Efeu - Die Kulturrundschau

Archiv der Zukunft

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.03.2022. Es sind vor allem Menschen aus der Theaterszene in Russland, die gegen Putin protestieren und dafür den Verlust ihrer Posten in Kauf nehmen, weiß die SZ: Aber ihnen steht ein Lager schweigender KollegInnen gegenüber. Dass im Westen immer mehr Russen von ihren Stellen entbunden werden, hält die FAZ indes für ein "symbolpolitisches Feuerwerk". Jeder zweite Russe hat Putin nicht gewählt, meint auch Artechock und erinnert an dissidente Filme. Außerdem: Auf Monopol erklärt Till Fellrath, wie er gemeinsam mit Sam Bardaouil den Hamburger Bahnhof in die Zukunft führen will. SZ und taz sind gespannt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.03.2022 finden Sie hier

Bühne

Es scheint vor allem die Theaterszene zu sein, die in Russland aktuell gegen Putin protestiert. Gestern berichtete die taz, dass fünf TheaterleiterInnen staatlicher Häuser in Russland aus Protest gegen Putin zurücktraten (Unser Resümee). Die Zeitschrift Teatr veröffentlicht auf ihrer Homepage eine Chronik der Ereignisse und berichtet von 7586 Verhaftungen von Antikriegs-Demonstranten seit dem 24. Februar in Russland, schreibt Egbert Tholl in der SZ. Teatr ruft in einem Artikel auch zur Unterzeichnung einer Petition gegen den Krieg auf und veröffentlichte einen offenen Brief von Theaterschaffenden: "Einige der Unterzeichner sind als sogenannte Gesichter des Vertrauens von Putin bekannt - das bedeutet, dass sie in Russland renommierte Künstler sind, die sich mitunter mit Anliegen direkt an ihn wenden können. Der Sprecher der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, bezeichnet die Unterzeichner in der Presse als 'Verräter' und schlägt vor, ihnen das Geld zu verweigern, das sie aus dem Staatshaushalt erhalten. (…) Dazu muss man wissen: Die großen Staatstheater unterstehen sowohl der Kontrolle des Kulturministeriums als auch des Moskauer Kulturdezernats. Ihre Leiter haben nicht das Recht, offen zu sprechen, da ihnen sonst der Verlust ihrer Posten, Fördergelder und sogar ihrer Freiheit droht."

Auch in der russischen Ballettszene wird protestiert, berichtet Dorion Weickmann ebenfalls in der SZ. Aber: "Ihnen steht ein Lager schweigender Kollegen und Kolleginnen gegenüber, die entweder abgetaucht sind oder durch Likes unter Anna Netrebkos Posts deutlich machen, auf welcher Seite sie stehen. So verhält es sich mit der Grande Dame des Bolschoi-Balletts, Svetlana Zakharova, die auch schon in der Duma saß und insofern fraglos zu Putins getreuesten Anhängerinnen gezählt werden darf. Auch Sergei Polunin, der mehrfach auf der Bühne des Münchner Nationaltheaters stand und ein Putin-Tattoo auf der Brust trägt, hat bislang keinen Ton von sich gegeben. Vermutlich bleibt es dabei, auch wenn im Westen die Zahl derer, die laut und vernehmlich gegen Putins Militäroperation protestieren, stündlich steigt."

Über den Dirigenten Waleri Gergiev wurde die letzten Tage viel gestritten, wie sieht es mit Anna Netrebko aus? Die Sängerin hatte sich in einem sehr vorsichtigen, von einer allgemeinen Distanzierung von Politik gerahmten Statement positioniert - war allerdings auch nicht derart in Putins Kulturpolitik verstrickt wie Gergiev. Dennoch hagelt es jetzt Absagen. Ihre "mutmaßliche Abhängigkeit ist im Gegensatz zu jener Gergievs keine strukturelle - sie scheint eher eine emotionale zu sein", schreibt Ljubiša Tošic im Standard. "Der Wunsch eines Weltstars, von Politik verschont zu bleiben, darf getrost hinzugedacht werden. Angesichts der Invasion ist selbiger natürlich nicht mehr zu erfüllen; Netrebko scheint denn auch gerade mit Konflikten beschäftigt zu sein. Sie, die Wladimir Putin in Wahlkämpfen unterstützt hat, zeigte sich zwar entsetzt." Ihr "Statement auf Instagram wurde allerdings schnell wieder gelöscht, und die Sängerin sagte alle Auftritte der nächsten Monate ab." In Berlin hat Netrebko einen Auftritt an der Staatsoper abgesagt, weil sie sich nicht von Russlands Krieg in der Ukraine distanzieren wollte, meldet der Tagesspiegel. Gefordert hatte das Matthias Schulz, Intendant der Staatsoper Unter den Linden. Ob ihm die Distanzierung von Putin auch schon vor dessen Einfall in die Ukraine wichtig war?

