Im Kino

Im Bann von Bughuul

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Fabian Tietke
16.09.2015. Raoul Pecks "Mord in Pacot" verknüpft komplexe soziopolitische Analysen mit einem reduzierten Beziehungsdrama. Ciaran Foys filmische Grobheit "Sinister 2" berauscht sich geradezu an den Defekten des schmutzig prä-digitalen Medienzeitalters, erreicht aber nicht die Subtilität von Teil 1.

Regen fällt auf schlammige Wege, dann bewegen sich Menschen in weißen Schutzanzügen zu sakral anmutender Musik durch die Nacht, tragen Leichen in Plastikhüllen, schichten sie auf LKWs. Am nächsten Morgen wühlt eine Frau in den Trümmern, die das Erdbeben hinterlassen hat. Ein Nachbeben kommt und geht. Raoul Pecks "Mord in Pacot" zeigt ein Paar in den neun Tagen nach dem Erdbeben auf Haiti im Januar 2010, nach dem Verlust seiner Mittelschichtsexistenz.

Während die Frau im Schutt wühlt, blickt der Mann nach vorne, hält die Routinen krampfhaft aufrecht - und geht dabei über Leichen. Unter den Trümmern des Hauses liegt der Adoptivsohn des Paares begraben. Am Tag darauf kommt ein weißer, europäischer Baugutachter um das, was vom Haus übrig ist, zu begutachten. Um wenigstens hier ausbessern zu können, nimmt das Paar im kleinen Teil des Hauses, der noch bewohnbar ist, einen NGO-Mitarbeiter als Mieter auf. Wenig später bringt der, begleitet von neugierigen Blicken des Paares, das erste Mal seine haitianischen Geliebte Andrémise mit, die schnell zum Zentrum der Handlung wird. Die vom Land nach Port-au-Prince gezogene Partnerin eines weißen NGO-Mitarbeiters erscheint in den Augen der Frau opportunistisch, in den Augen des Mannes begehrenswert und in den Augen des NGO-Mitarbeiters angenehm - keiner der drei nimmt sie als Subjekt ernst.


"Mord in Pacot" balanciert zwischen post-kolonialer Analyse von Machtstrukturen und einem durchstrukturierten universellen Kammerspiel mit überschaubarer Figurenkonstellation. Der Film spielt fast ausschließlich auf dem Grundstück des Paares. Vor allem die beiden Männer gehen immer wieder in die Stadt, um zu arbeiten und Besorgungen zu machen - kehren aber stets wieder zurück. Die Stagnation wird noch verstärkt durch die Einteilung des Films in die neun Tage nach dem Beben mit Zwischentiteln - eine Struktur, die Entwicklung suggeriert ohne dass diese eintritt. Die Frau sieht sich mit einem Mal in die klassisch patriarchale Arbeitsteilung zurückgeworfen. Mit einem Mal soll sie, die sich darum nie kümmern musste, für die Hausarbeit zuständig sein. In einer präzise inszenierten Partyszene trifft die Frau (der Film ist das Schauspieldebüt der nigerianischen Sängerin Ayo) auf einen jungen Mann - sie flirten. Immer wieder zieht der Mann sie dabei mit der gleichmachenden Wirkung des Bebens auf: Selbst die Gerüche würden die Reichen nun ebenso ignorieren wie zuvor nur die Armen das getan hatten, weil sie von ihren Wohnverhältnissen dazu gezwungen waren.

Diese Analysen gewinnen jedoch nie die Oberhand, im Kern bleibt "Mord in Pacot" ein Film über eine Viererkonstellation: ein durch eine Krise auf seine Unzufriedenheit zurückgeworfenes Paar, zwei Fremde, die die Möglichkeit zur Veränderung eröffnen. Im englischen Pressematerial verweist Peck auf die Lektüre von Pier Paolo Pasolinis poetischer Selbstauskunft "Wer ich bin" bei der Arbeit an dem Film. Im deutschen Pressematerial evoziert er einen anderen Bezugspunkt aus dem europäischen Autorenkino: "Ich bat den bekannten haitianischen Schriftsteller Lyonel Trouillot, mit mir [...] zu arbeiten. Mit seinem besonderen Stil, der gleichzeitig barock, Brechtianisch, poetisch und prägnant ist, war er der perfekte Begleiter, um sich mit mir in dieses emotionale Niemandsland zu begeben, in das sich mein Land verwandelt hatte. Eine Art "Haiti im Jahre Null"."

