Efeu - Die Kulturrundschau
Eine Fülle an Frechheit
Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Bühne

"Grand Hotel Abgrund" lautet das von Georg Lukács inspirierte Leitmotiv des Steirischen Herbsts in diesem Jahr, im Standard sieht Helmut Ploebst sehr schön den Hedonimus des Kulturbetriebs vor Augen geführt, der sich als Weltläufigkeit geriert. Zum Beispiel in der Performance "Congress of Post-Prostitution" von Keti Chukhrov und Guram Matskhonashvil. "Als deftige Satire, die wegen seiner gechillten Herablassung gegenüber dramaturgischer Qualität zwar kein künstlerisches Meisterwerk geworden ist, aber ihr Thema gerade wegen dieser nachlässigen Machart umso besser trifft. Gnadenlos wird eine Intelligentsia vorgeführt, die vorgibt, einen wahnsinnig progressiven und zugleich moralisch aufgemotzten Gesellschaftsentwurf zu leben und zu verbreiten. Während des Global Congress of Post-Prostitution entlarvt sich der Theoriesprech dieser Intellektuellen als hohles Gewäsch. Eine so prekäre wie eitle Elite angelt mit dem billigen Pornomotiv nach Aufmerksamkeit, um aus ihrem Lifestyle Kapital zu schlagen."

Hellauf begeistert ist Nachtkritikerin Verena Großkreutz von Ödön von Horvaths "Italienischer Nacht", das Calixto Bieito in Stuttgart in Szene gesetzt hat, mit großartigen Darstellern und einem fantastischen Bühnenbild: Allerdings sei Horvaths Volksstück über den aufkommenden Faschismus kein reines Vergnügen: "'Die Wacht am Rhein' brennt noch beim Verlassen des Stuttgarter Schauspielhauses in den Ohren. Gleich alle sechs Strophen hat der Nazi Erich gegrölt, und die gesamte Statisterie hat lauthals mitgesungen. Der Nazi Erich hat an der Rampe gestanden, als hätte er einen Stock im Arsch, die Augen fanatisch geweitet."
Besprochen werden Anne Lenks Bühnenversion von Sally Potters Film "The Party" an der Wiener Burg (SZ, Nachtkritik), Klaus Kusenbergs Politthriller zum Nahost-Konflikt "Oslo" am Theater Regensburg (Nachtkritik), Frank Hilbrichs Inszenierung von Richard Strauss' "Rosenkavalier" am Theater Bremen (der NMZ-Kritiker Joachim Lange zufolge in analytisch-kaltes Gegenlicht getaucht war), Tilmann Köhlers Inszenierung von Ágota Kristófs Roman "Das große Heft" am Theater Basel (FAZ) und das Neonazi-Dokudrama "Mütter und Söhne", mit dem das Berliner Ensemble seine neue Spielstätte, die Blackbox, eröffnete (Tsp).
Kunst

Catrin Lorch freut sich in der SZ über die Wiederentdeckung der norwegischen Webkünstlerin Hannah Ryggen, die stets Abstand zum Kunsthandel hielt und mit ihrer Familie als Selbstversorger knapp unter dem Polarkreis lebte. Anders als Picassos "Guernica" wurde ihr großer Wandteppich zum Abessinienkrieg auf der Weltausstellung von 1937 in Paris nicht gezeigt: "Auch Ryggen antwortete - wie Picasso - mit ihrem monumentalen Werk unmittelbar auf Zeitungsberichte und Radionachrichten. Der fast vier Meter breite Wandteppich, den sie im Jahr 1935 webte, zeigt in überzeichneter Deutlichkeit Kaiser Haile Selassie, daneben schwarze, verzweifelt gereckte Hände, einen Krieger und den Kopf von Benito Mussolini, der von einem Speer durchbohrt wird. Doch diese Szene, die auf dem letzten halben Meter dargestellt ist, bekam das Publikum nicht zu sehen. Die Kuratoren, die fürchteten, die italienische Staatsmacht könne sich beleidigt fühlen, rollten das letzte Stück des Teppichs ein." Die Frankfurter Schirn widmet Ryggen ab dieser Woche eine große Ausstellung.
Weiteres: Nadia Pantel besucht für die SZ im Pariser Kulturministerium eine kleine Ausstellung, in der die geretteten Skulpturen von Notre Dame gezeigt werden, darunter auch der berühmte Hahn vom Dach des Mittelschiffs. In der FAZ feiert Rose-Maria Gropp Luc Tuymans' Ausstellung "La pelle" im Palazzo Grassi in Venedig.
Literatur
Im Standard spricht Raoul Schrott über seinen neuen Historienroman "Eine Geschichte des Windes" und die Vorzügeder Sprache des Barock: "Diese Sprache ist wirklich die gesamte 'Orgel' mit allen Pfeifen von den hohen bis zu den tiefen Registern. Sie erlaubt es mir, weit auszuholen. Mit ihrem manchmal verqueren Deutsch besitzt sie eine Fülle an Frechheit und zugleich Gestelztheit."

