Efeu - Die Kulturrundschau

Die Welt verändern? Heute nicht das Thema

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28.09.2021. Die FR geht mit Domenico Cimarosas "L'Italiana in Londra" in die hohe Schule der Komik. Der Standard lässt es mit Rebecca Horn im Kunstforum Wien krachen. Die taz entdeckt im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe die moderate DDR-Moderne. Die NZZ vermisst im deutschprachigen ein Bewusstsein für die Comicgeschichte. In der SZ denkt der Architekt Manuel Herz darüber nach, wie man an Babyn Jar erinnern kann. Außerdem fragt sich Maxim Biller in der SZ, warum im deutschen Fernsehen Demokratie immer so langweilig klingen muss.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.09.2021 finden Sie hier

Architektur

Die Synagoge von Manuel Herz in Babyn Jar. Foto: Manuel Herz Architects


Eigentlich sollte in der Schlucht von Babyn Jar ein Museum an die Ermordung von dreißigtausend Jüdinnen und Juden vor achtzig Jahren am 29. und 30. Septemer 1941 erinnern, doch statt eines zentralen Memorial Centers soll nun eine ganze Reihe von Erinnerungsstationen errichtet werden. Im SZ-Interview findet der Basler Architekt Manuel Herz die Entscheidung ganz richtig, er selbst baut eine Synagoge, die nur zwanzig Zentimeter in den Boden hineinragt, um sich dem Ort nicht aufzuzwingen: "Die Geschichte ist komplex. Es gibt das Massaker von 29. und 30. September 1941. Es gibt die Morde an 100.000 Menschen in den Wochen und Monaten danach. Es gibt aber auch das Negieren des Massakers zur Sowjetzeit und auch das Auslöschen der physischen Zeugnisse. Und es gibt die Wahrheit des Ortes: Wir sind dort auf der Erde, auf der sich die Morde abgespielt haben. Wenn man gräbt, dann findet man Knochen. Andererseits ist das Areal so stark umgewühlt worden, dass man nicht weiß, ob die Menschen wirklich dort erschossen worden sind oder hundert Meter weiter rechts oder weiter links. Das braucht eine viel komplexere Erzählweise, als das ein einziges Gebäude leisten kann. Dieses zaghafte, sozusagen gestreute Erinnern wird dem viel gerechter."
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Literatur

Nur zögerlich entsteht im deutschsprachigen Raum ein Bewusstsein für Comicgeschichte, stellt Christian Gasser in der NZZ anlässlich der jüngsten Neuauflagen einiger Klassiker von Jean "Moebius" Giraud, Hugo Pratt, Gilbert Shelton und Baru fest. Doch die Zahl der Desiderata ist nach wie vor groß, und es wird "klar, wie viel noch zu tun bleibt. Im französischen Sprachraum sind Klassiker stets erhältlich, zudem handelt es sich bei über zwanzig Prozent des jährlichen Angebots um Wiederveröffentlichungen, das sind über tausend Bücher. ... Im deutschen Sprachraum hingegen ist der Comic immer noch auf der Suche nach seiner Geschichte." Und "auch das Fehlen von Archiven und Sammlungen frustriert nicht nur das Publikum", sondern auch Autoren und Zeichner.

Die SZ bringt Notizen von Schriftstellern vom Wahlabend. Maxim Biller etwa spricht vom Genuss vollendeter Langeweile: Im Fernsehen "sagten Politiker und Journalisten immer wieder Sachen, die so schön langweilig nach Demokratie klangen. Wer mit wem, wer nicht mit wem, wer warum etwas nicht geschafft hat, wer wieso etwas fast geschafft hätte und wer praktisch gewonnen hat - das war genau das, was wir von Deutschen immer am liebsten hörten. Die Welt verändern? Heute nicht das Thema. Die Welt erobern? Auch nicht. Zusammen mit der ganzen Welt untergehen? Nicht mal im Traum! Dass die linken Salonkommunisten fast aus dem Bundestag rausgeflogen wären und auf dem riesigen Flat-Bildschirm immer so traurig guckten wie Margot Honecker auf dem Weg ins chilenische Exil, fand ich so komisch, dass es beinah traurig war. Und Anna konnte gar nicht mehr aufhören über das Gestammel der AfD-Übermutter Alice Weidel bei der Berliner Runde zu lachen."

