Efeu - Die Kulturrundschau

Gekrönt von einer Jakobsmuschel

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01.02.2019. In Berlin hatte Rene Polleschs "Black Maria" Premiere: als Beitrag zum politischen Theater durchwachsen, findet die nachtkritik. Dafür von schönster Glamour-Lässigkeit, freut sich die SZ. "Fickt das System", schallt es aus Dennis Pohls ersten Editorial der seit heute online wiedergeborenen Spex. Auf Zeit online feiert Georg Seeßlen die britische Fernsehserie "Doctor Who". Die NZZ würdigt die Bauhaus-Frauen. Die SZ bewundert die Kostüme der Samurai.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.02.2019 finden Sie hier

Bühne

Szene aus Rene Polleschs "Black Maria". Foto: Arno Declair


In Berlin hatte Rene Polleschs neues Stück "Black Maria" am Deutschen Theater Premiere: Fünf SchauspielerInnen arbeiten in der "Black Maria", einem maßstabgetreuen Nachbau des ersten Filmstudios der Welt, an einem "Anti-Repräsentationstheaters", erklärt Sophie Diesselhorst, die das wenig stringent findet, in der nachtkritik. "Tatsächlich wirkt das Stück in seiner durch Wiederholungen betonten Thesenhaftigkeit bisweilen direkt wie ein ernstgemeinter Beitrag zum politischen Theater, besonders bei Benjamin Lillie, der sich als Pollesch-Masche einen Proseminar-Ton angeeignet hat. Mit verächtlichen Seitenhieben gegen den Dramaturgen und Spin-Doktor der linken Bewegung "Aufstehen", Bernd Stegemann, und sein 'Lob des Realismus' auf der einen Seite und mit lustvollen Perücke-Hut-Brille-Bart-Verwandlungsspielen zur endgültigen Auflösung der Identitäten auf der anderen Seite markiert Pollesch seinen Weg und lebt 'Black Maria' dann doch zwischendurch zum scharfsinnigen Kommentar zu aktuellen Scheingefechten zwischen Klassenbewusstsein und Identitätspolitik auf."

Hinreißend findet die Aufführung SZ-Kritiker Peter Laudenbach, auch wenn Pollesch den Gelbwesten-Test nie bestehen würde: "Katrin Wichmann sagt mit größter Glamour-Lässigkeit lauter Sätze, die man sofort mitschreiben und nie wieder vergessen will: 'Das Leben variiert seine Attacken.' Oder: 'Ernsthaftigkeit ist doch die Tarnung der Trottel.' Und gegen diese auch im Deutschen und anderen Theatern verbreitete Trottelhaftigkeit hilft natürlich am zuverlässigsten der Pollesch-Pop und die Freude daran, dass wir eh immer nur spielen, zum Beispiel uns selbst." Weitere Besprechungen in der taz, im Tagesspiegel und der Berliner Zeitung.

Weitere Artikel: Barrie Kosky wird seinen Vertrag als Intendant der Komischen Oper Berlin wie angekündigt nicht über 2022 hinaus verlängern, bleibt aber als Hausregisseur, meldet Peter Uehling in der Berliner Zeitung. In der SZ stellt Christine Dössel die eingeladenen Inszenierungen zum Theatertreffen vor: Generell fällt ihr ein "Zug ins Große" auf: "Und die Frauen? Sind mit Inszenierungen von Anna Bergmann, Claudia Bauer und dem überwiegend weiblich besetzten Performance-Kollektiv She She Pop natürlich wieder in der Minderheit. Auch insofern spiegelt das Theatertreffen den State of the Art." Die Zürcher können sich auf drei Inszenierungen von Tatjana Gürbaca freuen, annonciert Eleonore Büning in der NZZ: Ligetis "Le Grand Macabre", Verdis "Rigoletto" und Mozarts "Finta giardiniera".

