Efeu - Die Kulturrundschau

Ich kann das nicht lesen

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10.10.2019. Die taz erlebt vor den Fotos Jan Groovers einen Moment der ophthalmologischen Orientierungslosigkeit. In der Zeit sieht Salman Rushdie dem Ende seiner Zeit entgegen. Und die Schauspielerin Beatrice Richter erzählt, was sie in der Bochumer Theaterkantine von Fassbinders Truppe gelernt hat. Die taz erwartet sich vor allem politische Korrektheit bei der Vergabe der zwei Literaturnobelpreise heute mittag um 13 Uhr. Die SZ beobachtet das sich wandelnde Geschäft im Klassik-Markt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.10.2019 finden Sie hier

Kunst

Jan Groover, Sans titre, ca. 1978. © Musée de l'Elysée Lausanne, Fonds Jan Groover


Katharina J. Cichosch erlebt im Musée l'Élysée in Lausanne vor den Arbeiten der amerikanischen Fotografin Jan Groover einen Moment der "ophthalmologischen Orientierungslosigkeit". Nichts ist, wie es scheint oder vielmehr, erklärt sie in der taz, alles ist wie in der vorsprachlichen Zeit, als "Materie noch Eindruck" war. Das sehe man besonders in den Küchen-Stillleben, mit denen Groover Ende der Siebziger bekannt wurde: "Zwischen rötlichem Blätterfleisch blitzen da beispielsweise Spaghettizange und Tortenring wie kostbare Preziosen auf. In Groovers exotisierter schönen Warenwelt wird Küchenbesteck zum Schatz, den man ins Dschungeldickicht marmorierter Pflanzenblätter gehoben hat. Auf anderen Bildern schimmern Gabel und Co. zwischen prallem Rot, das vermutlich einer Tomate entliehen wurde, oder vor dottergelbem Hintergrund als artifiziell hochgeschraubte Environments. ... Ihre Bilder zeugen vom Wunder der Wahrnehmung, die ihr Geheimnis, obwohl die neurophysiologischen Grundlagen sich nachvollziehen lassen, letztlich nicht preisgibt. Vom Verhältnis des Menschen zu den Dingen. "

Weiteres: Bernd Noack unterhält sich für die NZZ in der Kommunalen Galerie in Berlin mit der Fotografin Karen Stuke, die mit einer Camera obscura den Spuren in W. G. Sebalds Roman "Austerlitz" folgte. Besprochen wird außerdem eine Ausstellung mit weinenden Frauen von Anne Collier in der Berliner Galerie Neu (Tagesspiegel).
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Literatur

Mit "Quichotte" wollte Salman Rushdie raus aus New York, dem Zentrum seiner vorangegangenen Romane, erklärt er im großen Zeit-Interview, in dem es von Trump und Fatwa über Hemingway bis zu tragischen Familiengeschichten um alles mögliche geht - aber eben auch um den neuen Roman: "Ich habe ein Buch über das Ende jener Welt geschrieben, in der ich mein ganzes Leben lang gelebt habe; der Welt, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann. Diese Welt war sieben Jahrzehnte lang stabil. Jetzt ist unser Bild dieser Welt zu Scherben zerschlagen, und wir wissen nicht, was kommt. ... Wenn wir den Klimawandel zu meinem Szenario addieren: Ja, natürlich kann es dann auch das Ende der Welt sein. Was früher in 50 Jahren geschah, passiert heute in fünf Minuten. Vielleicht können wir uns aber auch durch ein Portal retten und in eine andere, rettende Dimension der Erde treten."

Heute um 13 Uhr verkündet die nach einer turbulenten Krise, die Reinhard Wolff in der taz zusammenfasst, in beträchtlichen Teilen neu zusammengesetzte Schwedische Akademie erstmals seit 2017 wieder einen Literaturnobelpreis - beziehungsweise derer zwei, um das Fiasko im letzten Jahr, als keine Auszeichnung bekannt gegeben werden konnte, auszugleichen. "Das Dilemma, die doppelte Preisvergabe nach Proporzregeln der politischen Korrektheit zu betrachten, in denen es neben den besonderen Formen der Sprachschöpfung vor allem auch um ethnische Herkunft und Geschlecht gehen wird, ist kaum zu umschiffen", ist sich Harry Nutt in der FR sicher. Denn: Die Akademie stehe nunmehr unter ganz besonderer Beobachtung. "Paradox genug, denn bisher bestand die besondere Würde des Literaturnobelpreises ja nicht zuletzt in der durch Autonomie und Tradition beglaubigten Unantastbarkeit der Akademiemitglieder."