Dmitry Bertman, Intendant der Moskauer Helikon-Oper, sollte an der Deutschen Oper am Rhein Umberto Giordanos Revolutionsoper "Andrea Chénier" inszenieren. "Das darf er nun nicht, die Entscheidung richte sich nicht gegen Bertman persönlich, sei aber angesichts des kriegerischen Konflikts unumgänglich, lässt sich die Oper vernehmen", berichtet Thomas Thiel in der FAZ: "Tatsächlich? Putins Atomwaffen verurteilen die westlichen Staaten faktisch zu einer Zuschauerrolle. Diese Ohnmacht und vielleicht auch Versäumnisse der Vergangenheit durch ein symbolpolitisches Feuerwerk zu kompensieren, während zugleich Ukrainer von richtigen Waffen getötet werden, hat etwas Unangemessenes; es verlangt anderen eine Risikobereitschaft ab, die man sich selbst erspart."

Außerdem: Alles richtig gemacht, meint Nachtkritiker Martin Krumbholz, der sich gern von Regisseur Bonn Park und Komponist Ben Roessler im Düsseldorfer Schauspielhaus in der Weltraumoper "Zurück zu den Sternen" für einen Augenblick aus der Welt beamen lässt.
Archiv: Bühne

Film

Auf Artechock beschuldigt Rüdiger Suchsland die European Film Academy, aber auch das Filmfestival von Cannes, in ihrer Entrüstung über den russischen Angriffskrieg übers Ziel hinaus zu schießen und mit ihren jeweiligen kulturpolitischen Entscheidungen Russen per se unter Generalverdacht zu stellen. "Jeder zweite Russe hat Putin nicht gewählt. Kaum einer der russischen Filme, die ich in den letzten Jahren auf internationalen Festivals zu sehen bekam, hat irgendetwas mit dieser Regierung gemein. Es sind dissidente Filme. Filme, die von indirekter Regimekritik nur so strotzen und manchmal den direkten Angriff nicht scheuen. ... Der ukrainische Regisseur Sergeij Loznitsa, der einen Film über stalinistische Schauprozesse gemacht hat, hat jetzt großartige Zivilcourage gezeigt: Gegen den vollidiotischen Schritt der sogenannten Europäischen Filmakademie, pauschal keine russischen Filme bei den Europäischen Filmpreisen zuzulassen, reagiert er mit dem Austritt aus der Akademie."

Außerdem: Auf Artechock spricht Michael Kranz über seinen Dokumentarfilm "Was tun", der von Zwangsprostitution in Bangladesch handelt. Für die FR überprüft Harry Nutt das Ukraine-Bild im Thrillerklassiker "The Italian Job". Im Tagesspiegel empfiehlt Fabian Tietke dem Berliner Publikum eine Filmreihe im Kino Arsenal, die sich mit Pasolinis Nachwirken im italienischen Kino beschäftigt. Anlässlich der Wiederaufführung von Francis Ford Coppolas "Der Pate" widmet sich Petra Reski auf ZeitOnline der Geschichte des Mafiafilms. Jürgen Kaube (FAZ) und Rolf Giesen (Welt) erinnern an F.W. Murnaus stilbildenden Horrorfilm "Nosferatu", der heute vor 100 Jahren erstmals in Berlin gezeigt wurde. Giesen hat außerdem im Dlf Kultur über den Film gesprochen.

