Efeu - Die Kulturrundschau

Im September flogen die Fetzen

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28.10.2021. Die FAZ besucht eine Ausstellung der Londoner Künstlerin Lynette Yiadom-Boakye im Düsseldorfer K20. Im Gespräch mit der Zeit erklärt Antje Rávik Strubel, warum Westler für sie Züge von Vergewaltigern haben. In der Berliner Zeitung mokiert sich der Schriftsteller Bernhard Schlink über Westler, die staunen, dass die Ostler immer noch nicht so sind wie sie. Die FR empfiehlt wärmstens Gen Iwamas Doku-Porträt des japanischen Fotografen Daido Moriyama. Die SZ erzählt, warum plötzlich so viele österreichische Filmschaffende, die meisten davon Frauen, aus dem Verband "Österreichisches Filminstitut" ausgetreten sind.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.10.2021 finden Sie hier

Kunst

Lynette Yiadom-Boakye: Strip Lit. © Lynette Yiadom-Boakye


Georg Imdahl besucht für die FAZ eine Ausstellung der Londoner Künstlerin Lynette Yiadom-Boakye im Düsseldorfer K20. Ihre erfundenen Porträts nutzen "Gesten und Bildtypen" der europäischen Malerei des 19. Jahrhunderts, "um die westliche Moderne mit ihren People of Color zu paraphrasieren, wenn nicht gar zu überschreiben, wobei sich in den assoziativen Bildtiteln auch die Schriftstellerin zu erkennen gibt, als die Yiadom-Boakye parallel zu ihrem malerischen Werk arbeitet." In den späteren Arbeiten fehlt ihm allerdings ein bisschen der Biss, der ihr frühes Werk auszeichnet: "Schon im frühesten Bild der Ausstellung ergreift sie Besitz von einem Ganzfigurenbildnis von der Hand John Singer Sargents, dem 'Dr. Pozzi at Home' aus dem Jahr 1881, aus dem sie 2003 ein wahrlich düsteres Gegenüber hervorzaubert: Der grimmige Mann mit verstörender Fratze trägt den scharlachroten Morgenmantel geöffnet und blickt herausfordernd aus dem Bild. Jene blitzenden Augen und eine fast hämisch zu nennende Mimik finden sich 2012 in einer sitzenden Figur wieder, deren Pose der skandalös entblößten Frau in Manets 'Frühstück im Grünen' entlehnt ist. ... Unverblümt führt die Malerin die delikaten Finessen der Malerei vor, die ihr mit fortlaufender Dauer ihres Œuvres immer mehr bedeuten."

Weitere Artikel: Till Briegleb erzählt in der SZ von einem kleinen Coup der Kunstfirma MSCHF: Sie haben für 20.000 Dollar eine kleine Skizze von Andy Warhol gekauft, sie 999 mal kopiert und verkaufen jetzt jede für 250 Dollar, ohne zu verraten, welche das Original ist. So macht man aus 20.000 Dollar 250.000! taz-Kritikerin Alessa Mendolia bewundert in der Alten Nationalgalerie die Spiegelungen in den Gemälden von Johann Erdmann Hummel. Paul Jandl besucht für die NZZ das Museum der Romantik in Frankfurt. Werner Block besucht für die NZZ das neue Atatürk-Kulturzentrum in Istanbul.

Besprochen werden die Ausstellung "Amazons of Pop" in der Kunsthalle Kiel (taz) und eine Ausstellung des Fotografen Lee Friedlander im c/o Berlin (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Jana Hensel unterhält sich für die Zeit mit Antje Rávik Strubel, die für ihren Roman "Blaue Frau" gerade mit dem Deutschen Buchpreis geehrt wurde (unser Resümee). Es geht um sexualisierte Gewalt, den übergangenen Osten und die Perspektive Westdeutscher auf ihren Roman, die es mitunter für überzeichnet halten, wenn in ihrem Roman ein Kulturpolitiker aus dem Westen zum Vergewaltiger wird. "Mir scheint, darin zeigt sich eher ein gewisser Widerwille, sich den eigenen unangenehmen Seiten zu widmen. Wenn ich vor einem ostdeutschen Publikum aus 'Blaue Frau' lese, bekomme ich andere Reaktionen. Dort kennt man solche Figuren gut, in denen sich Elemente von mansplaining und westplaining überschneiden. Für jemanden, der die dunklen Seiten westdeutschen Gebarens im Osten nie erlebt hat, mag das wie Satire klingen oder zumindest überzeichnet. ... Ich dimme das Szenario erzählerisch noch herunter. Die Ausschweifungen, Kommentare, die Sprüche, die dort geklopft werden, sind in Wirklichkeit oft drastischer, als Literatur sie hinterher beschreiben kann."

