Efeu - Die Kulturrundschau

Engelsprozession und schwarze Katze

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.06.2019. FAZ, NZZ und Tagesspiegel erliegen der munteren Tücke Luzifers in Karlheinz Stockhausens Spektakel "Licht". In der NZZ sucht David Grossman nach jeder noch so kleinen Nuance der menschlichen Existenz. Die taz hört Grime mit Verweisen auf die Afro-Diaspora von Skepta. Die Filmkritiker heben ab in Lee Chang-dongs "Burning". Die NZZ ahnt, warum Rudolf Stingel neben Picasso unwahrscheinlich modern wirkt. Die NYRB hält an de Kooning fest.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.06.2019 finden Sie hier

Bühne

Foto: Ruth & Martin Walz / Holland Festival

Nach Reinhard Brembeck (SZ, unser Resümee) sind jetzt auch Lotte Thaler (FAZ), Michael Stallknecht (NZZ) und Eleonore Büning (Tagesspiegel) hin und weg von dem Spektakel der Inszenierung von Karlheinz Stockhausens "Licht" beim Holland-Festival in Amsterdam. Mehrere Bühnen gibt es dafür, das Publikum wandert mit, immer dahin, wo gerade die Musik spielt, erzählt Büning: "Guckt und hört mal nach hinten, mal nach vorn oder tortenstückartig zentriert auf einen Kreis in der Mitte des Gashouders. Und wird so alsbald zum aktiven Teilnehmer der panoptikumartig wechselnden 'Licht'-Darbietungen, die ein Gesamtbild des menschlichen Daseins entwerfen und deshalb jeden treffen, auch wenn es manchmal so aussieht, als ginge es nur um die persönliche Idiosynkrasie eines Einzelnen. Nicht jeder von uns, zum Beispiel, musste schon als Fünfjähriger mit seinem Vater zur Jagd gehen und Hasen totschießen helfen, wie der kleine Karlheinz. Und doch versteht vermutlich jeder das Gefühl der Ohmacht des kleinen Michael-Trompeters, der es lieber mit den Hasen hält als mit seinem Luzifer-Vater, der mit Posaunenstößen um sich schießt. Denn darum geht es in 'Licht': Um den Kampf zwischen Gut und Böse auf der Welt, im Großen wie im Kleinen. Um Vater, Mutter, Kind und Weltparlament, Engelsprozession und schwarze Katze, Heliokopterflug und Auferstehung, und um die muntere Tücke Luzifers, der zwanghaft vergebens bis 13 zählt, aber doch nur über 11 Töne der Superformel verfügt."

Weiteres: In der nachtkritik berichtet Thomas Rothschild von den Bregenzer Festspielen, die Martin Gruber und das Aktionstheater Ensemble aufmischten. In der FAZ stellt Lena Bopp die libanesische Schauspielerin Hanane Hajj Ali vor, die mit ihrem Solostück "Jogging" demnächst auch in Deutschland auftreten wird: "Ihr Erzähler ... erinnert an die Figur eines Hakawati, eines orientalischen Geschichtenerzählers, der die Leute mit Stoffen fesselt, über die sonst niemand zu sprechen wagt." In der FAZ-Theaterserie "Spielplan-Änderung" schreibt Andreas Kilb über "Leo Armenius" von Andreas Gryphius.

Besprochen werden das Stück "Borborygmus" bei den Wiener Festwochen (Standard), Dvořáks Oper "Katja und der Teufel" in Dessau (nmz), die Uraufführung von Thomas Köcks Stück "atlas" in Leipzig (nachtkritik) und Lucas Thiems Dokumentarfilm über das Landestheater Neustrelitz "Nicht hier um zu kritisieren - Theater bis der Vorhang fällt" (nachtkritik).
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Film

Alles schwelt: "Burning" von Lee Chang-dong

Lee Chang-dongs "Burning", die Verfilmung einer Kurzgeschichte aus der Feder Haruki Murakamis, haut die Kritik ziemlich um: Perlentaucherin Silvia Szymanski hat bei diesem Film über ein Beziehungsdreieck, in dem einer gerne Gewächshäuser niederbrennt, "manchmal das Gefühl, man blicke einem jungen, unschuldigen Teufel in die Karten, der um eine Seele wirbt." Schlussendlich wird der Film zu einem Thriller, erklärt Johannes Bluth in der taz, der vom Regisseur immer wieder aufs Neue überrascht wird: "Sobald sich das Bild aufklart, wird es wieder aufgewühlt und verschwindet im absoluten Nichts. Es ist schwer zu sagen, welche menschliche Emotion in 'Burning' nicht vorkommt, und doch tut es keine so richtig. Alles schwelt, nichts ist eindeutig. Es sind keine Fakten, sondern Ideen, Vermutungen, Ahnungen, die Regisseur Lee Chang-dong präsentiert."