Besprochen werden außerdem zwei Inszenierungen an der Pariser Bastille-Oper: Berlioz' "Les Troyens" in der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov und Scarlattis "Il primo omicidio" in der Inszenierung von Romeo Castellucci (dass Tcherniakov wegen seiner Neujustierung der Geschichte - Aeneas ist "gewissenloser Schuft" statt makelloser Held - findet SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck ganz unverständlich).
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Architektur

In der SZ wünscht sich Gerhard Matzig ein Ende der offenen Büroräume und wandlosen Wohnzonen. Besprochen wird ein Buch von der Bauforscherin Birte Rogacki-Thiemann über einen Architekten der Vormoderne: Emil Lorenz (taz).
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Kunst

Rüstung (Yokohagidō tōsei gusoku)(Detail). Nanboku-chō-Zeit und mittlere Edo-Zeit: 1333-1392 (Helm), 18. Jh. © The Ann & Gabriel Barbier-Mueller Museum, Dallas. Foto: Brad Flowers


SZ-Kritiker Harald Eggebrecht ist einfach hin und weg von einer Ausstellung in der Hypo-Kunsthalle München über die "Pracht des japanischen Rittertums". Diese Rüstungen! "Variantenreich, einfallsbesessen, modisch ausgefallen, üppig dekoriert und farbenprächtig sitzen die Rüstungen da, fast so, als befände sich ihr stolzer Eigentümer noch in ihnen. ... Jeder Samurai wollte auf seine ganz eigene Weise mit seiner Galarüstung sich und seinen Rang repräsentativ zeigen. So kommt man aus dem Staunen darüber nicht heraus, was die Handwerker an neuen Formen und skulpturalem Schmuck allein für Helme erfanden: Ob in Form von Auberginen oder einer Axt, ob mit Hirschgeweih oder gekrönt von einer Jakobsmuschel, ob mit Sanskritzeichen verziert oder mit Tabakspfeifen, es gibt nichts, was an Ausgefallenheit unmöglich wäre."

In der NZZ freut sich Antje Stahl, dass zum Bauhaus-Jubiläum endlich auch die Bauhaus-Frauen gewürdigt werden: Sie zahlten höhere Studiengebühren und wurden meist auf die Flächenkunst abgestellt. Doch während die Männer in erster Linie teure Luxusobjektive gestalteten, brachten die Frauen tatsächlich steten Umsatz in die Kassen. "Gardinen, Kissen oder Kleider konnten leichter in Serie produziert werden. In Weimar wurden die ersten Prototypen und Meterwaren für Firmen entwickelt, ab 1930 kaufte die Textilfirma Polytex Musterlizenzen. Das Weben, das Anni Albers zu Beginn ihres Studiums noch als zu 'weibisch' einstufte, entwickelte sich zu einem der lukrativeren Geschäfte des bis zur kurzen Übernahme des Schweizers Hannes Meyer dem Großbürgertum verhafteten Bauhauses - und zur hohen Kunst."

Weiteres: Anne Kathrin Fessler unterhält sich für den Standard mit Christian Ludwig Attersee anlässlich einer Ausstellung seines Frühwerks im Wiener Belvedere: "Vom Butterbrot mit Attersee-Margarine zum schönsten Altarbild verläuft eine gerade Linie. Das soll die Ausstellung, die erstmals angewandte Stücke integriert, beweisen."

Viviane Sassen / © NRW-Forum Düsseldorf, Foto Katja Illner
Besprochen werden eine Ausstellung im Lentos in Linz mit dem Frühwerk von Maria Lassnig und Arnulf Rainer (Presse), eine Ausstellung mit künstlerischen Positionen zu Revolten und Revolutionen von Harun Farocki bis Julian Röder in der Berliner Galerie im Körnerpark (Tagesspiegel), eine Ausstellung mit Arbeiten der Bildhauerin Karin Sander im Haus am Waldsee in Berlin (FR) und die Ausstellung Bauhaus und die Fotografie im NRW-Forum in Düsseldorf (FAZ).
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Literatur

