Efeu - Die Kulturrundschau

Männermonstermythologie

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28.11.2018. SZ und FAZ sezieren Lars von Triers neuen Film "The House that Jack Built", der einen Serienmörder als Künstler darstellt. In der NZZ erzählt Mircea Cartarescu, wie Thomas Manns Romane zur Wirbelsäule seines Lebens wurden. Das Zeitmagazin huldigt den theatralischen Visionen des Modeschöpfers Alexander McQueen. Der Standard blickt auf Asmaras futuristische Vergangenheit. Und die taz bewundert in der JVA Plötzensee Hamlet als Checker.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.11.2018 finden Sie hier

Film

Männermonstermythologie: Lars von Triers "The House that Jack Built"

Bass erstaunt ist SZ-Kritiker Tobias Kniebe über Lars von Triers neuesten Film "The House that Jack Built", in dem der dänische Auteur einen Serienmörder als Künstler darstellt: Während der um Grenzüberschreitungen in früheren Jahren nicht verlegene Filmemacher sich in letzter Zeit in der Öffentlichkeit zunehmend als sensibel und fragil offenbarte, enthält dieser Film nun "die zynischsten, grausamsten und gefühllosesten Szenen, die dieser Regisseur bislang gedreht hat, und an solchen war sein Werk schon bisher nicht arm. Das Ganze wirkt über weite Stecken wie eine Art Selbstversuch, ob vollkommene Gefühllosigkeit à la Breivik nicht vielleicht doch herstellbar sei, wenn schon nicht real, dann beim Inszenieren ausgedachter Grausamkeiten" - doch zu welchem Ende? Der Film "ist gedanklich weitgehend leer."

Dietmar Dath seziert Lars von Triers Film in der FAZ als Genre: "Referenzkäse und Fußnotenspeck, mit denen er wirtschaftet, werden die Kunstfilm-Gemeinde in manche Falle locken. ... Der maskulin morose Gestus macht 'House' sozusagen zu von Triers italienischstem Film, es riecht hier alle Nase lang nach Fulci, nach Dario Argento, Mario und Lamberto Bava, nach dem winterlich-schwefligen Ende von Michele Soavis glitzerndem Ekelmärchen 'Dellamorte Dellamore' (1994) auch. Wer freilich diese Männermonstermythologie als Frauenverachtung missversteht, ist schon wieder in eine der vom Regisseur aufgestellten Bärenfallen gegangen: Wo die Kamera von der Nahaufnahme ins Panoramabild zurückgerissen wird, während ein Hilfeschrei nichts bringt, wo Jack sagt, ja, so sei das hier für seine weiblichen Opfer, eine 'hell of a town', eine 'hell of a country' und eine 'hell of a world', könnte keine feministische Abhandlung Wahreres sagen über die Wahrnehmungsblockade, die Männergewalt gegen Frauen sozial ausblendet."

Weitere Artikel: Katrin Doerksen geht auf kino-zeit.de der Frage nach, warum Comic-Meister Alan Moore so unzufrieden ist mit den Verfilmungen seiner Werke. In der FAZ gratuliert Bert Rebhandl der Filmemacherin Agnieszka Holland zum 70. Geburtstag. Besprochen wird Camille Vidal-Naquets "Sauvage" (Berliner Zeitung).
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Literatur

In der NZZ schwärmt der rumänische Schriftsteller Mircea Cartarescu von seinem jugendlichen Leseerlebnis mit Thomas Manns "Doktor Faustus", das er damals so verinnerlicht und auf sich bezogen hatte, dass ihn prompt die Eifersucht packte, als ihm an der Schule mal ein Mitschüler mit diesem Buch unterm Arm unter die Augen trat. "Thomas Manns Buch war das Samenkorn, das nach fünfundvierzig Jahren Wachstum in Herz und Verstand heute seine Früchte trägt. Im Laufe der Jahre ist die Literatur zur Wirbelsäule meines Lebens geworden. ... Dem Vorbild von Leverkühns Vater folgend, habe auch ich versucht, nicht gleichgültig am Leid von meinesgleichen vorbeizugehen, meine Pflicht als Citoyen zu erfüllen, die Abweichungen der politischen Klasse meines Landes sowie in der Welt von Anstand, Normalität, Gerechtigkeit und Freiheit zu kritisieren, koste es, was es wolle."