Tagesspiegel-Kritiker Jonas Lages gruselt sich hier mehr als in jedem David-Lynch-Film, denn "das Mysterium fußt auf einem nüchternem Realismus, der meilenweit von ostasiatischem Mystizismus entfernt ist." Standard-Kritiker Dominik Kamalzadeh sah "einen großartigen Film über falsche Illusionen." Und "wann kommt es schon mal vor, dass ein Film abhebt, wirklich abhebt, sich löst von der Schwerkraft des Bedeutens und Erzählens und mitsamt seinen Bildern davondriftet?" fragt in der Zeit eine vollkommen begeisterte Katja Nicodemus. Für FR-Kritiker Daniel Kothenschulte war dieser Film der eigentliche Cannes-Gewinner im Festivaljahrgang 2018.

Weitere Artikel: Das Kino entdeckt Frauen jenseits der sechzig als Sujet, schreibt Barbara Schweizerhof auf ZeitOnline. Das Filmbulletin hat ein 2008 geführtes Gespräch mit dem kürzlich verstorbenen, langjährigen Leiter der Cinémathèque suisse, Freddy Buache, online gestellt. Viel hilft nicht immer viel: Ziemlich genervt ist NZZ-Kritiker Urs Bühler von der Gigantomanie des neuen Godzilla-Films, bei dem sich trotz Urzeitkoloss-Armada kein Schockgefühl einstellen will. Carolin Weidner empfiehlt den Berlinern in der taz eine den Experimentalfilmemachern Corinne und Arthur Cantrill gewidmete Filmreihe im Kino Arsenal. Im Filmdienst schreibt Patrick Holzapfel über die Schauspielerin Gena Rowlands, der Arte gestern mit unter anderem diesem Porträtfilm einen Themenabend gewidmet hat.

Besprochen werden Olivier Assayas Literaturbetriebsfilm "Zwischen den Zeilen" (Perlentaucher, Tagesspiegel, mehr dazu bereits hier), Eric Khoos "Ramen Shop" (SZ), Isabel Coixets auf Netflix veröffentlichtes Drama "Elisa und Marcela" (SZ, mehr dazu bereits hier), Sebastian Schippers "Roads" (NZZ), Fredrik Gerttens Dokumentarfilm "Push - Für das Grundrecht auf Wohnen" (taz), Sarah Diggar-Nicksons auf Heimmeiden veröffentlichter Thriller "Vigilante" (taz) und Simon Kinbergs Superheldenfilm "X-Men: Dark Phoenix", den FAZ-Kritiker Dietmar Dath für eine absolute Katastrophe hält, da er die offenbar ziemlich meisterliche Vorlage von Chris Claremont, John Byrne und Terry Austin ziemlich verhackwurstet: "Kein einziges Bild, das Claremonts Schreibmaschine, Byrnes Bleistift oder Austins Tusche gerecht würde." Auch für Daniel Kothenschulte in der FR hat das Blockbuster-Kino hier einen neuen Tiefpunkt erreicht.
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Musik

Grime, das war lange Zeit das Sprachrohr der marginalisierten Jugend in den heruntergekommenen Londoner Sozialbauten. Auf seinem neuen Album "Ignorance is Bliss" wendet sich Skepta vom sozialrealistischen Erzählen ab, erklärt Christian Werthschulte in der taz: "Stattdessen sprenkelt er sein Werk mit Verweisen auf die Afro-Diaspora. Mal zitiert er einen Vers aus der goldenen Ära des US-HipHops Anfang der Neunziger, mal klingen seine Synthesizer nach Detroit Techno, ein anderes Mal erweist er dem Naija Pop aus Nigeria kurz Reverenz - auch der nigerianische Popstar Wizkid hat einen kurzen Gastauftritt. 'Ignorance Is Bliss' verortet Skeptas Heimatstadt London nicht auf den Britischen Inseln, sondern inmitten eines transkontinentalen Netzwerks, das existiert, seit in der Römerzeit die ersten Schwarzen den Ärmelkanal überquert haben." Das aktuelle Video verneigt sich im übrigen sehr schön vor dem Blaxploitation-Kino der Siebziger:



