Efeu - Die Kulturrundschau

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17.09.2015. Die taz amüsiert sich angesichts der Shortlist für den Deutschen Buchpreis über reihenweise gekillte Darlings des Literaturbetriebs. Die Welt fragt entsetzt: Wo ist Clemens J. Setz? In der Zeit feiert Cees Nooteboom die Männerkörper unter den Kutten Francisco de Zurbaráns. Der Tagesspiegel ärgert sich über den Gratismut von Tilman Köhlers pegidakritischer Shakespeare-Inszenierung in Dresden. Valery Gergiev wird die Münchner Philharmoniker aufs Äußerste fordern, freut sich schon mal die SZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.09.2015 finden Sie hier

Kunst


Francisco de Zurbaran, Herkules kämpft mit dem Löwen. Bild: Wikipedia

Cees Nooteboom
erklärt in einem wunderbaren Text für die Zeit seine Liebe zu dem spanischen Maler Francisco de Zurbarán, dessen große Retrospektive ab Oktober im Museum Kunstpalast in Düsseldorf zu sehen sein wird. Ein "Meister der Falten und des Stoffes" war er - doch nicht, weil er den Körper nicht kannte: "Als Zurbarán bei Philipp II. Hofmaler geworden war und sich mit Velázquez angefreundet hatte, erhielt er den Auftrag, die Taten des Herkules zu malen. Nachdem sich der Besucher zunächst das Herkules-Gemälde angesehen hat, bedarf es nur einer kleinen geistigen Übung, damit ihm aufgeht, wie gut dieser Maler wusste, wie ein Männerkörper unter einer Kutte aussieht. Ein gewagter Gedanke, doch der Maler muss sich dessen bewusst gewesen sein. Wer weiß, was er zeigt, weiß auch, was er verbirgt, und diese Kutten wurden über realen Körpern getragen."

Weitere Artikel: Für die taz reist Annegret Erhard ins bulgarische Plowdiw, das 2019 offenbar aus besten Gründen Europäische Kulturhauptstadt sein wird: "Das Potenzial der Stadt an besonderen Schauplätzen ist inspirierend."

Besprochen werden Paul McCarthys Videoinstallation "Rebel Dabble Babble" an der Berliner Volksbühne (NZZ), eine Fotoausstellung von Wim Wenders in der Galerie Blain/Southern in Berlin (Berliner Zeitung), eine Ausstellung von Max Beckmanns Druckgrafiken in Frankfurt (FR), die Ausstellung "Stadt/Bild" an diversen Orten in Berlin (Freitag) und eine arte-Doku über Künstler und deren Finanzierung (FR, hier in der Mediathek)
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Literatur

Die Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht fest (hier alle Nominierungen samt unseren Rezensionsnotizen im Überblick)! In der Welt ist Richard Kämmerlings fassungslos, dass Clemens J. Setz nicht auf der Shortlist steht und macht dafür die Jury verantwortlich, in der diesmal "nur ein einziger Literaturkritiker von Rang" sitze. In der taz hält Dirk Knipphals die Liste für erfrischend unbekümmert, da sie offenbar allein dem Gusto der Jury entsprungen ist, so dass sich gerade unter den Romanen, die den Sprung aus der Longlist nicht geschafft haben, "reihenweise gekillte Darlings des Betriebs" finden: "Diese Liste ist so etwas wie eine gehobene Leseempfehlung - aber darin wenigstens cool." Und auf ZeitOnline jubelt Helmut Böttiger schon alleine deshalb, weil die Jury Frank Witzels "wahnwitzigen" RAF-Roman berücksichtigt hat, dem er nach Ulrich Peltzer, der in den Augen Böttigers beinahe schon zwangsläufig gewinnen muss, die "glanzvolle Silbermedaille" gönnen würde.

