers" alle Hände voll zu tun, die angerissenen Erzählstränge auszuerzählen, seine Figuren je nach Bedarf hektisch von A nach B zu schieben, ab und an ein bisschen "Star Wars"-Nostalgie einzustreuen, Geheimnisse zu lüften, Familienaufstellungen zu vollziehen, Raumschlachten zu inszenieren und Wendungen herbeizuführen, die es gestatten, der nach "Der letzte Jedi" auf ein kleines Grüppchen zusammengeschmurgelten Rebellion doch noch etwas Wucht im Auftritt zu verleihen.

Die Story in groben Zügen: Der Imperator - heimlicher Strippenzieher der Prequel- und direkter Vorgesetzter Darth Vaders in der klassischen Trilogie - ist wieder da. Glaubte man ihn am Ende von "Rückkehr der Jedi-Ritter" nach einem Sturz in einen Schacht des wenig später explodierenden Todessterns noch physisch desintegriert, entpuppt sich der nunmehr untote Sith-Lord (Ian McDermid) als hartnäckiger als gedacht und sorgt mit geisterhaften Ansprachen für Aufsehen. Kylo Ren (wir erinnern uns: der emotional instabile Sohn von Prinzessin Leia und Han Solo, ehemaliger Jedi-Schüler Luke Skywalkers, dann aber der dunklen Seite der Macht verfallen und gespielt von Adam Driver) sieht seine neo-imperiale Regentschaft darob in Frage gestellt, bekommt vom Imperator allerdings einen mephistophelischen Pakt angeboten, den er nicht ablehnen kann. Die kümmerlichen Reste der nun Widerstand genannten Rebellion stoßen derweil auf einen Spion in den Rängen der Ersten Ordnung und bekommen Wind von der Allianz zwischen Ren und dem Imperator, alldieweil Rey (Daisy Ridley), jene junge, enorm machtsensible Frau aus den Wüsten, unter der Anleitung von Leia (Carrie Fisher - vor den Dreharbeiten verstorben, aber unter Zuhilfenahme von Archivmaterial schummeligerweise in die Filmdialoge reinkopiert) ihre Jedi-Künste verfeinert und weiterhin Ahnenforschung betreibt, da im "Star Wars"-Universum selten etwas Großes vonstatten geht, wenn es keine geheimen Familienbande gibt.

So weit und tief die Galaxis auch sein mag: Irgendwer ist immer mit irgendwem verwandt. Und auch auf einen Lando Calrissian - eine Nebenfigur aus der klassischen Trilogie, gespielt von Billy Dee Williams - stößt man am Rande einer leicht peinlichen Space-Variante des "Burning Man"-Festivals, weil das für den Nostalgie-Effekt gut in den Kram passt, auch wenn Lando hier, früher immerhin ein Spieler und Draufgänger, als Old-Times-Fossil nurmehr den Lächel-Onkel mit lauwarm erbaulichen Sprüchen geben darf. Egal, auch ein Billy Dee Williams muss Miete zahlen, der Scheck sei ihm gegönnt.



Diese "Hase aus dem Zylinder"-Manier ist symptomatisch für die Schummel-Strategie, mit der sich Abrams durch die Franchise-Ruine schlawinert, um in atemlos runtergepolterten 144 Minuten zu retten, was zu retten ist. Immerzu fallen irgendwem irgendwelche Pläne ein, entpuppen sich eindeutig der guten oder der schlechten Seite zugeordnete Figuren als Grenzgänger, geschieht dies-das-Ananas, weil es gerade nötig ist. Und nötig ist - siehe Liste weiter oben - ständig äußerst viel los.

Unter den gegebenen Voraussetzungen lässt sich diplomatisch festhalten: Es hätte schlimmer kommen können. Was an Trümmern und Baustellen im Franchise gerade herumliegt, wird schon einigermaßen okay aufgelesen, angemessen verleimt und schlussendlich buchstäblich im Sand verbuddelt. Zwei, drei schöne Momente - inklusive der hübschen Geste zweier inhaltlicher Korrekturen von Neben-Altlasten aus der klassischen Trilogie - gibt es obendrauf.

Nur fühlt sich "Der Aufstieg Skywalkers" als Abschluss einer neun Filme umfassenden Trilogie dreier Trilogien gehetzt, vollgestopft und mit der heißen Nadel gestrickt an - die ausbalancierte Mischung aus Spektakel und rührseligem Pathos, die gerade die klassische Trilogie in ihrem Kern ausgezeichnet hatte, wird hier zu einer Hetze auf der Suche nach der nächsten Space-Kulisse, der nächsten Plot-Etappe. Selbst Momente der inneren Sammlung - die Auftritte der großen, als Gespenster in die Macht eingegangenen Jedi-Weisen - verkommen zur Pflichtübung, wenn Luke Skywalker, nunmehr als Heiliger Sankt Lukas geläutert, in einer huschhusch zurechtgezimmerten Szene auf seiner Einsiedlerinsel erstens nochmal klarstellen darf, dass Teil Zwei der Trilogie nun aber wirklich ein großer Irrtum war, und zweitens, dass es - und das ist für Reys Ahnenforschung buchstäblich bis ins letzte gesprochene Wort von Belang - Dinge gibt, die wichtiger sind als Blut (Kenner der Reihe dürfen darin nochmal einen Mittelfinger in Richtung Prequel-Trilogie sehen, aber das nur am Rande).

Kurz und gut: Puh, es ist vorbei. So irgendwie. Wie es jetzt weitergeht, darauf darf man gespannt sein. Längst entspannen sich die großen Dramen in "Star Wars" nicht mehr in den Filmen, sondern im Fan-Diskurs, vor allem auf Youtube, wo man sich in den nächsten Tagen auf stapelweise "The Rise of Skywalker sucks"- und "Why The Rise of Skywalker is a a hidden masterpiece"-Videos gefasst machen darf. Vom Folgen entsprechender Hashtags auf Twitter wird dringend abgeraten.

Auch da bieten die Wookies und das Dejarik-Spiel eine Analogie: Im allerersten Film der Reihe heißt es nämlich, dass Wookies im Falle einer Niederlage ihrem Gegner gerne mal den Arm aus dem Gelenk drehen. C-3POs Ratschlag an R2-D2 daher: "Lass den Wookie gewinnen." Ob J.J. Abrams' beim Schummeln wirklich gut beraten war, darf man bezweifeln.

Thomas Groh

Star Wars - Der Aufstieg Skywalkers - USA 2019 - Regie: J.J. Abrams - Darsteller: Daisy Ridley, Adam Driver, Billie Lourd, Keri Russell, Carrie Fisher, Mark Hamill, Billy Dee Williams - Laufzeit: 141 Minuten.