"Unfreiwillig blamabel" findet NZZ-Kritiker Rainer Moritz, wie die Buchhändlerin Petra Hartlieb (online nicht zugänglich) in der Presse von ihrem beschwerlichen Alltag als Jurorin des Deutschen Buchpreises berichtet: "'Ich kann das nicht lesen, ich kann das nicht verstehen, ich kann das vermutlich nicht verkaufen' - so der Aufschrei der Gepeinigten, die E-Mail-Trost allein vom zweiten Buchhändler in der Jury erhält: 'Wir müssen das verhindern.' Es ist ein fundamentaler Irrtum anzunehmen, dass Literatur vor allem der Zerstreuung zu dienen habe und leicht zugänglich sein müsse."

Claudia Mäder liest für die NZZ die bisher unveröffentlichten Proust-Texte, die nun in Frankreich erschienen sind. Warum der Autor die Texte seinerzeit nie veröffentlicht hat? "Einige von ihnen kreisen stark um Fragen der homosexuellen Liebe, und möglicherweise, so wird gemutmaßt, hat Proust sein Buch letztlich nicht auf dieses Thema ausrichten wollen. Vielleicht, so eine andere These, war Proust aber auch einfach noch nicht zufrieden mit der Form dieser Texte. Etliche sind Fragment geblieben, bloß zwei sind ganz vollendet, einige brechen mitten in angefangenen Sätzen ab."

Weiteres: Im Standard porträtiert Michael Wurmitzer die für den Deutschen und den Österreichischen Buchpreis nominierte Schriftstellerin Raphaela Edelbauer. Andreas Breitenstein hat für die NZZ die Literaturszene im norwegischen Bergen besucht. Sieglinde Geisel unterzieht Nora Bossongs Roman "Schutzzone" dem Page-99-Test von Tell Review.

Besprochen werden unter anderem Pascale Kramers "Eine Familie" (NZZ), Shelagh Delaneys "A Taste of Honey" (Freitag), der Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und Joseph Wulf (FR), Anna Enquists "Denn es will Abend werden" (SZ) und Eugen Ruges "Metropol" (FAZ).
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Film

Sehr glücklich, sehr zufrieden kommen Lukas Foerster und Michael Kienzl aus Wien nach Hause, wo sie im Filmmuseum eine Woche lang italienische Giallo-Filme (mehr dazu in unserer Magazinrundschau) gesehen haben und nun auf critic.de über diese Seherfahrungen sprechen. Carolin Weidner empfiehlt in der taz eine Lynne Ramsay gewidmete Retrospektive im Berliner Kino Arsenal. Im Tagesspiegel rät Gregor Dotzauer dem Berliner Publikum derweil zum Besuch des DokuArts-Festivals im Berliner Zeughauskino. Im ZeitMagazin träumt die Schauspielerin Linda Hamilton. Und der "Joker" hält weiterhin die Welt in Atem (unser erstes Resümee): Gespräche mit dem Regisseur Todd Phillips führen Hanns-Georg Rodek (Welt) und Richard Pleuger (SZ), mit Hauptdarsteller Joaquin Phoenix hat sich Andreas Borcholte für SpOn getroffen. Außerdem diskutieren Zeit, FAZ, Freitag, Welt, FR und NZZ den kontroversen Film.

Besprochen werden Tom Sommerlattes Komödie "Bruder Schwester Herz" (taz), Louis-Julien Petits Komödie "Der Glanz der Unsichtbaren" über eine Gruppe von Frauen, die ein Haus besetzen (taz), Pedro Costas in Locarno ausgezeichneter Film "Vitalina Varela", der heute das Münchner Underdox-Festival eröffnet (SZ), Netflix' neuer Stephen-King-Film "Im hohen Gras" (FAZ) und Bert Rebhandls neues Buch über den Filmklassiker "Der dritte Mann" (Standard).
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Bühne

Stephan Lebert und Britta Stuff unterhalten sich in der Zeit mit der Schauspielerin Beatrice Richter, die als Partnerin von Rudi Carrell populär wurde und erzählt, wie sie zu Beginn ihrer Karriere die Truppe von Fassbinder in der Theaterkantine von Bochum beobachtete: "Und wie Fassbinder mit seinen Schauspielern umgegangen ist, da habe ich eines begriffen: Das ist wirklich ein Prostitutionsberuf. Du tust, was von dir verlangt wird. Wenn du es nicht tust, fliegst du. Und musst dir dann überlegen, wie du deine Miete zahlst. Widerstand? Null."

