Efeu - Die Kulturrundschau
Das Ich will likes
Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.04.2019. Die staunende SZ erlebt in Basel, wie Picasso und Braque den Kubismus schufen. Die taz lernt in Berlin, wie sehr Emil Nolde versuchte, von den Nazis akzeptiert zu werden. Die Schriftstellerin Lydia Mischkulnig stellt sich in der NZZ schaudernd eine neue Literaturkultur des Ichs vor. Die SZ versinkt auf der Mailänder Möbelmesse in vulgärer Retro-Postmoderne. Die FAZ hört eine perfide Manon.
9punkt - Die Debattenrundschau
vom
12.04.2019
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Kunst



In seinem Blog (und in der Welt) schreibt auch Thomas Schmid: "Die Kunstkritik übersieht gerne, dass der deutsche Expressionismus, zu dem man Nolde zählen muss, von Anfang an auch eine deutsch-völkische Unterströmung hatte. Es geht um das Echte gegen das Gekünstelte, das Wuchtige gegen das Zierliche, das Dramatische gegen das Gefällige, das Nordische gegen das Südliche, vor allem gegen das Französische, das Deutsche gegen das Jüdische. In diesem Kampf steht Nolde in erster Reihe, für einen 'nordischen Expressionismus'."
Dass Emil Nolde nicht der einzige deutsche Maler mit Sympathien für die Nazis war, erzählen auch Christiane Meixner, Christiane Peitz, Birgit Rieger und Georg Ismar im Tagesspiegel: "Eine Ausstellung im Brücke Museum zeigt ab 14. April die schwierige Gemengelage anhand ehemaliger Brücke-Künstler: Maler wie Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Max Pechstein und Ernst Ludwig Kirchner hegten um 1933 und in den Jahren danach noch die Hoffnung, mit ihrer Kunst Anerkennung unter den Nationalsozialisten zu finden. Auch der Architekt Mies van der Rohe versuchte zunächst mit den Nationalsozialisten zusammenzuarbeiten, bevor er verfolgt und vertrieben wurde. Genauso wie der Bauhaus-Künstler Oskar Schlemmer, der ebenfalls aus seinem Lehramt gejagt wurde. Der geläufige Gegensatz von hier 'entarteter Kunst' und dort 'Nazi-Kunst' wurde in letzter Zeit vielfach angezweifelt und widerlegt."
Weitere Artikel: Gropius-Bau-Chefin Stephanie Rosenthal wird die nächste Biennale-Jury in Venedig leiten, meldet der Tagesspiegel. Im New Yorker stellt Peter Schjeldahl den Maler T.C. Cannon vor, dem die New Yorker Abteilung des Smithsonian's National Museum of the American Indian gerade eine große Retrospektive widmet.
Besprochen werden außerdem Roger Melis' Fotoretrospektive "Die Ostdeutschen" in den Berliner Reinbeckhallen (Berliner Zeitung), "Christo - Walking on Water", Andrey Paounov Filmdoku zu Jeanne-Claudes und Christos Projekt "The Floating Piers" (taz), die Ausstellung "Van Gogh and Britain" in der Londoner Tate Britain (Tagesspiegel), eine Ausstellung mit finnischer Kunst in der Kieler Stadtgalerie (taz) und die Ausstellung "Botticelli. Heroines and Heroes" im Isabella Stewart Gardner Museum in Boston (FAZ).
Literatur
Die Schriftstellerin Lydia Mischkulnig malt sich in der NZZ ihren persönlichen Albtraum aus, dass künftig alle irgendwie Literatur aus der ersten Person Singular schreiben könnten - von Bots geschult, von literarischen Plattformen mit Aussicht auf eine Veröffentlichung angelockt. "Das Veröffentlichen von Betroffenheitsliteratur wird uns nicht erspart bleiben, ungefilterte Privaterfahrungen im Sud aus Meinungen. Es wird eine neue Literaturkultur entstehen. ... Hier wird das Ich gefeiert. Und alle anderen Ichs aus der teilnehmenden Community können als Iche mitreden. Man kann sich anmelden, und schon ist man als Ratgeber und Kritiker oder Autor in einer Community, die Text produziert und konsumiert. Das Ich will likes, Anerkennung für seine Publizitätswünsche. Der voyeuristische Heißhunger auf die sogenannte Wirklichkeit wird gestillt, denn nur aus ihr wird berichtet."
Weitere Artikel: Gerrit Bartels berichtet im Tagesspiegel von den Auflageproblemen, die ein kleiner Verlag - in diesem Fall der Verbrecher Verlag mit Anke Stellings "Schäfchen im Trockenen" - nach einer großen Auszeichnung kriegen kann. In der NZZ meditiert Thomas Ribi über das Verhältnis zwischen Dichtern, Wahrheit, Fiktion und Fake News.