Dass Feuilletonisten Rammstein wortgewaltig in die Tonne treten, ist nichts Neues. In der Regel geht es dabei in der milden Variante um sorglosen Umgang mit Nazi-Ästhetik, in der wilden Variante um konkrete Nazi-Vorwürfe. In der NZZ dreht der Historiker Michael Wolffsohn den Spieß einfach mal um und erklärt die Band zu skrupellos geldgeilen Antifa-Proleten: Die Band bestehe aus "echten antifa-moral- und gesinnungsgestählten Bild-, Video-, Text-, Show- und Musik-Soldaten", die "in ihrem Wort-und-Ton-Krieg 'gegen rechts' auf nahezu keinen vermeintlichen oder tatsächlichen Schockeffekt verzichten."

Weitere Artikel: Für die taz ist Lars Fleischmann nach Lyon zum Elektronikfestival "Nuits Sonores" gereist. Für The Vinyl District legt Michael H. Little nochmal die 1982 erschienene Split-LP von Faith und Void auf, die seinerzeit den Goldstandard des Hardcore-Punk definierte - wenn auch nur anhand der Void-Seite. In der FAZ gratuliert Achim Heidenreich dem Komponisten Louis Andriessen zum 80. Geburtstag. Mit "De Staat" arbeitete sich Andriessen an Platons "Politea" ab:



In der Jungle World meldet Nicole Tomasek außerdem, dass ein Skandal die iranischen Behörden aufscheucht: Die Sängerin Negar Moazzam hat es doch tatsächlich gewagt, in einem Dorf auf offener Straße zu singen. So viel farbenprächtig gute Laune unter der Sonne ist natürlich schwer verdächtig:



Besprochen werden die Berliner Auftritte von Kiss (taz, Berliner Zeitung), Eric Clapton (Berliner Zeitung) und Kurt Vile (Tagesspiegel) sowie eine Tschaikowsky-Aufnahme der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko (Presse), das Debütalbum des Rappers Slowthai (Presse), eine große Vinyl-Neuauflage von Miles Davis' "The Complete Birth of the Cool" (The Vinyl District) und ein kollaboratives Album von North Sea Radio Orchestra mit John Greaves und Annie Barbazza (The Quietus).
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Literatur

Im großen NZZ-Gespräch, das Tobias Sedlmaier mit dem israelischen Schriftsteller David Grossman geführt hat, geht es unter anderem um literarische Vorbilder und Freundschaften und die besondere Verantwortung der Literatur im Zeitalter der Überformung der Welt durch Social Media: "Unser großes Privileg als Literaten ist es, dass wir mit den Feinheiten umgehen können, in einer Welt, die immer dickflüssiger wird. Eine Welt, die sich so sehr aus Klischees zusammensetzt, dass daraus ein ganzer Flickenteppich wird. Und alle lassen sich von dieser künstlichen Welt ablenken. Pascal sagte, ein glücklicher Mensch sei, wer es aushalte, allein in seinem Zimmer zu sitzen. Dieses Glück erleben wir nur noch selten. Es ist unsere große Verantwortung in der Literatur, auf der Wahrnehmung jeder noch so kleinen Nuance der menschlichen Existenz zu bestehen."

Weitere Artikel: Wilhelm Droste schreibt in der NZZ zum Tod des ungarischen Schriftstellers János Térey. Besprochen werden unter anderem Mario Vargas Llosas Essaysammlung "Der Ruf der Horde" (Standard, SZ), Hans Ulrich Gumbrechts Brüchige Gegenwart. Reflexionen und Reaktionen" (NZZ) und Patti Smiths "Hingabe" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Kunst

Rudolf Stingel, Untitled (After Sam), 2006. Malerische Wiedergabe einer vom Künstlerkollegen Sam Samore angefertigten Fotografie Stingls. © Rudolf Stingel, Foto: Ellen Page Wilson