Besprochen werden Paul Schraders "The Card Counter" (Welt, Standard, Zeit, Artechock, unsere Kritik), Matt Reeves' "The Batman" (Artechock, unsere Kritik), Claire Denis' Kannibalinnenfilm "Trouble Every Day", der nach 20 Jahren in die deutschen Kinos kommt (SZ, Artechock), Jeff Tudors, Steven De Beuls und Ben Tesseurs Tanzfilm "Coppélia" (FAZ), Gülseren Sengezers "Dem Leben entgegen" (Artechock) und Joe Wrights "Cyrano" mit Peter Dinklage (SZ).
Archiv: Film

Literatur

Im Gespräch mit Dlf Kultur erzählt der ukrainische Schriftsteller Jurij Andruchowytsch, dass er zur Not bis zum Äußersten gehen würde: Auch mit über 60 würde er in den Partisanenkrieg ziehen. "Wir haben keine andere Wahl, außer zu kämpfen und zu gewinnen. ... Wir haben 50 Kilometer südlich von hier die Karpaten. Da gab es bis in die Fünfzigerjahre Partisanen, die gegen die Sowjetmacht kämpften. Aber ich habe die Hoffnung, dass die russische Armee gar nicht viel näher kommt."

Weitere Artikel: Für die SZ schlendert Moritz Baumstieger mit Wolf Haas, der mit "Müll" gerade seinen neunten Brenner-Krimi veröffentlicht hat, über den Werstoffhof in Wien-Heiligenstadt. Dlf Kultur hat mit dem Schriftsteller gesprochen. Roman Bucheli schreibt in der NZZ zum Tod des Romanisten Harald Weinrich.

Besprochen werden Igorts Comic "Berichte aus der Ukraine" (FR), Orhan Pamuks "Die Nächte der Pest" (Standard), Navid Kermanis Jugendbuch "Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen" (Tsp), Laetitia Colombanis "Das Mädchen mit dem Drachen" (FR), Martin Mittelmeiers "Freiheit und Finsternis" über die Entstehung von Adornos und Horkheimers "Dialektik der Aufklärung" (taz), Patrick Leigh Fermors Reisebuch "Eine Zeit der Stille" (ZeitOnline) und (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Bild: Peter Keene, In Search of Daphne, The Oramics Machine Revisited, A Work in Continual Progress 2015-2018, © Peter Keene

Die Schau "Electro. Von Kraftwerk bis Techno" im Düsseldorfer Kunstpalast hat tazler Lars Fleischmann nicht überzeugt. Nicht nur kommen darin kaum Frauen vor - die es in der elektronischen Musik auch im Pionierzeitalter gab, "man muss nur am Kanon vorbeischauen und nach ihnen gegebenenfalls suchen", etwa in einer Arte-Doku zum Thema -, sondern sie kapriziert sich mit Kraftwerk auch allzu sehr auf Düsseldorf als Keimzelle der elektronischen Musik. "Statt Universalismus beschränkt man sich auf die provinzielle historische Bestandswahrung: Wir hier am Rhein haben unseren Anteil am Erfolg von elektronischer Musik. Und ja, dies sei Düsseldorf sicher unbenommen, der Ausstellung tut dies derweil keinen Gefallen. Sie fällt nach einiger Zeit fast in sich zusammen. ... Ein wohlsortierter Blick in die unmittelbare Gegenwart wäre viel ertragreicher gewesen."

Außerdem: VAN sammelt Stimmen junger ukrainischer Musikerinnen und Musiker, die im Youth Symphony Orchestra of Ukraine spielen. Jan Feddersen porträtiert in der taz die ukrainische Sängerin Susana Camaladinova, der die Flucht aus der Ukraine gelungen ist und die nun beim deutschen ARD-Vorentscheid für den European Song Contest auftreten wird. In der FR spricht Johannes Brecht von seinem Weg von der klassischen zur Club-Musik.

Besprochen werden ein Konzert von Igor Levit (Tsp), Nilüfer Yanyas "Painless" (Pitchfork), ein Ambient-Album der sonst im Death Metal umtriebigen Band Blood Incantation (Pitchfork) und das Comebackalbum "Multitude" von Stromae (es "ist sehr, sehr gut", schwärmt Johanna Adorján in der SZ).