Für die NZZ wirft Sonja Margolina einen Blick in russische Plumpsklos, wie sie sich ihr in der russischen Literatur- und Kunstgeschichte darbieten, denn "nicht nur der 'bürgerliche' Schriftsteller Michaeil Bulgakow, sondern eine ganze Plejade herausragender 'proletarischer' Autoren (wie Sergej Jessenin im Poem 'Das Land des Gesindels') ließ sich inspirieren vom sozialistischen Alltag zwischen dem Fehlen und dem unbeschreiblichen Zustand öffentlicher Aborte."

Weitere Artikel: In Interviews mit SZ und Welt spricht der Künstler und Schriftsteller Edmund de Waal über seinen neuen Roman "Camondo", in dem er die Geschichte der jüdischen Familie erzählt, die einst im Pariser Musée Nissim de Camondo gelebt hat und in Auschwitz ermordet wurde. Lars von Törne spricht für den Tagesspiegel mit Sascha Hommer, dem Mitveranstalter des Comicfestivals Hamburg. Für die "Nichts Neues"-Reihe der SZ holt Johanna Adorján Ödön von Horváths "Der ewige Spießer" wieder aus dem Regal hervor.

Besprochen werden unter anderem Abi Darés Debüt "Das Mädchen mit der lauternen Stimme" (SZ), Colm Tóibíns "Der Zauberer" über Thomas Mann (Guardian), Aleksandar Hemons "Meine Eltern / Alles nicht dein Eigen" (Dlf Kultur), ZO-Os Die Ecke"Was es zum Glück braucht" (Dlf Kultur), Lorenz Jägers Heidegger-Biografie (NZZ), Alexander Wolffs "Das Land meiner Väter" über seinen Großvater Kurt Wolff (Tagesspiegel), Walter Boehlichs "Ich habe meine Skepsis, meine Kenntnisse und mein Gewissen" mit Briefen von 1944 bis 2000 (Tagesspiegel) und ein Buch mit Barbara Honigmanns Preisreden (FAZ).
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Bühne

Cimarosas "Italienerin in London: Foto: Monika Rittershaus / Oper Frankfurt

Hingerissen ist
Judith von Sternburg in der FR von Domenico Cimarosas "L'Italiana in Londra", die R.B. Schlather an der Oper Frankfurt herrlich albern und flirrend von Lebendigkeit inszeniert hat: "Aus Sicht der Italiener ist der Italiener die entspannteste und irgendwo sogar vernünftigste Figur, Don Polidoro aus Neapel, Gordon Bintner, der zwar schon häufiger sein komisches Talent zeigen konnte, aber noch nie so sehr wie hier. Als sympathische Karikatur des Machos und Trottels singt er gleichwohl mit kraftvoll kultiviertem Bassbariton, ein ganzer Kerl, und musikalisch ist es eben kein Witz, sich lächerlich zu machen, sondern die hohe Schule. Außerdem tanzt er und schwingt das Becken, guckt und staunt und hofft und zagt und ist so peinlich, dass man ganz hingerissen ist." Auch in der FAZ bekennt Wolfgang Fuhrmann, selten in einer Oper so gelacht zu haben: "Über die in den Obertiteln flapsig, aber texttreu übersetzten Scherze des Librettisten Giuseppe Petrosellini ebenso wie über die komischen Aktionen der Darsteller, deren körperlicher Einsatz an einen der Ursprünge des Werks erinnerte: an die Commedia dell'arte - und nicht zuletzt über den witzigen Drive der Musik. "

Mit Jubel quittiert Egbert Tholl in der SZ auch Judith Herzbergs jüdische Familientrilogie "Die Träume der Abwesenden", die Stephan Kimmig am Münchner Residenztheater inszeniert hat, ein Tableau jüdischen Lebens und Überlebens, meint Tholl, aber auch ein großes Epos über das Leben überhaupt: "Es gibt hier so viele Geschichten und ihre Verkörperung, man kann sie nicht ansatzweise wiedergeben. Da sind die anrührende Carolin Conrad und der vollkommen furchtlose Robert Dölle, da ist Hanna Scheibe. Sie spielt Riet. Grandios. Mit naivem Wundern tritt sie von einem Fettnäpfchen ins andere, ein Beispiel: Ein Stück über Juden, nur mit Juden, das gehe doch nicht, weil wenn alle Juden sind, dürfe doch nicht einer schlechte Eigenschaften haben. Doch, dürfen sie. Das ist das Leben. Und man muss Herzbergs Stücke in Deutschland wieder und wieder spielen. Sie sind eine holländische Geschichte. Und deutsche Vergangenheit, Gegenwart."