Weitere Artikel: Nanao Hayasaka erzählt in der NZZ die Geschichte, wie Robert Musil wegen schreiender Kinder seine Unterkunft in der Zürcher Pension Fortuna verließ. Paul Jandl trauert in der NZZ um die Wörter, die im Laufe der Zeit aus dem Duden gestrichen wurden. Online nachgereicht, schreibt Denis Scheck in der Welt über die Gedichte des römischen Dichters Catull.

Besprochen werden Ottessa Moshfeghs "Mein Jahr der Ruhe und Entspannung" (Standard), Charlotte Perkins Gilmans Erzählung "Die gelbe Tapete" (NZZ), Peter Waterhouse' Essaysammlung "Equus. Wie Kleist nicht heißt" (taz), James Andersons Krimi "Desert Moon" (FR), Neel Mukherjees "Das Leben in einem Atemzug" (SZ) und Wanda Marascos "Am Hügel von Capodimonte" (FAZ).

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Architektur

Bar Zilli, gebaut ca. 1939. Foto: Paul Ott

In der Innsbrucker Ausstellung "Asmara - The Sleeping Beauty" sah Standard-Kritikerin Nicola Weber all die futuristischen Fabriksgebäude und Tankstellen, mondäne Kinos und Bars, rationalistischen Villen und eleganten Boulevards, die Italiens Kolonialbaumeister in Eritrea hinterließen. Noch schöner findet sie allerdings, dass die Schau es nicht bei der Feier des europäischen Kulturerbes belässt: "Die Kuratoren Volgger und Graf wollen diesen verklärten Mythos der 'Italianità' nun gründlich aufbrechen. Sie nehmen den komplexen sozialpolitischen und kulturellen Kontext in den Blick und beschreiben das Phänomen Asmara als ambivalente Ganzheit. Auch werden andere Aspekte beleuchtet: die ideologische Instrumentalisierung, die strikte städtebauliche Segregation der ethnischen Bevölkerungsgruppen und aktuelle Migrationsphänomene."
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Stichwörter: Asmara, Kulturerbe

Kunst

Auf Hyperallergic greift Jasmine Weber empört einen Bericht aus der New York Times auf, wonach ein Vorstandsmitglied des noblen Whitney Museums sein Geld mit dem Tränengas verdient, das jetzt an der Grenze zu Mexiko auf Migranten abgefeuert wird.

Besprochen wird die Ausstellung "How to talk with birds, trees, fish, shells, snakes, bulls and lions" im Hamburger Bahnhof, in der die Berliner Künstlerin Antje Majewski zusammen mit zwölf weiteren Künstlern aus aller Welt das Verhältnis von Mensch und Natur reflektiert (Tagesspiegel).
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Bühne

"Hamlet" in der JVA Plötzensee. Aufbruch-Theater. Foto: Thomas Aurin

Die herrischen Gesten sitzen gut, bemerkt Tom Mustroph in der taz, und auch sonst hat ihn der "Hamlet" sehr überrascht, den das Aufbruch-Theater in der JVA Plötzensee gegeben hat: "Der kommt nicht gleich zögernd, zweifelnd und grübelnd daher, sondern ist ein kraftvoller Bursche, der mit Dingen ringt, die neu sind, nicht gleich begreiflich und deswegen verstörend. Die Kraft aber ist da, und die Verstörung ist kraftvoll. Der Versuch, das Intrigengespinst zu lösen, geht auch recht energisch vonstatten. Dieser Hamlet ist ein Checker, der um sein Recht zu begreifen kämpft und auch um sein Recht, Ordnung wiederherzustellen." In der Berliner Zeitung erlebt Janis El-Bira einen "sagenhaft virilen Laertes" und die Gefängnisbühne als einen "Ort der Freiheit".

Weiteres: Ein bisschen wirr, aber meist recht anregend und immer vergnüglich findet Wolfgang Kralicek in der SZ Jan-Christoph Gockels Grazer Theater-Film-Projekt "Die Revolution frisst ihre Kinder!", das Heiner Müller und Georg Büchner mit der jüngeren Geschichte von Burkina Faso verbindet. In der NZZ stellt Daniele Muscionico die Transgender-Künstlerin Stella Palino vor, die mit ihrem Badener Teatro Palino zur Blüte der Kultur im Aargau wurde.

Besprochen werden das RAF-Aufarbeitungsstück "Patentöchter" über die Begegnung von Corinna Ponto und Julia Albrecht am Schauspiel Frankfurt (FR), Rameaus "Hippolyte et Aricie" an der Staatsoper (Tagesspiegel), Stefan Maurers Adaption von Thomas Bernhards Erzählung "Amras" am Tiroler Landestheater in Innsbruck (Standard), Christian Filips' szenische Aufführung von Bernd Alois Zimmermanns "Des Menschen Unterhaltsprozess gegen Gott" an der Berliner Volksbühne ("Fremdschämen wie beim Dschungelcamp" gibt in der Berliner Zeitung Gerald Felber zu Protokoll) und die Revue "Vivid" im Berliner Friedrichstadt-Palast ("Beste Unterhaltung", versichert die FAZ, "Chapeau!").
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Design

Filmstill aus "McQueen"

Fast schon Wehmut beschleicht Carmen Böker, als sie Ian Bonhôtes und Peter Ettedguis Dokumentarfilm über den vor acht Jahren verstorbenen Modedesigner Alexander McQueen sieht: "Einen Berserker wie Alexander McQueen gibt es nicht mehr. Der Modedesigner von heute ist organisiert, wohltrainiert, betriebswirtschaftlich informiert und eher fleißiger Kreativarbeiter denn unberechenbares Genie", schreibt Böker im ZeitMagazin. "Alexander McQueen hat Mode nie als Beschwörung einer Idylle gesehen, die Frauen eine unantastbare Eleganz teurer Puppen verleiht - auch wenn er sie auf andere Weise stark stilisierte, zu Figuren seiner theatralischen Vision machte. Was er in seinen Kollektionen entfaltete, war ein dystopischer Kosmos, in dem die Schönheit den Abgründen der menschlichen Psyche entsteigt, irgendwo zwischen Freud, Gothic Novel und Geisha-Ausstaffierung."

Für die SZ bespricht Joseph Hanimann die Gio Ponti gewidmete Ausstellung im Musée des Arts Décoratifs in Paris: "Ponti war kein Ideologe, kein Dogmatiker, sondern ein praktischer Handwerker und ein geschickter Unternehmer. So fand er schnell den Anschluss zur Nachkriegsmoderne und erreichte mit ihr den Höhepunkt seiner Karriere. Die geschwungenen Ausgusshähne seiner Kaffeemaschine 'La Cornuta' aus dem Jahr 1948 imponieren im kalten Metallglanz wie die Kamine eines Ozeandampfers. Der keine zwei Kilo wiegende Strohstuhl 'Superleggera' von 1957 hingegen verwandelt das Sitzen in eine Art Schwebezustand."
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Musik

Frank Sinatras Album "Sings for only the Lonely" von 1958 zählt zu seinen großen Meisterwerken - und ist jetzt in einer neuen Edition erschienen, auf der sich unter anderem eine lange Outtake-Session zum Song "Angel Eyes" findet. Ein wichtiges Dokument, das Sinatra als den großen Method Actor und Perfektionisten unter den Croonern erkennen lässt, wie Max Dax in der SZ schreibt: Man wird "Zeuge, wie Sinatra im Dialog mit seinem Aufnahmeleiter um jede gesungene Silbe, um jede Kadenz und jeden Halbton ringt. Take um Take bricht er ab, weil diese oder jene Nuance nicht zu stimmen scheint. Man gerät in eine Endlosschleife." Und so klang dann das auf Platte gepresste Ergebnis:



Besprochen werden die Autobiografie des MC5-Musikers Wayne Kramer (taz), Rita Oras "Phoenix" (Standard), ein Auftritt von Interpol (Tagesspiegel), die Compilation "Freedom Sounds. Studio One in the 1960s. The Sound of Young Jamaica" (Skug), ein Konzert des Budapest Festival Orchestras mit Iván Fischer und András Schiff (FR) und neue Popveröffentlichungen, darunter "Wax" der Indie-Rockerin KT Tunstall (SZ).

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