Efeu - Die Kulturrundschau

Denk dran, mich nicht zu vergessen

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12.08.2022. Die SZ betritt die Pforten der Unlogik in der Ugo-Rondinone-Ausstellung der Schirn. Die FAZ hört das Meer rauschen in den neuen Romanen von Theresia Enzensberger, Dörte Hansen und Mariette Navarro. Die NZZ setzt sich einen Hut auf. Die Welt schwärmt von der schlichten Schönheit des neuen Maigret-Films - mit Gerard Depardieu - von Patrice Leconte, der unbegreiflicherweise hierzulande nicht in die Kinos kommt. Das Berliner Theatertreffen schafft sich gerade selbst ab, konstatiert die Welt. Die taz erzählt, wie ein Reissue-Label die Staples Jr. Singers wiederentdeckte. Und: Frankreich trauert um den großen Sempé, dessen federleichter Tuschestrich den "Kleinen Nick" ins Leben gerufen hatte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.08.2022 finden Sie hier

Kunst

"Und denk dran, mich nicht zu vergessen." Sempés letzte Zeichnung erschien letzte Woche in Paris Match. Sempé, der Erfinder des "kleinen Nick", ein Zeichner, der Melancholie und Pracht verbinden konnte, ist im Alter von 89 Jahren gestorben.


Sempé ist tot! "Das schreibt sich leicht, aber es ist unbegreiflich, denn seine Zeichnungen sind das Lebendigste, was Cartoons überhaupt bieten können", schreibt ein trauernder Andreas Platthaus in der FAZ. "Die Federleichtigkeit seines Tuschestrichs scheint doch alle Schwermut auszuschließen. Aber ganz Frankreich trägt nun Trauer; der Tod von Jean-Jacques Sempé ist in der kollektiven Verlusterfahrung der Nation in diesem Jahrhundert nur mit dem Hinscheiden der beiden Sänger Charles Trenet und Johnnie Hallyday zu vergleichen."

Ugo Rondinone. Life Time, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2022, Foto: Norbert Miguletz


In der SZ empfiehlt Till Briegleb wärmstens die große Retrospektive des Schweizer Künstlers Ugo Rondinone in der Frankfurter Schirn. Hier werden die "verschlossenen Pforten der Unlogik" geöffnet, "um Geister und Wesen herein zu lassen - und verwandelt auch wieder heraus. Denn die Kreisläufe des Lebens bergen noch immer Rätsel, die den Verstand verspotten. Die menschliche Sehnsucht nach Sicherheit führt da die Erkenntnis nur in die Irre, wenn sie Antworten von Eindeutigkeit verlangt. Deshalb schläft ein bunter Clown mit stolz präsentiertem Rundbauch und Blackfacing in einer Umgebung von sieben großformatigen Fakebildern des nächtlichen Sternenhimmels neben einer düsteren massiven Tür zum Unbekannten. ... Die Übergänge, wo der Sinn noch unklar ist, sind Rondinones Lieblingszonen." Im Interview mit der SZ spricht Rondinone über seine Inspirationen, vor allem aus der Natur.

Wandbild von Taring Padi im Hallenbad-Ost, einem Spielort der Documenta. Ausschnitt.

Auf der Documenta hängt ein weiteres antisemitisches Wandbild der Gruppe Taring Padi, schrieb Volker Breidecker schon in der gestrigen Welt. Der Antisemitismus ist hier nur wenig verklausulierter als in dem abgehängten Bild "People's Justice". Die zentrale Figur des Bilds ist ein Anzugträger mit Dollarzeichen auf dem Jackett und entblößten Beinen: "Über ihrer Schulter trägt die Figur einen Wanderstab, an dem ein gut gefüllter, ebenfalls mit Dollarzeichen versehener und so zum Geldsack mutierter Reisebeutel hängt. Wanderstab wie Reisesack sind unverzichtbare Attribute des 'Ewigen Juden'. Was haben sie ausgerechnet hier zu suchen, auf einer Darstellung sozialer Kämpfe in Indonesien, wo so gut wie keine Juden leben? Offenbar sind der oder die Urheber mit der europäischen Bildtradition bestens vertraut, denn sie setzen sie gezielt ein."

