Efeu - Die Kulturrundschau

Der Pinsel wird zum Beil

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08.02.2019. Die Filmkritiker sind zu Beginn der Berlinale nicht in Hochstimmung: Das solide Ploppen von Lone Scherfings rührseligem Wohlfühldrama "The Kindness of Strangers" zur Eröffnung löste jedenfalls keinen Feierreflex aus. Die SZ begeistert sich für die radikalen Bildexperimente des jungen Picasso. Die taz nimmt Platz in den freundlichen Möbeln von Susi und Ueli Berger.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.02.2019 finden Sie hier

Film

Wenig Witz: Lone Scherfigs "The Kindness of Strangers"

Mit Lone Scherfigs "The Kindness of Strangers" wurde gestern Abend die Berlinale eröffnet. Mit der Freundlichkeit von Kritikern dürfen Kosslick und sein Eröffnungsfilm allerdings nicht rechnen: Die Regisseurin zeichnet die Figuren ihres "Großstadtmärchens" über eine Mutter, die mit ihren Kindern obdachlos durch New York zieht, "so klischeehaft und gönnt ihnen so wenig Witz oder Skurrilität, dass man bald jedes Interesse an ihnen verliert", seufzt Thekla Dannenberg im Perlentaucher. Taz-Kritiker Tim Caspar Boehme leidet insbesondere an Andrew Lockingtons musikalischer Untermalung, die "das ohnehin schon stark gefühlsbetonte Geschehen mit gefühliger Musik unnötig in Kitschzonen steuert." Einmal mehr ist es der Berlinale mit dem Auftakt nicht gelungen, "einen Akzent zu setzen, der ihren Rang als populärste und politischste unter den drei großen Kinoschauen bestätigt", schimpft Andreas Kilb in der FAZ. Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche wird es bei diesem "rührigen Charles-Dickens-Personal" weihnachtlich ums Gemüt. Der Film "feiert fast pausenlos die menschliche Güte", schreibt Philipp Schwarz auf critic.de. Keinem großen Eröffnungsknall, sondern lediglich einem "soliden Ploppen" wohnte SZ-Kritiker David Steinitz bei diesem Film bei. Philipp Bühler attestiert dem Film in der Berliner Zeitung "warmen Humor und viel Herz".

In der taz rettet Michael Meyns die Ehre der Sektion "Perspektive Deutsches Kino", von der aus schon viele Regisseure ihren Weg ins Festival fanden, die im Kontext des Festivals aber eher wie ein Ghetto wirkt. Besonders empfehlenswert in diesem Jahr: Deniz Coopers "Fisch lernt fliegen", ein Solitär, "der an die Verspieltheit und vor allem Unbekümmertheit der Nouvelle Vague erinnert. Das ist junges, originelles Kino, Konventionen ignorierend, ikonoklastisch." Außerdem schreiben Gunda Bartels (Tagesspiegel) und Philipp Bühler (Berliner Zeitung) über die "Perspektive".

Kein Placebo, echter Film: Dominik Grafs "Die Sieger" in Wiederaufführung

Im FAZ-Blog rät Bert Rebhandl dazu, Heike Baranowskys Installation "Wosa (Coyote's Burden Basket)" im Forum Expanded zu besuchen: Zu sehen gibt es "Aufnahmen von einem Krater im Death Valley, zwei Filme aus jeweils 2931 Einzelbildern. Ein echtes Filmerlebnis mit 35mm-Kopie, ratterndem Projektor und viel zweiter Natur." Einen Eindruck bietet die Künstlerin auf Vimeo. Apropos Filmmaterial: Im taz-Gespräch wettert Dominik Graf, dessen Actionfilm "Die Sieger" als restaurierter Director's Cut in der Reihe Berlinale Classics läuft, gegen das Digitalkino: "Ich kann nur immer wieder sagen: Film ist Film. 16mm, 35mm, Super 8. Alles andere ist der Versuch eines Placebos. Dass auf die Dauer wahrscheinlich, durch wirtschaftliche Interessen, dieses Filmmaterial nicht mehr vorkommt, ist eine Katastrophe."