Besprochen werden unter anderem Sibylle Bergs "GRM. Brainfuck" (Tagesspiegel, Dlf Kultur hat mit der Autorin gesprochen), neue Buchveröffentlichungen von Siri Hustvedt (Berliner Zeitung, Stefan Michalzik hat für die FR einen Lesung besucht), Gioacchino Criacos Krimi "Die Söhne der Winde" (Freitag), Claudia Rikls Krimi "Der stumme Bruder" (Freitag), Elke Erbs "Gedichtverdacht" (NZZ) und Éric Vuillards "14. Juli" (SZ).
Weitere Artikel: Gerrit Bartels berichtet im Tagesspiegel von den Auflageproblemen, die ein kleiner Verlag - in diesem Fall der Verbrecher Verlag mit Anke Stellings "Schäfchen im Trockenen" - nach einer großen Auszeichnung kriegen kann. In der NZZ meditiert Thomas Ribi über das Verhältnis zwischen Dichtern, Wahrheit, Fiktion und Fake News.
Besprochen werden unter anderem Sibylle Bergs "GRM. Brainfuck" (Tagesspiegel, Dlf Kultur hat mit der Autorin gesprochen), neue Buchveröffentlichungen von Siri Hustvedt (Berliner Zeitung, Stefan Michalzik hat für die FR einen Lesung besucht), Gioacchino Criacos Krimi "Die Söhne der Winde" (Freitag), Claudia Rikls Krimi "Der stumme Bruder" (Freitag), Elke Erbs "Gedichtverdacht" (NZZ) und Éric Vuillards "14. Juli" (SZ).
Film

Dem in Schweden lebenden Regisseur Ali Abbasi ist mit "Border" ein Glanzstück des modernen phantastischen Kinos geglückt, freut sich Daniel Kothenschulte in der FR: Die Geschichte einer verunstaltet wirkenden, von Eva Melander gespielten Polizistin mit einer besonderen Begabung als buchstäbliche Schnüfflerin wandelt sich von einem Cop-Procedural zu einem Körperfilm a la Cronenberg, "mit Sexszenen, die die Grenzen des Humanoiden ein Stück weit überwinden. Wenn die beiden Liebenden nackt durch die Wälder trollen, überhöht dies der bildkräftige Filmemacher Ali Abbasi zu einem Sommernachtstraum von irrealer Schönheit." Artechock würdigt den Film mit einem vier Kritiken umfassenden Dossier, darunter eine weit weniger begeisterte von Rüdiger Suchsland, der mit dem Film arge Probleme hat: "Einmal mehr wird hier das elfte Gebot unserer Gegenwart exekutiert: Du musst deine Identität finden. Und du musst deiner Identität folgen. Aber ist 'Identität', die ja, wenn von ihr die Rede ist, immer als kollektive gedacht und gemeint ist, eigentlich etwas anderes, als ein schöneres Wort für 'Gott' und 'Tradition', Volk und Blut und Boden?" Weitere Besprechungen im Tagesspiegel und beim Perlentaucher.
Netflix kauft das Kino auf. Genauer gesagt: Der Streamer will das altehrwürdige Grauman's Egyptian Theatre am Hollywood Boulevard von der American Cinematheque abkaufen. Was steckt hinter dem Plan? "Offenbar geht es darum, einen Ort für Netflix-Produktionen zu schaffen, von denen sich die Firma erhofft, dass sie Preise gewinnen, Oscars möglichst. Preise, die bis auf weiteres an die Bedingung einer Kinoauswertung geknüpft sind", mutmaßt Verena Lueken in der FAZ. Denn "der Fall 'Roma' zeigte, dass nicht alle Kinobetreiber bereit sind, ihre Säle für einen kurzen Netflix-Auftritt zur Verfügung zu stellen." Dies scheint aber nicht der Hauptzweck des ungewöhnlich anmutenden Anschaffunsgplans zu sein, wie Variety herausgefunden will: Demnach suche Netflix in erster Linie lediglich einen angemessenen Veranstaltungsraum.
Weitere Artikel: Dunja Bialas berichtet auf Artechock vom ersten Arbeitstreffen des Hauptverbands Cinephilie, das vor kurzem in Berlin stattgefunden hat und wo darüber diskutiert wurde, wie das Kinopublikum wieder mehr Hunger auf Bilder jenseits der Konfektionsware von Blockbuster und Arthouse kriegen kann. In der Presse stellt Katrin Nussmayr Kelly Copper und Pavol Liska vor, die als Nature Theater of Oklahoma Elfriede Jelineks "Die Kinder der Toten" als experimentellen Super8-Alpen-Horrorfilm adaptiert haben. Auf critic.de empfiehlt Robert Wagner die Bo-Widerberg-Retrospektive im Berliner Kino Arsenal.
Besprochen werden Neil Marshalls Comicadaption "Hellboy - Call of Darkness", dem die Kritik insbesondere nach Guillermo del Toros ersten beiden "Hellboy"-Filmen wenig abgewinnen kann (epdFilm, ND, Standard, Tagesspiegel), Andrey Paounovs Dokumentarfilm "Christo - Walking on Water" (taz, Standard, SZ, die Welt hat mit Christo gesprochen) und Paul Danos Regiedebüt "Wildlife" (Presse).