In der Berliner Zeitung spricht der Schriftsteller Bernhard Schlink anlässlich seines neuen Romans "Die Enkelin" unter anderem über den noch nicht abgeschlossenen Prozess der Wiedervereinigung: "Der Westen, auch die meisten Westdeutschen, die ich kenne, hatten die Erwartung: Jetzt sind die Jahre der Diktatur vorbei, die Ostdeutschen schütteln sie ab, wie der Hund nach dem Bad das Wasser abschüttelt, und sind dann wie wir. Und seit Jahren ist da das Erstaunen: Das sind sie ja gar nicht. Oder sogar die Empörung: Wie unterstehen die sich, nicht so zu sein wie wir?"

Für die Zeit führen Moritz Aisslinger und Malte Henk ein episches Gespräch mit der Schriftstellerin Inge Jens. Mit ihrem Mann, Walter Jens, ist sie auch zur Gruppe 47 gefahren (zu zweit auf einem zuvor angeschafften Motorroller). Eine Erinnerung an den Muff der damaligen Jahre: "Die Frauen schwiegen in der Kirche. Es war ganz merkwürdig. War man nur das weibliche Anhängsel, hatte man den Mund zu halten. ... Nur wenn Sie selbst Schriftstellerin waren, durften Sie mitreden. Aber auch Ingeborg Bachmann hat selten etwas gesagt. Ilse Aichinger so gut wie nie" und "im Nachhinein finde ich es blöde. Ich meine, wie kamen die darauf, die Frauen schweigen zu lassen? Einige der Frauen wie Inge und Ilse waren berühmter als die Männer. Warum sollten die den Mund halten?"

Weitere Artikel: Julia Hubernagel berichtet in der taz von einem Berliner Abend zur taiwanesischen Literatur. Jörg Häntzschel schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Dichter und Universalkünstler Hartmut Geerken.

Besprochen werden Patricia Highsmiths Tage- und Notizbücher (NZZ), Nataša Krambergers "Verfluchte Misteln" (Dlf Kultur), Walter Boehlichs Briefe "Ich habe meine Skepsis" (Dlf Kultur), Jamaica Kincaids "Nur eine kleine Insel" (ZeitOnline), Harald Haarmanns "Die seltsamsten Sprachen der Welt" (taz), Sebastian Fitzeks Thriller "Playlist" (SZ), PeterLichts Roman "Ja okay, aber" (nachtkritik) und Emine Sevgi Özdamars Roman "Ein von Schatten begrenzter Raum"  (nachtkritik).
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Bühne

Michael Stallknecht blättert für die SZ durch den jüngsten Band der kritischen Gesamtausgabe von Richard Strauss' Werken und findet dort die Retouchen zur "Salome". In der Zeit nimmt Stallknecht  Kirill Serebrennikows Inszenierung von Schostakowitschs "Die Nase" zum Anlass, die Veränderungen an der Bayerischen Staatsoper unter ihrem neuen Intendanten Serge Dorny und dem neuem Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski zu beschreiben. Jonas Zipf unterhält sich für die nachtkritik mit Fritz Burschel und Dietrich Kuhlbrodt über "Forensic Architecture" und die juristische, politische und gesellschaftliche Wirksamkeit von Kunst. Gina Thomas berichtet in der FAZ vom Opernfestival Wexford in Irland.

Besprochen werden "Die Zaubermelodika" von Iiro Rantala an der Komischen Oper Berlin (nmz) und Kirill Serebrennikows Inszenierung von Schostakowitschs "Die Nase" an der Bayerischen Staatsoper (NZZ).
Archiv: Bühne

Film

Befreier der Fotografie vom Rang eines Dylan: Daido Moriyama

Für Freunde der Fotografie ist "Daido Moriyama", Gen Iwamas Doku-Porträt des japanischen Fotografen, ein echtes Geschenk, freut sich Daniel Kothenschulte in der FR: "Wie der heute 83-Jährige sein Medium befreit hat vom falschen Glanz technischer und formaler Routinen, das lässt sich nur vergleichen mit Bob Dylans Beitrag zum US-Song und Jean-Luc Godards Erneuerung des Kinos. ... Strukturiert ist der Film mit Stummfilm-Zwischentiteln, die ein bisschen klingen als hätte Peter Handke sie mit kindlicher Weisheit für Wim Wenders geschrieben: 'Was könnte Fotografie sein?/ Er grübelte und grübelte/ Bis er eines Tages nicht mehr fähig war, Fotos zu machen.' Man muss sich einlassen auf diese vermeintliche Naivität. Moriyama beantwortet sie mit einer Intimität, die man selten bei Fotografen erlebt." Im Tagesspiegel bespricht Gunda Bartels den Film.

Cathrin Kahlweit berichtet in der SZ über den aktuellen Streit in der österreichischen Filmbranche: Zahlreiche Filmschaffende, die meisten davon Frauen, sind nach einer strittig zustande gekommenen Personalie aus dem "Verband Filmregie" ausgetreten. Doch "geht der Streit viel tiefer, und er schwelt seit Jahren. Bereits im März 2020 hatten einige Verbandsmitglieder im Filmmagazin Ray darüber berichtet, dass das Österreichische Filminstitut eine Richtlinienänderung vorgelegt habe, mit der eine 'gendergerechte Aufteilung des Budgets an Männer und Frauen über die Zuteilung auf die drei Key Departments Regie, Drehbuch, Produktion in den kommenden drei Jahren erreicht werden' solle. ...  Der Dissens darüber, wie Mittelvergabe und Quotierung in Einklang zu bringen seien und wie sich der Verband hätte positionieren müssen, blieb aber in der Interessenvertretung weiter bestehen; bei einer Generalversammlung im September flogen die Fetzen. Nun zogen zahlreiche Künstlerinnen und einige Künstler die Konsequenz."