Der Zürcher Ballettdirektor Christian Spuck, der gerade Helmut Lachenmanns Oper "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" für das Ballett choreografiert hat, erzählt im Gespräch mit der NZZ von der Zusammenarbeit mit dem Komponisten: "Ich habe viele Gespräche mit Lachenmann geführt, ich empfinde ihn als sehr zurückhaltend, er greift nicht ein in meine Arbeit. Ich spüre seinen Respekt und die Freiheit, die er mir lässt. Den Textabschnitt von Leonardo da Vinci in der Oper wird Lachenmann selbst sprechen, er wird selbst auf der Bühne sein. Allein das ist großartig."

Weitere Artikel: Regisseur Jan Bosse spricht im Interview mit der Berliner Zeitung über die Repräsentationskrise des Theaters und seine Inszenierung des "Don Quijote", die ab übermorgen am Deutschen Theater zu sehen ist. Rene Pollesch erklärt im Interview mit dem Tagesspiegel, wie er in der Volksbühne hierarchiefrei arbeiten will. Nachtkritikerin Verena Harzer schickt einen Theaterbrief aus New York. In der FAZ berichtet Kerstin Holm vom experimentellen Theaterfestival in Minsk. Tagesspiegel (hier) und nmz (hier) melden, dass der Bundesgerichtshof das Urteil des Landgerichts München gegen Siegfried Mauser, den ehemaligen Präsidenten der Hochschule für Musik und Theater München, wegen sexueller Nötigung in drei Fällen bestätigt hat. Hausers Anwalt hat Verfassungsbeschwerde angekündigt.

Besprochen werden Ingrid Langs Inszenierung von Philipp Weiss' Zukunftsvision "Der letzte Mensch" am Theater Nestroyhof Hamakom Wien (nachtkritik), Enrico Lübbes Inszenierung von Wagners "Tristan und Isolde" in Leipzig (nmz), Tobias Kratzers Inszenierung von Rossinis "Guillaume Tell" an der Opéra de Lyon (FAZ)
Archiv: Bühne

Musik

Der Umsatz mit Klassik-CDs musste zuletzt erhebliche Einbußen hinnehmen und die Zahl der Aushängeschilder, die die Bilanz am Ende dick machen, wird immer kleiner, erfahren wir von Michael Stallknecht in der SZ. Zahlreiche Veröffentlichungen erzielen Absätze im mittleren dreistelligen Bereich - und Streaming kompensiert die weggebrochenen Einkünfte kaum. "Die Zeiten, in denen Künstler für ihre Aufnahmen Vorschüsse auf die ersten verkauften Exemplare bekamen, sind auch lange vorbei. In der Gegenwart müssen es sich Musiker erst mal leisten können aufzunehmen, denn nicht selten müssen sie es selbst bezahlen. ... Die Plattenfirma fungiert hier im Grunde nur noch als Gatekeeper, als Gütesiegel für Plattenhändler und Kunden. Daneben stellt sie ihre Vertriebswege zur Verfügung und investiert manchmal noch in Marketingmaßnahmen, wobei die Künstler auch Werbematerialien wie Fotos und Videos oft selber zahlen müssen." Warum sich die Musiker das gefallen lassen? Für sie ist die vorweisbare CD noch immer eine Art "Visitenkarte".

Weiteres: In der taz spricht Philipp Rhensius mit dem House-DJ Theo Parrish, der für eine Show zahlreiche Legenden des Labels Black Jazz Records nach Berlin holt. Für den Tagesspiegel streift Udo Badelt mit dem queeren Popkünstler Taylor Mac durch Berlin, wo er demnächst seine Show "A 24-Decade History of Popular Music" aufführen wird. Und parallel zu den 200 besten Songs der 10er-Jahre (unser Resümee) hat Pitchfork nun auch die 200 besten Alben der 10-er Jahre gekürt. Auf der Spitzenposition: "Blonde" von Frank Ocean.



Besprochen werden Kim Gordons Solo-Album "No Home Record" (Freitag), ein Auftritt der Pianistin Hélène Grimaud mit dem von Teodor Currentzis dirigierten "Music Aeterna"-Orchester (SZ), Bill Calahans Berliner Konzert (Tagesspiegel), ein Auftritt der Rockband Black Midi (Berliner Zeitung) und Salami Rose' Album "Zdenka 2080" (FR)
Archiv: Musik