Katastrophal ist auch der Zustand des Potsdamer Platzes: Der verfällt nämlich zusehends, weshalb Rüdiger Suchland in seiner ersten Kolumnenlieferung für Artechock ziemlich Trübsal bläst. In seiner zweiten Kolumne rechnet er nochmal mit Kosslick ab: Man habe nicht nur ihn "immer unterschätzt, sondern auch seinen Zynismus". Barbara Schweizerhof schreibt in der taz über Charlotte Rampling, der in diesem Jahr die Hommage des Festivals gewidmet ist. Kirsten Taylor (Tagesspiegel) und Sarah Pepin (Berliner Zeitung) stellen Filme aus der Sektion "Generation" vor. Esther Buss (Jungle World) und Jens Hinrichsen (Filmdienst) führen durch die deutschen Filmemacherinnen gewidmete Retrospektive. Dominik Kamalzadeh porträtiert im Standard die österreichische Schauspielerin Valerie Pachner, die im morgigen Wettbewerbsfilm "Der Boden unter den Füßen" zu sehen ist. Der Tagesspiegel hat sich bei der Filmprominenz nach ihren besten Kosslick-Anekdoten umgehört. Marcus Weingärtner porträtiert den scheidenden Teddy-Chef Wieland Speck. Außerdem plaudern Till Kadritzke, Philipp Schwarz und Andrey Arnold im critic.de-Podcast über den Berlinale-Auftakt.

Besprochen werden François Ozons Missbrauchs-Kirchendrama "Grâce à Dieu" (Tagesspiegel), Jonah Hills Regiedebüt "Mid90s" (critic.de), Aldemar Matias' Dokumentarfilm "La Arrancada" über eine kubanische Nachwuchsathletin (taz) und Bas Devos' "Hellhole" (Berliner Zeitung). Für den schnellen Überblick auch in diesem Jahr wieder äußerst nützlich: Der critic.de-Kritikerinnenspiegel.

Abseits der Berlinale: Variety meldet, dass Netflix drei deutsche Filme produzieren wird - und zwar in Zusammenarbeit mit UFA, X Filme and ZDF. Geplant sind die Immobilien-Satire "Betongold", die romantische Komödie "Isi & Ossi" und "Freaks", ein "Drama über eine Mutter aus der Arbeiterklasse mit übernatürlichen Kräften". Oh weh.
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Kunst

Pablo Picasso: Femme (Epoque des "Demoiselles d'Avignon"), 1907. Fondation Beyeler, Riehen/Basel © 2017, Succession Picasso/ProLitteris, Zürich


Eine Ausstellung wie diese in der Basler Stiftung Beyeler über Picassos blaue und rosa Periode wird es so schnell nicht wieder geben, glaubt ein völlig hingerissener Gottfried Knapp in der SZ. Denn die Basler zeigten nicht nur, "wo der neue, monochrom abstrahierende Stil herkommt, sondern auch, wohin er am Ende geführt hat, welch folgenschwere bildnerische Entwicklung er eingeleitet hat. So endet die Ausstellung nicht mit den letzten Bildern der Rosa Periode, sondern in einem Saal, in dem sieben Gemälde aus dem Jahr 1907 das Drama vor Augen heben, das Picasso ausgefochten hat, als er das Schlüsselwerk dieser Umbruchphase in zahlreichen radikalen Bildexperimenten vorbereitete und begleitete: die 'Demoiselles d'Avignon'. Diese Vorstudien zeigen in radikaler Verkürzung, wie archaisch-primitivistisch Picasso in dieser Phase gearbeitet hat. Der Pinsel wird zum Beil, mit dem die Formen herausgehauen und quasi plastisch in den Bildraum gestellt werden."

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung mit Porträts des Fotografen Stefan Moses im DHM in Berlin (Berliner Zeitung) und die Ausstellung "John Ruskin. The Power of Seeing" im Londoner Two Temple Place (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

In der taz erklärt das Kollektiv "Technocandy" im Interview, warum es keinen Vertrag mit dem Theater Oberhausen abschließen will: Das Kollektiv besteht auf einer Rassismusklausel, die festlegen soll, was passiert, "wenn in der Produktionszeit rassistische Vorfälle passieren. Sie besagt grob, dass, wenn so ein Vorfall geschieht, die Produktion oder Regie zur Intendanz gehen und darüber berichten kann. Das Haus muss dann reagieren und einen Workshop oder eine andere Art von Intervention folgen lassen. Es muss also eine Reaktion geben. Wenn es diese Intervention nicht gibt, hat die Regie das Recht, von der Produktion zurückzutreten. Also: das Stück platzen zu lassen, ohne Schadenersatz zu zahlen." Vor allem geht es dem Kollektiv aber darum, dass sie definieren, was Rassismus ist: "Da geht es ganz klar um Definitionsmacht. Ihnen [der Verwaltung, die Redak.] geht es darum, dass Künstler*innen, die von Rassismus betroffen sind, nicht die Ansage machen können, nach welchen Spielregeln es geht."