Weitere Artikel: Anya Stanley präsentiert in Slashfilm neueste Ermittlerrecherchen zum Tod der Kamerafrau Halyna Hutchins: Die Hinweise verdichten sich, dass ein saumseliger Regieassistent für den tragischen Unfall verantwortlich ist. Thomas Abeltshauser plaudert für die taz mit Kervern & Benoît Delépine über deren neue (im Tagesspiegel besprochene) Groteske "Online für Anfänger".  Michael Steiner spricht in der NZZ über seinen Film "Und morgen seid ihr tot" über einen realen Entführungsfall. Dominik Kamalzadeh spricht im Standard mit dem Schauspieler Matt Dillon, der auf der Viennale seinen neuen Film präsentiert. Schweizer Filme werden auf Netflix kaum gesehen, muss Pascal Blum vom Tages-Anzeiger bekümmert feststellen. In der Zeit spricht Katja Nicodemus mit Kate Winslet, die in ihrem neuen Film "Ammonite" die Archäologin Mary Anning spielt.

Besprochen werden Sönke Wortmanns Anti-Rassismus-Komödie "Contra" (Standard, Tagesspiegel, FR, SZ), York-Fabian Raabes Debütfilm "Borga" (taz), Anders Thomas Jensens "Helden der Wahrscheinlichkeit" mit Mads Mikkelsen (Standard, unsere Kritik) und die Serie "Dopesick" mit Michael Keaton (FAZ).
Archiv: Film

Musik

Die Klassik ist gefangen zwischen Sinnenfreunde und Verzicht, sagt Anna Prohaska im VAN-Gespräch: Auch eine Yuja Wang werde "immer noch kritisiert, die natürlich unglaublich viele Fans hat - und vielleicht einige nicht nur durch ihr Klavierspiel sondern auch ihre Beine und ihr Dekolleté -, aber auch einfach eine geniale Pianistin ist, eine supernette Frau, total intelligent und einfach extrem selbstbewusst. Ich glaube, das spricht meist aus den Mündern von Menschen, die sich dadurch bedroht fühlen: Stutenbissigkeit bei Frauen, oder Männer, die es eigentlich geil finden, das aber nicht zugeben wollen. Es gibt eine ganze Menge Puritanismus und Verklemmtheit in der klassischen Musikindustrie. ... Die Kulturszene ist im Allgemeinen ein bisschen gefangen zwischen #metoo, einem gewissen Neopuritanismus und einer extremen Pornografisierung in der Film- und Werbeindustrie."

Im Gespräch mit nmz-Kritikerin Verena Trottmann erklärt Walter Werzowa, was es mit seinem Projekt "Beethoven X - The AI Project" auf sich hat. Werzowa hat dafür mit Künstlicher Intelligenz gearbeitet, die er mit Motiven, Notizen und Beethovens Zehnter gefüttert hat: "Es war lustig, was dabei herauskam. Da haben einige Dinge ein bisschen nach Beethoven geklungen, einiges nach Coldplay, nach Schostakowitsch oder Prokofieff. Und da war es klar, dass die KI ein wahnsinnig toller Student ist, der sich alles merkt. Sie kann die Kunst der Fuge in einer halben Stunde studieren und verinnerlichen. Aber das kann natürlich verwirren. Bald wurden dann Fragen gestellt: Die KI hat ja nie Liebeskummer gehabt, war nie betrunken und hat nie an Topferl auf jemanden runtergschüttet oder sich Eis über den Kopf geleert. Alles Dinge, die wir von Beethoven wissen. Im Laufe der Zeit, als ich das Material bekommen und analysiert habe, ist mir bewusst geworden, dass das alles unseren Genius, den Beethoven ausgemacht hat. Die KI analysiert so genau und ohne Subjektivität, dass das wirklich eine absolute, hundertprozentige Essenz von Beethoven ist. Für mich war es klar: Kreativität ist Auswahl. Es ist sicher, dass Beethoven hunderte, wenn nicht gar tausende Einfälle gehabt hat. Was ihn ausgemacht hat ist, dass er die richtigen gewählt hat. Die KI hat jetzt quasi das Gleiche gemacht..."

Außerdem: In VAN legt uns Alexander Gurdon die Auseinandersetzung mit dem in Vergessenheit zu geraten drohenden Oskar Fried ans Herz, über den er Ende des Jahres zufälligerweise auch eine Biografie veröffentlichen wird. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker diesmal Unsuk Chin.

Archiv: Musik