Gestern wurde bekannt, dass die Erben der Persönlichkeitsrechte Stella Goldschlags gegen Takis Würgers umstrittenen Roman "Stella" und gegen ein "Stella"-Musical in Neukölln vorgehen wollten. Es gehe dabei um die historisch korrekte Darstellung der Titelfigur, erklärt Anwalt Karl Alich im taz-Gespräch, gegenüber Dirk Knipphals: In dem Buch geschwärzt werden sollen Zitate aus den "Akten eines sowjetischen Militärtribunals gegen Stella Goldschlag." Denn "wenn man jemanden nach einem Gerichtsverfahren beurteilt, dann muss das ein rechtsstaatlich sauberes Verfahren sein. ... Wenn man die literarische Kunst verquickt mit Tatsachenbehauptungen, dann müssen die Behauptungen belastbar sein. Das ist der Schwachpunkt des Buches. Die Protokolle des Militärtribunals sind ohne Zusammenhang, ohne Erklärungen einfach hineingeklatscht worden."

Andreas Platthaus' Abrechnung mit Christophs Heins Abrechnung mit Florian Henckel von Donnersmarck (unsere Resümees hier und dort) ist ein Affront, kommentiert Adam Soboczynski in der Zeit: Mag sein, dass Hein im Detail die Faktenlage nicht mehr ganz sortiert habe, aber der Vorwurf, die Repressionen in der DDR der achtziger Jahre zu verharmlosen, gehe zu weit. "Vielleicht hat nicht mehr jeder in Erinnerung, dass Hein zu jenen Schriftstellern in der DDR gehörte, die sich der Diktatur mit einem Mut entgegenstemmten wie nur ganz wenige. Auf dem 10. Schriftstellerkongress der DDR mit einer aufsehenerregenden Rede die Abschaffung der Zensur zu verlangen, dafür brauchte man mehr Rückgrat, als die westdeutsche Fantasie heute hergibt."

Weitere Artikel: Die deutsche unabhängige Comicszene liegt derzeit im Clinch, nachdem Kritik laut wurde, dass Jurys zu männlich und zu weiß und Jahrbücher zu unfeministisch seien, berichtet Markus Pfalzgraf ausführlich im Tagesspiegel. In seinem Blog würdigt Martin Compart den Noir-Autor Daniel Woodrell als Poeten des White-Trash. Sehr traurig nimmt Matthias Heine in der Welt zur Kenntnis, dass es kein Grimm'sches Wörterbuch fürs 21. Jahrhundert geben wird. "Karte und Gebiet" ist Michel Houellebecqs bester Roman, behauptet Denis Scheck online nachgereicht in der Welt. Erich Hackl schreibt in der Presse zum Tod des Dichters Humberto Ak'abal.

Besprochen werden unter anderem John Lanchesters "Die Mauer" (Freitag), Kenah Cusanits Debütroman "Babel" (Tagesspiegel) und Jonathan Lethems "Der wilde Detektiv" (SZ).
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Film

Jodie Whittacker als erster weiblicher Dr. Who


Mit einem großen ZeitOnline-Essay gibt Georg Seeßlen seiner Liebe für den britischen Seriendauerbrenner "Doctor Who" Ausdruck, der sich in Deutschland allerdings nie popkulturell verfangen hat, wohingegen er in Großbritannien Nationalheiligtum darstellt. Für den Semiologen ist die Serie, deren zeitreisende Titelfigur in der neuesten Staffel als Frau wiedergeboren wird, ein gefundenes Fressen: Denn "mit jeder neuen Gestalt, in die der Doktor sich regeneriert, ändert sich auch der Ton der Handlung, mal mehr klassische Science-Fiction, mal mehr Steampunk und mal mehr 'Alice im Wunderland'. Mal ernsthaft apokalyptisch, mal ironischer. ... Der Trick von Doctor Who besteht also, neben der grandiosen Mischung der Genres, Stile und Tonlagen, darin, einer Erzählmaschine bei der Arbeit zusehen zu können."