In den Documenta-Lumbungs wird über alles diskutiert, nur nicht über Antisemitismus. Ist diese Debatte denn "nicht Lumbung-kompatibel? Was sagt das über die tatsächliche Zukunftsfähigkeit des Konzepts aus?", fragt sich in der FR Lisa Berins. "Das defensive, introvertierte Verhalten von Ruangrupa ist rätselhaft, und es wirkt, als wolle das Kollektiv den Diskurs um Antisemitismus als Unterbrechung der kuratorischen Praxis ausblenden."

Johannes Schneider blickt in Zeit online ratlos auf die "Kontextualisierungen" antisemitischer Bildmotive durch die Documenta-Leitung. "Mit Eigenheiten der indonesischen Volkskunst und der Unterdrückungserfahrung unter der Herrschaft des einstigen Diktators Haji Mohamed Suharto, auf die nun die Kontextualisierung vergleichsweise ausführlich eingeht, lassen sich allgemein Derbheit und Respektlosigkeit, aber recht schwer explizite visuelle Bezugnahmen auf zum Beispiel die deutsche SS erklären, die wiederum explizit mit hasserfüllten Stereotypen über jüdische Menschen in Verbindung gebracht wird. Das spricht vielmehr für eine gewisse, aber mit zu wenig Wissen unterfütterte Kenntnis des Holocausts. Es wäre nun Zeit zur Offenlegung gewesen: was man weiß, was man nicht weiß, was man zu wissen glaubt, welche Fragen man vielleicht auch hat an die andere Seite der Kritik an diesen Darstellungen, mit der man seit einigen Monaten sehr engagiert nicht kommuniziert."
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Literatur

In der FAZ gestattet Andreas Platthaus einen Ausblick auf die in den kommenden Wochen erscheinenden Romane "Auf See", "Zur See" und "Über die See" von Theresia Enzensberger, Dörte Hansen und Mariette Navarro. "Was alle drei Romane gemein haben, ist die Messlatte des Meeres: Seiner Größe, Gewalt, auch Unbewegtheit (nicht im Byron'schen, sondern im moralischen Sinne) hat der Mensch nichts entgegenzusetzen. Aber anschaulich macht das nur Hansen. Navarro hat eine Parabel mit Ausflügen ins Fantastische geschrieben, Enzensberger einen hoch politisierten Thesenroman. Die elementare Wucht der See blitzt bei der Französin auf, bei der Deutschen ist sie nicht einmal Folie für die Allegorie ('Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand'), die ihr Titel verheißt. Doch die Friesin Dörte Hansen versteht es, so zu schreiben, dass thematischer Anspruch und literarische Zugänglichkeit Hand in Hand gehen. Das ist ein Glücksfall für die deutsche Literatur. Für den Buchhandel sowieso."

Weitere Artikel: Judith Leister erinnert in der NZZ an die jüdischen Schriftsteller, die im Zweiten Weltkrieg für die Sowjetunion gegen die Nazis gekämpft haben und zum Dank dafür heute vor 70 Jahren von Stalin ermordet wurden (mehr dazu bereits hier). Die NZZ führt ein großes Gespräch mit dem Schweizer Germanisten und Schriftsteller Peter von Matt. In der FAZ gratuliert Sandra Kegel dem Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Franziska Gänslers "Ewig Sommer" (FR), Thomas Hürlimanns "Der Rote Diamant" (Welt) und Andrej Kurkows Krimi "Samson und Nadjeschda" (Dlf Kultur).
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Design