Weitere Artikel: Philipp Idel berichtet in der Berliner Zeitung von Veranstaltungen mit Frank Witzel und Wole Soyinka beim Literaturfestival in Berlin. Der Tagesspiegel beendet seine Reihe über Griechenland mit einem Text der griechischen Schriftstellerin Amanda Michalopoulou, die nach "Halt in Humor und Sarkasmus" sucht.Und zum Nachhören beim SWR: Christian Schärfs Radioessay über die Evolutionsgeschichte des Essays.

Besprochen werden Ulrich Peltzers "Das bessere Leben" (Freitag), Roberto Schopflochers Roman "Das Komplott zu Lima" (NZZ),  Jenny Erpenbecks "Gehen, ging, gegangen" (Berliner Zeitung), Martin Amis" "Interessengebiet" (Tagesspiegel, FAZ), Miranda Julys "Der erste fiese Typ" (FAZ) und Anthony Horowitz" neuer James-Bond-Roman "Triggier Mortis" (SZ).
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Architektur


Martha Rosler, Housing Is a Human Right, Times Square Spectacolor sign, New York, 1989 | In der Serie Messages to the Public | © Martha Rosler

Tobias Timm stellt in der Zeit ein Seniorenwohnprojekt in Berlin-Pankow vor, das Maßstäbe für die Zukunft setzen soll: Entwickelt wurde es von den künftigen Bewohnern, dem Berliner Haus der Kulturen der Welt und dem Architekturkollektiv Assemble aus London, "eine Hausgemeinschaft mit wundersamen Wohnungen, die mit ihren Bewohnern wachsen, aber auch wieder schrumpfen können". Betrachten kann man ein Modell im Maßstab 1:1 demnächst in der Ausstellung "Wohnungsfrage": "Zusammen mit drei anderen für die Ausstellung entworfenen Modellen, die sich Architekturbüros aus Tokio, Brüssel und San Diego mit weiteren Berliner Initiativen wie der Gruppe Kotti & Co ausgedacht haben, könnte es die Baupolitik ordentlich durchrütteln. Günstige, große Häuser für die Massen müssen, das beweisen die Modelle, keine starren Betonburgen mit den immer gleichen Grundrissen sein. Wenn man nur die zukünftigen Bewohner in die Planung einbezieht, entstehen ganz ungeahnte, pragmatische Lösungen."

Außerdem: Die postmoderne Architektur mag wegen ihrer Schnörkel und Mythenlust, wie sie sich etwa in Montpellier niederschlägt, einen wenig guten Ruf genießen, doch der "Qualität des öffentlichen Raums" komme sie durchaus zugute, schreibt Joseph Hanimann in der SZ.
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Bühne

Das Staatsschauspiel Dresden eröffnet seine Spielzeit mit Tilman Köhlers um allerlei Pegida-Anspielungen angereicherter Inszenierung von Shakespeares "Maß für Maß". Dass der Abend nach einer starken ersten Hälfte in der zweiten offenbar sehr mit Parolen hantiert, nimmt Peter von Becker (Tagesspiegel) dem Regisseur ziemlich krumm: "Plötzlich scheint alles klar wie braune Kloßbrühe ... Bei einem bildungsbürgerlichen Staatstheater-Publikum [läuft das] naturgemäß ins Leere. Wirkt gratismutig, dünn und rangeschmissen (aber: woran?). Man will die Bösen und Dummen als Spießer ausstellen und stellt sich nur selber, sächselnd und nachäffend, bloß. Nicht die Welt, nicht einmal Dresden, nur das Theater ist bei dieser Plumpheit aus den Fugen."

Besprochen werden Dietmar Daths in Zürich aufgeführte Umschrift von Ibsens "Volksfeind" in der Inszenierung von Stefan Pucher ("ein poppiges Hipster-Spektakel", meint Charlotte Theile in der SZ) und Ludger Engels Aachener Inszenierung von Puccinis "Tosca" (FAZ).
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Film


Jesper Christensen, Denis Lavant, Daniel Brühl in Wolfgang Beckers "Ich und Kaminski"

In der Welt ist Hans-Georg Rodek hin und weg von Wolfgang Beckers Film "Ich und Kaminski". Besonders die Erzählweise, die "kleinen erzählerischen Stromschläge" Beckers imponieren ihm: "Mitten in Dialoge schneidet er laut hinein, was die Gesprächspartner nur denken. Er verdoppelt die Romanfigur von Daniel Kehlmann zu Zwillingen, damit die sich ergänzen und das Sprechtempo zum Stakkato wächst. Er kontrastiert mündliche Erzählungen mit optischen Rückblenden, die das Gesagte konterkarieren. Er baut Wunschträume seiner Figuren ein, als seien sie Realität - und holt sie dann in die Wirklichkeit zurück. Er präsentiert einige der schönsten Überblendungen seit langer Zeit, und jede erzählt in ein paar Sekunden ihre eigene Geschichte. Und nichts ist sicher, auch nicht Kaminskis Blindheit." (Weitere Kritiken im Freitag, bei ZeitOnline und in der taz, außerdem gibt es ein Gespräch mit Becker in der Berliner Zeitung.)

Im Freitag warnt der Historiker Dirk Alt (wie schon vor einigen Wochen), nach der Digitalisierung des Filmerbes das analoge Trägermaterial zu entsorgen. Würde die filmhistorische Substanz tatsächlich digitalisiert und das zugrunde liegende Material im Anschluss vernichtet, "wäre [das Resultat] eine hochgradig pflegeintensive Datenmasse mit unsicheren Überlebenschancen, die darüber hinaus beliebig manipulierbar wäre. Die mangelnde Fälschungssicherheit digitaler Daten beträfe insbesondere die zeitgeschichtliche Aussagekraft von Filmen, die mithin als Dokumente weitgehend unbrauchbar würden. Da das authentische Material, anhand dessen sie überprüft werden könnten, ja nicht mehr vorhanden wäre, wären dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet."

Weitere Artikel: Bei Zeit Online erinnert Tobias Dorfer an die Golden Girls. Fritz Göttler empfiehlt in der SZ eine Reihe im Filmmuseum München mit Hollywoodfilmen aus der Pre-Code-Ära. 

Besprochen werden zwei Filme von Raoul Peck (taz, Perlentaucher), Baltasar Kormákurs "Everest" (Tagesspiegel, NZZ), Andreas Arnstedts "Der Kuckuck und der Esel" (Freitag), Konrad Wolfs auf DVD erschienener Klassiker "Ich war neunzehn" (taz), der im Filmmuseum Potsdam gezeigte Klassiker "Leuchte, mein Stern, leuchte" (taz), Ciaran Foys Horrorfilm "Sinister 2" (Perlentaucher), Jerry Jamesons Thriller "Captive" ("bestenfalls ordentlich gearbeitet", urteilt Dietmar Dath in der FAZ) und die Hacker-Serie "Mr. Robot" (FAZ).
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Musik

Die ganze erste Seite des SZ-Feuilletons widmet sich Valery Gergievs Einstand als Dirigent der Münchner Philharmoniker. In seiner großen, durchaus schwärmerischen Würdigung dieser "Musikmaschine" wägt Reinhard J. Brembeck auch Vor- und Nachteile dieser Liaison ab: "Gergiev ist Weltspitze, was auch auf München und die Philharmoniker ausstrahlt und ihnen helfen wird, die zunehmend härtere Konkurrenz durch die gerade in Topform spielenden br-Symphoniker zu bestehen. Mit ihm kann das Orchester die geliebten Tourneen unternehmen, er wird die Musiker aufs Äußerste fordern. ... Die Nachteile: Gergiev wird immer und in erster Linie der Chef des Mariinski bleiben, einschließlich der Abhängigkeit von Russlands Big Boss Wladimir Putin, dem Gergiev viel verdankt und in dessen Sinne er sich oft ausspricht." Michael Stallknecht unterhält sich mit dem Neu-Münchner, dem die geistig-kulturelle Freundschaft zwischen Russland und Deutschland besonders am Herzen liegt: "Wenn die Politiker sich nicht verstehen, heißt das nicht, dass die Völker sich nicht verstehen. Die Völker Russlands und Deutschlands haben meiner Meinung nach eine sehr breite Basis, um einander zu verstehen." Tim Neshitov staunt unterdessen über den tatsächlich sehr dichten Termin- und Arbeitskalender Gergievs. 