Rudolf Stingel kann eigentlich nicht malen - und jetzt hat er eine Ausstellung in der Fondation Beyeler, direkt neben Picasso. "Was denkt der Mann bloß?" fragt sich Philipp Meier in der NZZ. "Man kommt ins Grübeln bei seinem Anblick. Wie hat er das angestellt? Eine Ausstellung neben Picasso? Ganz einfach: indem Stingel ziemlich gut weiß, was die Leute heute von Kunst erwarten. Man muss nur das Publikum in der Fondation Beyeler ein bisschen beobachten, um das zu begreifen. Die Alten und Mittelalterigen, sie stehen ehrfürchtig vor den Ikonen des großen Meisters. Die Jungen und die Kinder hingegen, sie sind alle bei Stingel. Picasso war gestern, die Zukunft will andere Kunst. Nämlich nicht mehr länger Meisterwerke bestaunen und sich dabei klein und unbedeutend vorkommen. Sondern selber Meister sein, sich als Star fühlen. In einem glitzernd silbern ausstaffierten Raum zum Beispiel, wo man seinen Widerschein an den Wänden erahnen kann. Selfie-Kunst ist das in gewissem Sinn, denn hier, wo Stingel die Wände mit weichen, von Alufolie überzogenen Dämmplatten ausgekleidet hat, kann man eigenhändig zu Werk gehen" und seinen Namen in die Platten ritzen.

Willem de Kooning: Untitled XVI, 1975. The Willem de Kooning Foundation/Artists Rights Society (ARS), New York


Stephen Ellis besucht für das Blog der New York Review of Books eine kleine, sorgfältig zusammengestellte Retrospektive von Willem de Kooning in New York. Und der konnte malen, wie man sehen kann: "A landscape at heart, 'Untitled XVI' pivots around a single large vertical stroke, a kind of gestural protagonist, from which a welter of other horizontal and diagonal strokes emanate to form earth and sky. No sooner has the landscape image formed in your mind than it dissolves in a quaking sea of pigment, only to resurface and again disappear. The color is alternately brilliant and broken, like jewels flung in a ditch. The painting is to Soutine's landscapes of the 1920s what Gerhard Richter's 'Abstrakte Bilder' series are to de Kooning's. In both cases, the older artistic source is amped up, scaled up, and reimagined as something unexpectedly contemporary."

Eine weitere Ausstellung mit gleich vier "weißen, beweihräucherten" Malern - Baselitz, Richter, Polke und Kiefer in der Staatsgalerie Stuttgart - missfällt Elena Korowin in Monopol. "Man kennt das Phänomen: Eine Person, die faszinierend und sympathisch ist, wird plötzlich in einer Gruppe nervig und elitär."

In Leipzig geht die Posse um die Jahresausstellung weiter. Zur Erinnerung: Erst wurde der AfD-nahe Maler Axel Krause vom Verein der Leipziger Jahresausstellung ausgeladen. Dann sagte der Verein aus Peinlichkeit gleich die ganze Ausstellung ab und trat zurück. "Eine unabhängige Künstler-Initiative fordert nun, die Jahresschau doch noch zu machen", berichtet Ingeborg Ruthe, die das unterstützt, in der FR. "Nun gerade! Womöglich mit Krause. In korrekter Distanz, mit demokratischer Streitkultur, die andere Meinungen aushält. Auch jene, die Rosa Luxemburg als Freiheit bezeichnete, die auch immer die 'Freiheit der Anderen' sei. In Leipzig braucht es nur mehr Zivilcourage, um gut zu streiten."

Außerdem: Im Interview mit Monopol erklärt die Literaturwissenschaftlerin Barbara von Bechtolsheim, was wir von Künstlerpaaren lernen können. In der NZZ berichtet Viviane Ehrensberger von der Vienna Biennale for Change. Im Interview mit dem Standard spricht der Künstler Gottfried Helnwein über das Strache-Video, Heimat, die Digitalisierung und Political Correctness.

Besprochen werden eine Kiki-Smith-Retrospektive im Wiener Belvedere (Stephan Hilpold spricht im Standard von einem "gefinkelten Spiel mit Zuschreibungen und Andeutungen") und die Ausstellung "Von Ferne. Bilder zur DDR" im Münchner Museum Villa Stuck (SZ).
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