Die Stärken von "Mord in Pacot" zeigen sich insbesondere Im Vergleich mit Pecks Dokumentarfilm "Assistence mortelle" (2013), einer weitaus direkteren Darstellung der Situation in Haiti nach dem Erdbeben. Während der ältere Film durch die unverstellte Darstellung und die offene Kritik an der Arbeit der NGOs überzeugt, gelingt es "Mord in Pacot", komplexe soziopolitische Analysen mit einer reduzierten Figurenkonstellation zu verschränken. So ist es Peck, der in Port-au-Prince geboren ist, in Kinshasa aufwuchs und in Berlin an der DFFB Film studierte, gelungen, das Befremden beim Blick von außen auf die Situation in Haiti künstlerisch fruchtbar zu machen. Unterdessen lebt Peck übrigens vor allem in Paris, wo er Leiter der Filmhochschule La Fémis ist.

Fabian Tietke

Mord in Pacot - Haiti 2014 - Originaltitel: Meurtre à Pacot - Regie: Raoul Peck - Darsteller: Alex Descas, Ayo, Thibault Vincon, Lovely Kermonde Fifi, Albert Moleon - Laufzeit: 130 Minuten.




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Mit "Sinister" legte Scott Derrickson 2012 einen der besseren, insbesondere atmosphärisch sehr stimmigen Filme der jüngeren, mehr auf Gruselschauer statt auf Zerfleischungen setzenden US-Horrorwelle aus dem Semi-Mainstream vor (hier unsere Kritik). Während andere Filme dieses losen Zusammenhangs in erster Linie über ihre Spieldauer "Jump Scares" großzügig verteilen, zelebrierte "Sinister" die hauntologische Ästhetik alten Super8-Filmmaterials und geisterhaft veruneindeutigten, schön zerriebener Sounds und Songs, die man - vom norwegischen Black Metal von Ulver über komplexe Elektronik von Boards of Canada bis hin zu den ritualistischen Drones von Sunn o))) - direkt von den Meistern wohlig unwohliger Musik lizenzierte. Ein exquisites Coffeetable-Book von einem Film, das - da mit Ethan Hawke prominent besetzt und auch an den Kassen erfolgreich - unweigerlich ein Sequel nach sich ziehen musste. Da das Franchise nun einmal etabliert ist, kommt dieses jetzt auch ohne etablierte Stars als Antriebsmotor aus.

Einen beträchtlichen Reiz bezog der erste Teil auch daraus, dass ihm ein großes Spukhaus-Mysterium zugrunde lag, dessen Konturen Hawke Schritt für Schritt freilegte, ohne dass der Film in ungelenke Erkläritis verfiel. Eine nicht unbeträchtliche Hypothek für ein Sequel, das auf dieses As im Spiel nun verzichten muss: Die Geschichte vom archaischen Gott Bughuul, dem "Boogeyman" aus der US-Folklore, der in seinen Bildern und Repräsentationen spukt und die Kinder von Kleinfamilien zu irrsinnigen Gewalttaten an ihren Eltern animiert, bevor er sie als Schattengeister in seine Bildwelten holt, ist nach dem ersten Teil (und dem Trailer zum zweiten) etabliert. Wählt der Vorläufer noch die Perspektive des Familienvaters, der erst im Moment, als es endgültig zu spät ist, versteht, was Sache ist (was im übrigen auch eine schöne Horrorparabel auf die Vernachlässigung von Kindern durch allzu ich-fixierte Eltern darstellt), macht sich die Fortsetzung die Perspektive eines Kindes zu eigen, das zusehends in den Bann von Bughuul gerät: Nach einer Scheidung zieht eine Mutter mit ihren beiden Zwillingen in ein entlegenes Haus auf dem Land, wo einer der beiden bald die Bekanntschaft mit einer Gruppe geisterhafter Kinder macht, die ihn zum Anschauen gruseliger Super8-Filme im Keller verleiten, in denen - wie in Teil eins - schauderhafte Familienmorde gezeigt werden. Unterdessen taucht der leicht trottelige Hilfssheriff aus Teil eins auf (dort noch eine Nebenrolle, hier Held der Geschichte), der sich die Bekämpfung des Fluchs der Bughuul-Morde mittlerweile zum Lebensinhalt gemacht hat…