Für sehr hörenswert hält Klaus Walter von Byte.FM das neue Album "Flogging a Dead Frog" von den Goldenen Zitronen, auf dem die Hamburger Post-Punks zahlreiche Songs aus ihrem Repertoire auf Englisch neu eingespielt haben. Nicht nur, weil die politischen Texte auch ein internationales Publikum ansprechen, sondern auch, weil "die Musik einen höheren Stellenwert bekommt, [da] man weniger am Text entlang hört und so kapiert, wie "anachronistisch und zeitgemäß", wie zwingend dieser Zitronenmix aus Post-Punk, Kraut-Robot und Eisler-Techno ist.": 


Der traditionelle Metal ist Nicklas Baschek auf Zeit Online nach dem Anhören der neuen Alben von Slayer und Iron Maiden durchaus ein Ärgernis: Wo bleiben die Neugier, Lust am Experiment und Veruneindeutigung, wie sie derzeit im Pop zelebriert wird? Befeuert von den Stakkato-Riffs schreibt sich auch der Kritiker in Rage, wenn von einer "Selbstoptimierungs-Metal-Maschine der Hochgeschwindigkeitsgitarristen" spricht: "Die Überzeugung, dass Kunst über den Status Quo hinausdenken kann und soll, wird im traditionellen Metal abgelöst von der Idee der Perfektionierung des einmal Gefundenen. "Werde besser und schneller, quetsch noch einen Ton dazwischen und zeig" das auf der Bühne" ist die Logik. ... Das ist nicht weit weg vom kapitalistischen Optimierungsdiskurs, in dem der Einzelne seine Fähigkeiten immer weiter zu perfektionieren hat." 

Weitere Artikel: Uwe Schmitt porträtiert in der Welt den irischen Liedermacher und Oscarpreisträger Glen Hansard. Julia Spinola stellt in der NZZ den Komponisten Jörg Widmann vor, der in dieser Saison den "Creative Chair" an der Tonhalle Zürich inne hat. Julian Weber spricht in der taz mit Ilan Volkov, der morgen Abend in Berlin Stockhausens Oper "Michaels Reise um die Erde" dirigiert. Annett Gröschner berichtet im Freitag von der Geburtstagsfeier zu Ehren von Mikis Theodorakis. Julian Marszalek plaudert auf The Quietus mit Keith Richards, dessen neues Soloalbum "Crosseyed Heart" Edo Reents in der FAZ für "kraftvoll" hält. Hans-Christian Rössler war für die FAZ beim Jerusalem International Chamber Music Festival.

Besprochen werden erste Konzerte beim Festival "ZeitRäume" in Basel (NZZ), das Debüt von Schnipo Schranke (Freitag), die "Edition 1" von King Midas Sound und Fennesz ("Knapp unter Zimmerlautstärke funktioniert das Album vorzüglich als Trauerweidenklangtapete im Kaffeehaus Ihres Misstrauens", schreibt Klaus Walter in der Spex), Sean Nicholas Savages "Other Death" (Spex), das Comeback der Libertines (Freitag), Poles "Wald" (Pitchfork), das neue Album von Public Image Ltd. (Pitchfork), eine Kollaboration von Merzbow, Jim O"Rourke, Akira Sakata und Chikamorachi (Pitchfork), ein Konzert von Molly Nilsson (Berliner Zeitung) und ein Goldberg-Abend in Frankfurt mit Michael Wollny, Alex Nowitz und Leafcutter John (FR).
Archiv: Musik