Archiv: Musik

Kunst

In der SZ spürt Peter Richter die Aufbruchsstimmung am Hamburger Bahnhof mit dem neuen Leiter-Duo Sam Bardaouil und Till Fellrath, die sich und ihre Pläne diese Woche den Berlinern vorstellten. Auch an der hochtrabenden Sprache hat er seine helle Freude: "Dass das Haus in den nächsten Jahren erst einmal grundlegend saniert werden muss, wirkte wie eine Nebensächlichkeit gegen die Ankündigung, den 'Bahnhof als Metapher' zu aktivieren. Und in dem Haus zukünftig seine eigene Geschichte, seine Architektur und seine Lage zu thematisieren. Und die 'Diversity', die sich aus dieser 'Locality' ergebe. Denn mit all dem Englisch verhält sich das ja nicht anders: 'Mirroring Berlin' steht für die Spiegelung eines Standorts, an dem Deutsch nur eine Sprache unter vielen ist, 'Addressing Nowness' meint Aufnahme aktueller Debatten. Und 'Portraying Artistic Evolution' ist das, was mal Kunstgeschichte genannt wurde, nur jetziger. Auch keine Rede mehr davon, dass die Rieck-Hallen als Ausstellungsfläche bis eben noch abrissbedroht waren."

Außerdem soll die Berlin-Biennale in den Rieckhallen stattfinden, ergänzt Hans-Jürgen Hafner in der taz. Aber: "Nach wie vor ist die Zukunft des Hamburger Bahnhofs unsicher. Eigentümer von Grundstück und Gebäuden ist nicht die SPK, sondern die österreichische CA Immo. Ein zwischen dem Konzern und dem Land Berlin ausgehandeltes 'Memorandum of Understanding' hat im Herbst 2021 zwar den drohenden Abriss der Rieckhallen verhindert. Doch endet der verlängerte Mietvertrag Ende 2022, heißt es aus der SPK. Der avisierte Grundstückstausch, der den Standort dauerhaft sichern würde, steht noch aus."

Im Monopol-Gespräch mit Elke Buhr konkretisiert Till Fellrath, was es mit dem "Museum als Archiv der Zukunft" auf sich hat: "Wir sind überzeugt, dass es die Aufgabe des Hamburger Bahnhofs und der Nationalgalerie ist, vielleicht rückwirkend seit der Wiedervereinigung oder seit der Jahrtausendwende, die Kunst in Berlin zu dokumentieren, so dass man sich hier eines Tages einen Überblick darüber verschaffen kann. In dem Zusammenhang werden wir auch bei der Präsentation der Sammlung stärker auf Berlin achten - was nicht zwingend heißt, dass es Berliner Künstlerinnen und Künstler sein müssen, aber einen Bezug sollte es geben. Außerdem wollen wir sehr stark auf zeitgenössische Kunstpraktiken achten und zeigen, wie sich die Kunst entwickelt."

Außerdem: 25 Werke der ukrainischen Volkskünstlerin Marija Prymatschenko wurden am Montag beim Angriff auf das Museum in Iwankiw zerstört, meldet Catrin Lorch in der SZ.

Besprochen wird die Ausstellung "Still Life" mit Werken von Siggi Hofer in der Wiener Secession (Standard).
Archiv: Kunst

Architektur

In der SZ schaut Laura Weissmüller auf die beeindruckend lange Liste von Architekturbüros, die aktuell ihre Projekte in Russland auf Eis legen. David Chipperfield Architects und Zaha Hadid Architects sind darunter, ebenso OMA, MVRDV oder gmp aus Hamburg. "Erstere erklären in einem Statement: "Angesichts der Invasion in der Ukraine und mit dem vollen Verständnis und der Unterstützung unserer Kunden hat David Chipperfield Architects beschlossen, alle Arbeiten in Russland einzustellen. Wir verurteilen die Handlungen Putins und der russischen Regierung und stehen in Solidarität mit der Ukraine und ihrem Volk."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Chipperfield, David, Mvrdv