Weiteres: In den Intellectures gibt Mathias Énard über seinen gemeinsam mit Zeina Abirached geschriebenen Comic "Zuflucht nehmen" Auskunft. Samir Sellami resümiert in der SZ das Internationle Literaturfestival Berlin und freut sich darüber, dass es "nun auch ein halboffizielles Forum für postkoloniale Fragen geworden ist." Elmar Krekeler berichtet in der Welt von einem Treffen mit der Schriftstellerin Alina Bronsky. Der Standard bringt den zweiten Teil einer großen USA-Reportage des Schriftstellers Arnon Grünberg. Paul Jandl sinniert in der NZZ über den Herbst und die Literatur. Margarete Blümel befasst sich im Feature für Dlf Kultur mit der politischen Literatur der beiden koreanischen Staaten.
Besprochen werden unter anderem Miku Sophie Kühmels für den Deutschen Buchpreis nominiertes Debüt "Kintsugi" (Tagesspiegel), Lars Gustafssons "Etüden für eine alte Schreibmaschine" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Elizabeth Acevedos' Versroman "Poet X" (FAZ).
In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Dirk von Petersdorff über Matthew Sweeneys "Hund und Mond":
"Der Hund versuchte den Mond zu beißen,
aber er sprang nicht hoch genug
und fiel in den Fluß, in dem
..."
Film
Weiteres: In der Berliner Zeitung spricht Nora Fingscheidt über ihr Spielfilmdebüt "Systemsprenger". Der Standard bringt einen Auszug aus Bert Rebhandls Buch über Carol Reeds Klassiker "Der dritte Mann". Besprochen werden James Grays "Ad Astra" mit Brad Pitt (taz, unsere Kritik hier) und eine DVD von "Billionaire Boys Club" mit Kevin Spacey (SZ).
Musik
Weiteres: Online nachgereicht, spricht Marcus Stäbler in der NZZ mit Ragna Schirma über Clara Schumann, die die Pianistin in diesem Jahr mit insgesamt 150 Konzerten würdigen will und dafür immensen Rechercheaufwand betrieben hat: "Über 1300 Programmzettel hat Ragna Schirmer im Schumann-Haus in Zwickau gesichtet und abgetippt", um nachvollziehen zu können, wo Schumann was mit wem gespielt habe. Thomas Schacher berichtet in der NZZ vom Festival Alte Musik in Zürich. Für die FR berichtet Bernhard Uskae vom Musikfest Eroica in Frankfurt. Sam Sodomsky holt für Pitchfork Darkthrones stildefinierenden Black-Metal-Klassiker "A Blaze in the Northern Sky" wieder aus dem Schrank. Frank Junghänel (Berliner Zeitung), Eric Facon (NZZ), Johan Schloemann (SZ) und Jan Wiele (FAZ) gratulieren Bruce Springsteen zum 70. Geburtstag.
Besprochen werden Thurston Moores "Spirit Counsel" (Pitchfork), die Compilation "The Time for Peace Is Now" mit Gospel aus den 70ern (Pitchfork), das Album "Egoli" des Africa Express (NZZ) und das neue Album des Conscious-Rappers Common (taz). Daraus ein aktuelles Video: