Efeu - Die Kulturrundschau

Das arme Würstchen Mensch

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23.02.2016. Die NZZ sieht das Literarische Quartett schon zur Kölner Runde werden. Die FAZ besucht Wolf Wondratschek, der seine Gedichte jetzt lieber dem solventen Kunstmarkt anbietet als einem Verlag. In Johannes Kalitzkes in Heidelberg uraufgeführten Oper "Pym" taucht sie unter Möwengeschrei in ein Meer von Zwölftönen. Die Presse unterhält sich mit Peter Handke übers Theater von heute und sein Stück "Die Unschuldigen". Der Standard reist mit Hans Schabus durch den Körper der Zeit. Die SZ findet, dass DJ-Kultur schwarz sein muss, um nicht nur Spaß zu machen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.02.2016 finden Sie hier

Literatur

Etwas stutzig macht Rainer Moritz in der NZZ, dass in der nächsten Sendung gleich vier Autoren des Verlags Kiepenheuer und Witsch im Literarischen Quartett sitzen werden: "Worüber wird diese Kölner Runde debattieren? In keinem Fall über die viel- und kontrovers diskutierten Bücher der letzten Wochen, also kein Martin Walser, kein David Grossman, kein Abbas Khider, keine Karen Duve, kein William Boyd, kein Orhan Pamuk. Stattdessen über ein Werk von Antonia Baum, einer früheren Kollegin Volker Weidermanns aus der Redaktion der FAS, und über - wir sind nur mäßig überrascht - eine Novität aus dem Hause Kiepenheuer & Witsch, über Benjamin von Stuckrad-Barres Comebackversuch 'Panikherz'."

In der FAZ trifft Julia Ecke Wolf Wondratschek, der in Berlin an einem geheimen Ort Gedichte ausstellt, von denen man einzelne Exemplare für 9.800 Euro erwerben kann: "Erst im vergangenen Jahr machte er mit der Nachricht Furore, das Manuskript seines neuen Romans statt an einen Verlag an einen reichen Unternehmensberater verkauft zu haben, der seinen Text nun als Einziger besitzt. Wondratschek scheint auf den Geschmack solcher privaten Finanzierungsmodelle gekommen zu sein. Wenn die Verlage ihm keine anständigen Vorschüsse mehr zahlen wollen, sucht er sich sein Geld eben andernorts zusammen." Online gibt es ein Gespräch mit dem Autor und ein Mini-Filmporträt von Jim Rakete. (Bei Interesse: Terminabsprache unter wondratschek-originale@gmx.de.)

Eine sehr unterhaltsame Lektüre bietet das anekdotengesättigte Gespräch, das Sven Michaelsen mit Suhrkamp-Cheflektor Raimund Fellinger für das SZ-Magazin geführt hat. Unter anderem erfahren wir, warum Thomas Bernhard die Korrekturfahnen nie gegengelesen hat: "Weil er es gar nicht konnte. Kommata konnte der gar nicht, Rechtschreibung auch nicht. Bernhard schlug Unseld mal vor, seine Schulden beim Verlag durch Lektoratsarbeiten zu begleichen. Der Verleger reagierte mit erschrockener Abwehr. Statt diplomatisch formulierte Absagen zu tippen, hätte Bernhard in die Tasten gehauen: 'Wie können Sie Vollidiot so einen Mist schreiben und denken, dass der Verlag das auch noch veröffentlicht?'"

Weiteres: In der FAZ trauert Orhan Pamuk um seinen Kollegen Umberto Eco. Außerdem hat die FAS Claudius Seidls Nachruf auf Eco online nachgereicht. In der Zeit-Reihe "Das war meine Rettung" erzählt der israelische Schriftsteller David Grossman, wie ihn das Schreiben nach dem Tod seines Sohnes ins Leben zurück brachte: "Man fühlt sich zerschmettert, aber dennoch muss man seine Charaktere mit Leben füllen, mit Anekdoten, mit einem Sinn für Humor, mit Libido und Liebe."

Besprochen werden Noëmi Lerchs Debütroman "Die Pürin" (NZZ), Birgit Dankerts Michel-Ende-Biografie (Welt), Joanna Bators "Dunkel, fast Nacht" (Tagesspiegel), Kettly Mars' "Ich bin am Leben" (SZ) und Friederike Mayröckers "fleurs" (SZ).
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Bühne



Hunger! Johann Kresniks Inszenierung von Johannes Kalitzkes "Pym" am Theater Heidelberg. Foto: Annemone Taake.

Laut Josef Oehrlein von der FAZ wird einem derzeit am Theater Heidelberg viel geboten in Johann Kresniks Heidelberger Inszenierung von Johannes Kalitzkes neuer Oper "Pym" nach Edgar Allan Poe (mehr hier): Der Held gerät in Seenot, die Mannschaft meutert, "es fließt Blut, und es fliegen die Fleischfetzen bei einem kannibalischen Überlebensritual durch die Gegend ... Kalitzke hat eine aufgewühlte und aufwühlende, zwölftönig inspirierte Musik geschrieben. Unaufhörlich klöppelt, knarrt, klingelt, raschelt, grummelt, klimpert, brummt und jault es, Fetzen von Möwengeschrei und Walgesang sind auszumachen." In der Neuen Musikzeitung schreibt Frieder Reininghaus, dass sich "die Choreografie der geschundenen Körper zumindest gleichberechtigt zu den Dimensionen der Stimmen behauptet."

In der Presse unterhält sich Barbara Petsch mit Peter Handke, dessen Stück "Die Unschuldigen" am Samstag im Wiener Burgtheater von Claus Peymann uraufgeführt wird, über seine Vorlieben beim Theater: "Heute ist das Theater oft würdelos und austauschbar. Es werden Romane und Reportagen theatralisiert. Ich habe Tolstois 'Krieg und Frieden' wieder gelesen. Ein gewaltiges episches Werk wie Homer oder Wolfram von Eschenbach. Das kann man nicht auf die Bühne bringen! Es gibt so herrliche Dramenliteratur! Von Aischylos bis Goethe. 'Torquato Tasso'! Poesie entsteht dort, wo das arme Würstchen Mensch aufhört zu sprechen."


Kritisch-historisch verbürgt: "Kiss me, Kate" im Châtelet. Foto: Marie-Noëlle Robert

Weitere Artikel: Für die Nachtkritik führt Wolfgang Behrens durch aktuelle Theatermagazine. Für die FAZ berichtet Julia Dettke von einem Berliner Abend mit der Schauspiellehrerin Susan Batson. Zur Eröffnung des Tanzjahres 2016 gibt Manuel Brug in der Welt der Branche einige gestrenge Worte in Sachen Qualität und Exzellenz mit auf den Weg. Marc Zitzmann weiß zwar, dass Musicals nichts für Menschen mit Geschmack sind, die Produktionen am Pariser Théâtre du Châtelet lässt er sich aber trotzdem gern gefallen: "Für 'Kiss me, Kate' fertigte der Dirigent David Charles Abell eine kritische Ausgabe an - Forschungsarbeit wie für eine Offenbach-Oper!"

Besprochen werden die von Johanna Wehner inszenierte Uraufführung von Felicia Zellers "Zweite Allgemeine Verunsicherung" am Schauspiel Frankfurt (taz, SZ, Nachtkritik), Leos Janáčeks Oper "Die Sache Makropulos" an Berlins Deutscher Oper (Welt), eine von Soe­ren Voima und Christian Weise für das Berliner Gorki-Theater entwickelte "Othello"-Fassung ("zu laut, zu aufgedreht und zu verliebt in den Klamauk", urteilt Katrin Bettina Müller in der taz, Nachtkritiker Wolfgang Behrens spricht von "Brachialkomik-Plunder"), Stephan Kimmigs Stuttgarter Inszenierung von John von Düffels Tragödien-Compilation "Orest. Elektra. Frauen von Troja" ("das ekstatisch wilde Jammern und Schlachten lässt kalt", stellt FAZler Martin Halter zu seinem Bedauern fest), Nikolai Erdmans "Der Selbstmörder" am Berliner Ensemble (Tagesspiegel), Sebastian Hartmanns Inszenierung von Gogols "Revisor" in Frankfurt (FR) und eine "Iphigenie" in Frankfurt (FR).
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Film

Besprochen werden "Colonia Dignidad" mit Daniel Brühl und Emma Watson (FAZ) und Peter Landesmans Sportdrama "Erschütternde Wahrheit" mit Will Smith (SZ).

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Musik

Die ursprünglich aus der schwarzen Subkultur hervorgegangene DJ-Kultur ist in den letzten Jahren gründlich weißgewaschen worden, fällt SZ-Kritiker Jan Kedves auf: Ursprünglich in der schwarzen Subkultur entstanden, finden sich heute kaum noch schwarze DJs auf den wichtigsten Billing-Listen, schreibt er. Das dies neben der "Enteignung der Gründerväter" auch ein echter Verlust an historischem und politischem Bewusstsein darstellt, zeigt ihm ein neuer Mix von DJ Moodymann: "Er offenbart über 75 Minuten und 30 Stücke hinweg, bis ins letzte warme Schwellen der Rhodes-Orgel, ein enzyklopädisches Wissen um schwarze Musik und ihre Evolution ... Moodymann ist ein Meister im Einbauen solcher Brüche und Irritationen. Sie gehören zu einem DJ-Verständnis, nach dem DJs nicht nur die Chef-Bespaßer des Publikums sind, sondern immer auch ihre Erzieher. "

Besprochen werden das neue Album von Animal Collective (taz), die von Marc Minkowski dirigierte Eröffnung des Frankreich-Festivals im Berliner Konzerthaus (Tagesspiegel), ein Album mit Klassikinterpretationen von Nirvana-Hits durch Aysedeniz Gokcin und Ivan Shopov (taz), das Buch "Der Klang der Wut" des Pianisten James Rhodes (Zeit), das Album "Traditional Synthesizer Music" von Venetian Snares (Pitchfork), das neue Album von Kanye West (The Quietus), neue Tapeveröffentlichungen (The Quietus)und Stephen Witts Buch "How Music Got Free" (FAZ, mehr dazu hier).
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Kunst


Hans Schabus, The Long Road from Tall Trees to Tall Houses (July 13th, 2015), 2015.

Der Künstler Hans Schabus reiste in 42 Tagen von der West- zur Ostküste der USA, mit dem Fahrrad als "Reflexionsmaschine", und Anne Katrin Fessler (Standard) erlebt in seiner Ausstellung im Salzburger Kunstverein, dass eine Tour de Force durch Sierra Nevada und Rocky Mountains eben doch Kunst sein kann: "Warum? Weil Schabus, in dessen Kunst es immer auch darum geht, Gedanken- und Ideengebilden einen Raum und damit auch einen physischen Körper zu verleihen, mit dieser Reise das Ziel verfolgte, dem Medium Zeit, jener nicht fassbaren Dimension, einen Raum - und dadurch eben auch einen greifbaren Körper - zu geben."

Was bleibt von der Konzeptkunst im Zeitalter der Digitalität? Diese Frage stellt sich die Ausstellung "Fluidity" im Kunstverein Hamburg. Das Fazit von Petra Schellen in der taz: Die Form der Konzeptkunst habe sich "seit ihren Anfängen ins Gegenteil verkehrt, passend zur Ära der optischen Reize und der Geschwätzigkeit: Die Idee reicht nicht mehr. Es muss auch einen sichtbaren materiellen Anker geben."

Weitere Artikel: In der NZZ feiert Barbara Fässler den Kritiker, Künstler und Kurator Gillo Dorfles, dem das Museo d'Arte Contemporanea di Roma eine Ausstellung widmet: "In der heutigen hochspezialisierten Welt repräsentiert Gillo Dorfles eine seltene und etwas anrüchige Gattung: das polyvalente Multitalent." Alexander Menden spricht in der SZ mit der Malerin Tomma Abts, die gerade einen neuen Londoner U-Bahnplan für die Westentasche gestaltet hat.

Besprochen werden die Stephen-Shore-Retrospektive im C/O Berlin (SZ) und Jim Heimanns Bildband "Surfing" (SZ).
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