Mit den Temperaturen und den Sonnenstichgefahren steigt auch die Popularität von Kopfbedeckungen, um das Schlimmste abzuwenden, schreibt Silke Wichert in der NZZ, dies allerdings nicht völlig ohne Sorge: "Wenn wir nun in den Sommermonaten von der hutlosen wieder zur behüteten Gesellschaft zurückkehren, wird es immer schwieriger, herauszustechen. Man sieht die Kakofonie aus möglichst schreienden Kreationen, Seidentüchern und immer neuen Logo-Kappen bereits vor sich: eine Mischung aus Galopprennbahn und Grundschulausflug. Die eine Hutmode, wie sie noch in den zwanziger Jahren üblich oder bei Männern bis in die fünfziger Jahre möglich war, wird es in unserer überindividualisierten Gesellschaft nicht mehr geben. Kommen dann wenigstens einige der alten Kulturtechniken zurück? Das Grüßen mit dem Hut vielleicht?"
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Stichwörter: Mode, Hüte

Film

Die Supernase: Dépardieu ist Maigret

Erstmals seit sechzig Jahren gibt es einen neuen Maigret-Film. Die Vorlage? "Maigret und die junge Tote." Der Regisseur? Patrice Leconte. Der Hauptdarsteller? Gérard Depardieu, ausgerechnet. Wer den Film sehen will, wird in Deutschland allerdings nicht glücklich, sondern muss zum Beispiel nach Belgien ins Kino fahren, so wie die beiden Welt-Kritiker Christian Meier-Oehlke und Axel Rüth. Gesehen haben sie einen "Film von schlichter Schönheit und eine einzige Freude für jeden Simenon-Fan, eine Essenz aus knapp hundert Jahren Maigret, die Besichtigung eines Monuments." Und auch "Depardieu verkörpert die Essenz der Figur wie keiner vor ihm. 'Ich glaube gar nichts. Ich vermeide es sogar zu denken. Ich misstraue dem, was ich glaube', sagt Maigret-Depardieu über seine Methode."

Der frühere US-Actionstar Steven Seagal, der seit einigen Jahren die russische Staatsbürgerschaft hat, hat die besetzten Gebiete der Ostukraine besucht, meldet Andreas Scheiner in der NZZ: Seagal will dort eine Doku drehen, "welche die ganze Wahrheit des Krieges ans Licht bringen soll - Seagals Wahrheit. Das Kulturbüro der Duma habe das Unterfangen durchgewinkt, verlauten russische Medien. Wladimir Solowjow, Putins Hofpropagandist, dem 1 200 000 Menschen auf dem Chat-Dienst Telegram folgen, bewirtschaftet fleißig die Meldung von Seagals Besuch. ... Während sein früherer Actionfilm-Kollege Arnold Schwarzenegger mit einer beeindruckenden Videobotschaft den russischen Krieg verurteilte, macht Steven Seagal nun also Auftragsproduktionen für den Kreml."

Weiteres: Katrin Hillgruber berichtet auf Artechock von ihrem Treffen mit Matt Dillon, der beim Filmfestival von Locarno mit einem Preis für seine Lebensleistungen ausgezeichnet wird. Auf Artechock denkt Rüdiger Suchsland darüber nach, was einen "besten Film" auszeichnet, nachdem das British Film Institute aktuell wieder internationale Filmkritiker um Bestenlisten gebeten hat, um, wie alle zehn Jahre, die zehn besten Filme aller Zeiten zu ermitteln. Die Hollywood-Strahlemänner Ryan Gosling und Brad Pitt sind aktuell beide als Killer in derben Actionfilmen zu sehen: "Warum ballern Hollywoods bekannteste und erfolgreichste Männer so gern in ihren Filmen umher", fragt sich Martin Fischer entgeistert im Tagesanzeiger, "fühlen sie sich nicht ein bisschen lächerlich dabei?"