Bühne

Weitere Artikel: Julia Spinola unterhält sich für die SZ mit Dmitri Tcherniakov, der gerade in Berlin Prokofjews komische Oper "Verlobung im Kloster" inszeniert, über dessen Werdegang. Shirin Sojitrawalla stellt in der nachtkritik das Europa-Ensemble von Oliver Frljić vor, das derzeit mit "Imaginary Europe" an den Kammerspielen Stuttgart zu sehen ist. In der taz berichtet Katja Kollmann vom "Festival der internationalen neuen Dramatik" an der Schaubühne
Besprochen werden die John-Adams-Opern "Nixon in China" und "Girls of the Golden West" an der Staatsoper Stuttgart und beim Opera Forward Festival in Amsterdam (NZZ), Hofesh Shechters Choreografie "Mega Israel" mit der Stuttgarter Gauthier Dance Company im Haus der Berliner Festspiele (Berliner Zeitung) sowie Johan Simons Inszenierung von Büchners "Woyzeck" am Wiener Akademietheater ("Man sieht eine Inszenierung, die vielleicht ein bisschen zu viel von Fellini geträumt hat. Mit ihrem Bühnenbild erbringt sie ihrer Koproduktionsstätte Bochum allerdings einen schönen Traditionsbeweis, denn hier hatte 1980 Matthias Langhoff den 'Woyzeck' ebenfalls im Zirkuszelt spielen lassen", schreibt Simon Strauß in der FAZ, nachtkritik, Standard).
Design
Das Möbeldesign verabschiedet sich vom funktionalien Minimalismus - es wird wieder geprotzt und exzessive Retro-Nostalgie bedient, lautet Max Scharniggs Fazit in der SZ nach seinem Besuch der Mailänder Möbelmesse. "In vulgärer Trägheit breiten sich die neuen Sofalandschaften vor einem aus, wie Gletscherzungen in hellem Woll-/Polyamidgemisch oder Kalbsleder. Eigentlich erlebt man in diesen Wohnvisionen die häusliche Entsprechung der SUV-Kultur. ... Selbst ein zuverlässig minimalistischer Hersteller wie das italienische Avantgarde-Label Plank, stellt seine furiose Origami-Sitzskulptur 'Land' von Altmeister Naoto Fukasawa in Farben aus, die an eine DDR-Kindertagesstätte erinnern. 2019 gilt: Farben und Muster sind besser, wenn die Betrachter dabei sentimental werden. Ein Ende der Retro-Postmoderne ist nicht absehbar."
Musik
Jonathan Fischer hat für die SZ diverse Vinyl-Liebhaber-Labels besucht, darunter das Label Tramp Records, das sich auf die Wiederveröffentlichung übersehener und in Vergessenheit geratener Musik spezialisiert hat. Ihn interessieren die Geschichten gescheiterter Musiker, erklärt Labelbetreiber Tobias Kirmayer. Etwa die des Soulmusikers Jesse Morgan, dessen einziges Album sich 1978 als wahres Senkblei erwies. "Der Sänger war längst nicht mehr im Geschäft. Doch Kirmeyer machte ihn wie so viele andere vergessene Soulhelden ausfindig. Telefonbücher, soziale Netzwerke und Hinweise auf Studios, Produzenten, Labels, Schrifttypen, die er den Originalplatten entnimmt, halfen ihm dabei. Manchmal schreibt Kirmeyer sogar Briefe. Weil die Musiker noch zu den Generationen ohne Internet-Anschluss gehören." Wir hören rein:
Weitere Artikel: Teeniestar Billie Eilish ist keineswegs so authentisch zerschlissen, wie ihr Image nahelegt, schreibt Johann Voigt in der taz: Sie "ist, trotz all der zur Schau gestellten Unangepasstheit, trotz der trashigen Fotos, vor allem Produkt, Teil eines Unternehmens, in das ihre ganze Familie involviert ist." Für die NZZ wirft Thomas Schacher einen ersten Blick auf Paavo Järvis Pläne für seine erste offizielle Saison als Chefdirigent der Tonhalle-Gesellschaft Zürich.
Besprochen werden das neue Album "Life Metal" der Drone-Mönche Sunn o))) (The Quietus), das Debüt des Jazzquartetts 4 Wheel Drive, dem auch Michael Wollny angehört (NZZ), ein Berliner Abend mit Grigory Sokolov (Tagesspiegel), Chupame El Dedos neues Album "No te metas con Satan" (taz), eine von Simon Rattle dirigierte Johannespassion (FR), Bodo Mrozeks Studie "Jugend - Pop - Kultur" (FAZ) und Jan Jelineks und Asunas kollaboratives Album "Signals Bulletin" (Pitchfork).
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