Ronald Pohl stellt im Standard den Theaterregisseur Philipp Preuss vor, der sich "heimlich, still und gar nicht leise ... in die Liga der wirklich kreativen Spielvögte im deutschsprachigen Theater" hochgearbeitet habe: "Wer Preuss bucht, erhält einen ganzen Wunderblock. Der besteht aus Sigmund Freud und Jacques Lacan, aus bildender Kunst (Tony Oursler, Bruce Nauman et cetera) und Jacques Derrida."

Besprochen werden Thorleifur Örn Arnarssons Inszenierung des "Faust" in Oslo, die Faust als Pädophilen zeichnet (SZ) und John Neumeiers Inszenierung der Gluck-Oper "Orphée" in Hamburg (Dlf, NDR, "Denkwürdig" wurde die Aufführung für FAZ-Kritiker Jürgen Kesting durch den russischen Tenor Dmitry Korchak in der Titelpartie: Korchack sang "mit hellem, leuchtendem und doch reich moduliertem Klang, sowohl mit silbernem Trompetenglanz als auch mit den changierenden Farben der voix mixte".)
Archiv: Bühne

Literatur

Mona Sarkis hat ihr Tell-Interview mit Linguisten Hossam Abouzahr über die Krise des Hocharabischen (unser Resümee) zu einem Feature für die NZZ ausgebaut.  Wieland Freund (Welt) und Anna Basener (ZeitOnline) schreiben Nachrufe auf Rosamunde Pilcher. Besprochen werden eine Ausstellung in Leipzig mit Buchkunst der tschechischen Avantgarde (FAZ), T.C. Boyles "Das Licht" (Zeit), Hannes Köhlers "Ein mögliches Leben" (online nachgereicht von der FAZ), Jeffrey Eugenides' Erzählungsband "Das große Experiment" (SZ) und Gunter Hofmanns Biografie über Marion Gräfin Dönhoff (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Musik

Noch nie waren so viele schwarze Musiker für den Grammy nominiert wie in diesem Jahr, berichtet Karl Fluch im Standard. Ein Skandal, dass es so lange gedauert hat, wenn man bedenkt, dass Pop- und Rockmusik ohne die Initialzündung aus der schwarzen Musik nicht denkbar gewesen wären. Doch "die Grammys gelten innerhalb einer vielfältigen Musiklandschaft fast schon traditionell als minderheitenfeindlich. ... Selbst wenn manche Musiker ihre Nominierungen kritisch kommentierten oder den Preis gar nicht abholten, für Minderheiten besitzt ein Grammy eine andere Wertigkeit. Er zeugt von der Anerkennung eines Ist-Zustands in der Gesellschaft und dem Musikgeschäft."

Weiteres: Gottlieb F. Höpli berichtet in der NZZ vom Schlagerwettbewerb in Sanremo. Besprochen werden das neue Album "Quiet Signs" der Folkmusikerin Jessica Pratt (taz, Pitchfork), das neue Album der Goldenen Zitronen (Byte.FM, mehr dazu hier) und Jan Böhmermanns Auftritt in Wien (Presse).
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Design

Soft Chairs von Susi und Ueli Berger. Foto aus dem vorgestellten Band


Katharina J. Cichosch freut sich in der taz über eine Monografie über Susi und Ueli Bergers freundliche Möbel, die bislang nur Kennern tatsächlich bekannt sein dürften. Das anarchische Designerpaar trat einst ein "für die Befreiung vom gerade eben erst etablierten Dogma des Funktionalismus, der Zweckform und des rechten Winkels, die Hinterfragung des vermeintlich Objektiven in der Gestaltung." Stattdessen plädierten sie dafür "andere Gestaltungsoptionen" zu erforschen: "Emotionale Aspekte, Provokation, auch blanker Unsinn waren erst einmal gleichberechtigt neben allem anderen."

Ausgerechnet Batik ist gerade das große Ding in zahlreichen Modekollektionen, fällt Tillmann Prüfer im ZeitMagazin auf.
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