Besprochen werden Jordan Peeles "Nope" (FAZ, NZZ, Jungle World, mehr dazu hier), Carla Simóns Berlinale-Gewinner "Alcarràs" (SZ, mehr dazu bereits hier), Diana El Jeiroudis Dokumentarfilm "Republic of Silence" über Assads Syrien (taz), Mike Marzuks "Der junge Häuptling Winnetou" (Artechock, unsere Kritik hier), Isabelle Stevers Inzestdrama "Grand Jeté" (SZ, Artechock), der auf Netflix gezeigte Vampir-Film "Day Shift" mit Jamie Foxx ("die Ästhetik der Actionszenen könnte man Schichtschlachten nennen", schreibt Juliane Liebert in der SZ), die auf Amazon gezeigte Serie "A League Of Their Own" (FAZ), die auf Apple-TV+ gezeigte Doku-Serie "Five Days at Memorial - Inside the Storm" (taz) und "Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr" mit Timothy Spall (Standard).
Archiv: Film

Bühne

Das Berliner Theatertreffen schafft sich gerade selbst ab, klagt Jakob Hayner in der Welt. Verantwortlich dafür sei Matthias Pees, der neue Intendant der Berliner Festspiele, der die zur Auswahl stehenden Inszenierungen - bislang nur aus dem deutschsprachigen Raum - auf Osteuropa ausweiten will. "Von einer Kritikerjury, die schon jetzt eine kaum überschaubare Menge an Produktionen zu sichten hat, sei das nicht zu leisten, gibt Pees auch ohne Weiteres zu. Und überhaupt: Eine Jury aus journalistischen Theaterkritikern sei ohnehin nicht mehr zeitgemäß. Sind nicht Dramaturgen auch irgendwie Kritiker? Man ahnt, worauf Pees hinaus will. ... Dass die Kritikerjury durch ein Dramaturgenkollektiv oder ähnliches ersetzt wird, passt auch ins Bild. Der Umgang mit der Theaterkritik durch die Theatermacher ist inzwischen von desinteressierter Ignoranz zu offener Verachtung übergegangen. 'Scheiße am Ärmel der Kunst' nannte sie Karin Beier, Intendantin des Deutschen Schauspielhaus Hamburg und mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Ihre Kollegin Amelie Deuflhard von Kampnagel in Hamburg meint, dass die Theater über die eigenen Kanäle sowieso effektiver kommunizieren könnten." Wer braucht da noch Kritiker?

In der Zeit resümiert Christine Lemke-Matwey - online nachgereicht - den Bayreuther Ring von Valentin Schwarz. Besprochen werden Oona Dohertys Choreografie "Navy Blue", mit der sie das Sommerfestival auf Kampnagel eröffnet (SZ).
Archiv: Bühne

Musik

In der taz erzählt Ruth Lang Fuentes die Geschichte, wie es dem Reissue-Label Luaka Bop nach zwei Jahren Recherche (den Anstoß dafür gab dieser Song) gelungen ist, die Gospel-Soul-Combo Staples Jr. Singers aus den Siebzigern in der US-Provinz ausfindig zu machen, um ihr einziges, in Vergessenheit geratenes Album wieder zugänglich zu machen: Davon besaß die Familie hinter der Band "noch genau ein Exemplar: zerfleddert und zerkratzt, da immer und immer wieder abgespielt von der ganzen Familie. Vor langer Zeit hatten sie eine geringe Stückzahl Platten gepresst und aus dem Vorgarten heraus an ihre Nachbarn verkauft. 'Wir dachten, über die Sache wäre längst Gras gewachsen.' ... Auch die Geschichte der schwarzen Community fließt in die Songs mit ein. Die Stadt Aberdeen, Hafenstadt am Tombigbee River und Eisenbahnknotenpunkt, ist geprägt von der Baumwollindustrie, Rassismus spielte bis heute im Alltag eine Rolle. Fast drei Viertel der Bevölkerung sind schwarz. Dennoch: 'Es gibt kaum Aufzeichnungen über die Geschichte der schwarzen Kultur in Aberdeen", sagt Eliza Grace Martin von Luaka Bop. 'Der Historiker im Stadtarchiv hatte noch nie etwas von den Staples Jr. Singers gehört. Die schwarzen Communitys, in denen Annie, R. C. und Edward bekannt waren, wurden von der weißen Gemeinschaft nicht anerkannt.'" In New York gab die Band vor kurzem ein Straßenkonzert:



Besprochen werden außerdem Natalie Beridzes neues Album "Of Which One Knows" (taz) und das neue Album von Working Men's Club (Standard).
Archiv: Musik