Auch "Sinister 2" lässt sich wieder als Parabel auf krisengeschütteltes Familienleben lesen. Hier bildet das schwelende Trauma einer Elterntrennung den Ausgangspunkt. Der Familiengrusel ist derzeit ein populäres Thema im Horrorkino, wie der australische "Babadook" und der österreichische "Ich seh, ich seh" belegen - doch wo diese beiden Filme sich tief in ihr Thema versenken, belässt es "Sinister 2" beim bloßen Stichwort und bleibt einigermaßen konkret. Das beschert dem Film vor allem in den ersten drei Vierteln seiner Laufzeit spürbaren Leerlauf, da Regisseur Ciaran Foy seine Figuren stets erst mühsam anordnen muss, um den Rahmen für seinen eigentlichen Spektakelwert zu etablieren. Mehr noch als der Vorläufer ist "Sinister 2" lustvoll ausstaffierte Nummernrevue: Während die eigentliche Erzählwelt eigentümlich leer ist, fallen die kunstvoll auf Vintage getrimmten Super8-Sequenzen samt dem Ritual ihrer Aufführung (inklusive synchronisiertem Plattenspieler, der effektiv in Szene gesetzt wird) ziemlich spektakulär aus: Am liebsten, scheint es, wäre "Sinister 2" transgressives Avantgarde-Kino, das sich in der materiellen Ästhetik seiner präsentierten, im Digitalzeitalter obsolet gewordenen Medien nach Herzenslust austoben kann. "Sinister 2" berauscht sich geradezu am Korn, an den Defekten, am Grundrauschen des schmutzig prä-digitalen Medienzeitalters und bietet im Verbund mit den wieder toll entrückten Sounds und Songs einige ziemlich wunderbare Momente, die sich insbesondere im grandiosen Showdown zu einem Triumph des groben Filmemachens über die klein-klein sortierte Welt des überschaubaren Continuity-Erzählens erhebt.

Der Exzess kommt allerdings zu einem Preis: Waren die Super8-Snuff-Filme des ersten Teils - vielleicht auch wegen des Hollywood-Konnex in der Person von Ethan Hawke - noch psychologisch wirksam, suhlen sie sich in der Fortsetzung in einer geradezu viehisch enthemmten Brutalität. Und war der Vorläufer nicht zuletzt auch eine schöne Meditation darüber, was geschieht, wenn der heutige Digital-Medienapparat auf seine analogen Vorreiter blickt, fehlt dem zweiten Teil diese auch intellektuell reizvolle Komponente spürbar. Auch abseits der Konflikte zwischen Diesseits und Jenseits, Archaik und Moderne stehen zwei filmische Welten im Widerstreit: Die des braven, eher literarischen Formen verpflichtenden Erzählens und der dazugehörigen, sortierenden Mittel - und die einer Unterwanderung dieser Mittel, in denen eine auch formelle filmische Grobheit auf ganz eigene Formen audiovisuellen Spektakels abzielt. Wer letzteres genießen will, muss über ersteres zuweilen geduldig hinwegsehen. Möglich ist das durchaus. Dennoch bleiben Restbedenken: Schöner wäre es schließlich, wenn sich solche audiovisuelle Purzelbäume dem Kino auch ohne einen letztendlich domestizierenden Rahmen andrehen ließen.

Thomas Groh

Sinister 2 - USA 2015 - Regie: Ciaran Foy - Darsteller: James Ransone, Shannyn Sossamon, Robert Daniel Sloan, Dartanian Sloan, Lea Coco, Tate Ellington - Laufzeit: 97 Minuten.