Weitere Artikel: Janis El-Bira und Lukas Foerster geben im Perlentaucher Tipps aus der Ludwig-Wüst-Werkschau, die heute im Berliner Kino Arsenal beginnt. Kai Müller freut sich im Tagesspiegel auf eine Jerry-Lewis-Retrospektive, die das Berliner Kino Arsenal rund um die Berlinale herum zeigt. Insbesondere auf die Berlinale Talents, für die junge Filmemacher zu Workshops nach Berlin kommen, ist Dieter Kosslick stolz, erzählt der scheidende Festivalleiter im Welt-Interview. Für Cargo blättert Bert Rebhandl in der vor 50 Jahren im Januar erschienenen Ausgabe der Zeitschrift Filmkritik. Katrin Nussmayr berichtet in der Presse von der Verleihung des Österreichischen Filmpreises. Urs Bühler berichtet in der NZZ von den Solothurner Filmtagen.

Besprochen werden Clint Eastwoods "The Mule" (critic.de, mehr dazu hier), Peter Farrellys "Green Book" (Standard, Presse, ZeitOnline), Wanuri Kahius kenianischer Film "Rafiki", der in seiner Heimat verboten wurde, weil es darum um lesbische Liebe geht (SZ), und die Netflix-Serie "Matrjoschka" (FAZ).
Archiv: Film

Musik

"Fickt das System", schallt es aus Dennis Pohls ersten Editorial der seit heute online wiedergeborenen Spex. Gemeint ist das System des Online-Musikjournalismus, in dem nurmehr schnelle Reize und einfache Zuspitzung für Umsatz sorgen. Pohl verspricht: "Wir wollen hier weiterhin auf das setzen, wofür Spex unserer Meinung nach steht: Tiefgang, Reflexion und Raum für die wildesten Ideen unserer Autor_innen. Sie werden bei uns in Zukunft nicht massenhaft Neuigkeiten lesen, sondern durchdachte Inhalte. Listen werden Sie ebenso vergebens suchen, dafür aber vielleicht ein wenig mehr Zeit mit einem Long Read verbringen können. Und wer weiß, vielleicht können wir mit Ihrer Hilfe sogar ein Exempel statuieren."

Im Kommentar zur Lage der Popkritik trifft Tom Holert den Spex-Sound von früher jedenfalls schon mal ganz gut: "Pop-Musikkritik ist wohl dann am wirksamsten, wenn es ihr gelingt, Teil einer sozialen Praxis und kulturellen Produktion zu sein, die sich den kapitalistischen Verwertungsprozessen weitgehend entziehen, ohne deren Realität als Umwelt von Pop-Musik romantizistisch zu verleugnen. Das heißt: wenn sie nicht nur über die Phänomene berichtet, sondern mit ihnen argumentiert - und wenn im Zuge solcher militanten kritischen Poesie und Forschung neue Formen des miteinander Denkens, des Hörens und Tanzens, des Organisierens und Zusammenlebens entstehen."

Weitere Artikel: Beate Scheder gibt in der taz Zwischenstandsmeldung von der Club Transmediale in Berlin, bei der sie von "zwei archaisch-furchterregenden Rieseninsekten, die höllischen Lärm ausstoßen", erfuhr, was Sound ist. Dass der wegen Übergriffsvorwürfen in die Kritik geratene Gustav Kuhn bei den Geburtstagsfeierlichkeiten seines Mäzens Hans Peter Haselsteiner auftritt, stößt auf Unverständnis, berichtet Steffen Arora im Standard. Christian Wildhagen wirft in der NZZ einen positiven Blick zurück auf die erste Spielzeit der Tonhalle-Gesellschaft Zürich im Ausweichquartier der Tonhalle Maag.

Besprochen werden Yonathan Avishais Album "Joys and Solitudes", dessen eklektische Spielfreude SZ-Kritiker Thomas Steinfeld sehr entzückt (eine Hörprobe im Video unten), die Compilation "Stimmen Bayerns: München" mit eigenwilligen Charakterköpfen aus dem Freistaat (NZZ), das neue Album der Amsterdamer Band Jungle By Night (taz), das Album "Miri" von Bassekou Kouyate & Ngoni Ba ‎(taz), ein Konzert des Pianisten Víkingur Ólafsson (Tagesspiegel) und von Christian Thielemann und Marek Janowski dirigierte Bruckner-Abende in Dresden (FAZ).


Archiv: Musik