Besprochen werden außerdem Simon Stones Stück "Komplizen" im Wiener Burgtheater (von dessen Erklärwut sich Margarete Affenzeller im Standard etwas erschlagen fühlt) Florentina Holzingers grelle Produktion "Göttlicher Komödie" an der Berliner Volksbühne ( die Welt-Kritiker Manuel Brug zwischen Provokationsmurx und flauer Flatulenz einordnet), René Polleschs "J'accuse" am Hamburger Schauspielhau (FAZ) sowie David Dawsons Ballettproduktionen "Voices" und "Citizen Nowhere" mit dem Staatsballett Berlin ("Edelkitsch", winkt  Sandra Luzina im Tsp ab).
Archiv: Bühne

Kunst

Rebecca Horn: Concert for Anarchy, 1990. Sammlung Tate (London). Foto: Attilio Maranzano © Rebecca Horn

Ordentlich krachen hört es Standard-Kritikerin Amira Ben Saoud in der Retrospektive, die das Kunstforum Wien der deutschen Künstlerin Rebecca Horn ausrichtet: "Wer sich künstlerisch mit zwischenmenschlichen Beziehungen, Liebe, Hass, Gewalt, mit den großen Gegensätzen, mit dem Körper und seinen Grenzen, mit Natur und Mythos beschäftigt, hat auf dem schmalen Grat zwischen Banalität und Sublimität zu wandern. Es ist eine, wenn nicht die Stärke der deutschen Konzeptkünstlerin, universelle Themen auf eine Weise anzusprechen, die nicht plakativ, schulmeisterlich oder - sorry, Beuys - guruhaft esoterisch wirkt. Die cleane und schnörkellose Ästhetik, der sich Horn bedient, mag da helfen, andererseits die 'Distanz durch Technik', die sie mittels ihrer Maschinen schafft. Viele ihrer Arbeiten werden von Motoren betrieben, setzen sich in Bewegung, wenn man sich annähert, und verrichten dann allerhand eigenartige Abläufe. Bekannt ist der Flügel (Concert for Anarchy, 1990), der kürzlich in der 'Beethoven bewegt'-Schau im Kunsthistorischen Museum zu sehen war: Verkehrt von der Decke hängend legt er mit einem plötzlichen Scheppern seine Eingeweide frei und saugt sie dann wieder ein, als wäre nichts gewesen. Slapstick!"

Besprochen werden außerdem eine Schau menschlicher Statuen im Landesmuseum Zürich (NZZ) und eine Ausstellung von Albrecht Fuchs' Künstlerproträts im Dürener Leopold-Hoesch-Museum (FAZ) und die Ausstellung "Spirit Labor" in der Moskauer Garage (FAZ).
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Design

Kännchen von Christa Petroff-Bohne. Bild: Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg


Sehr löblich findet Bettina Maria Brosowsky in der taz die Überblicksausstellung zum Schaffen von Christa Petroff-Bohne - "in ihrer sachlich modernen Grundhaltung" eine Autorität der DDR-Gestaltung - im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg. Mit Petroff-Bohne, einer Vertreterin einer "moderaten Moderne", die ihre Gestaltungslehre selbst "als Zusammenwirken von Hand und Auge bezeichnet", ist "eine wache Designtheoretikerin" zu entdecken, "die schon mal das ikonische, 1924 von Marianne Brandt entworfene Bauhaus-Teekännchen als Kunst bezeichnet - und nicht als gelungene Produktgestaltung."

Besprochen wird weiter die dreibändigen "Swiss Graphic Design Histories" (NZZ).
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Film

Ein Sternenreich, das zerfällt, nadelt und krümelt: "Foundation" (Apple+)

Science-Fiction-Experte Dietmar Dath stürzt sich für die FAZ kopfüber in die von Apple+ vorgelegte Serien-Verfilmung von Isaac Asimovs "Foundation"-Epos, einer der vielleicht wahnwitzigsten Zukunftsentwürfe zumindest der klassischen literarischen Science-Fiction: Die Serie bietet "ein Intellektuellenabenteuer voller Wunder des Wissens: Server als Wolkenkratzer und Biohacking sind zu bestaunen, außerdem ein in der visuellen Science-Fiction neuartiges Raumschiffdesign, angeordnet um eine geometrodynamische Singularität. Mit der technischen Pracht kontrastiert politische Verwahrlosung: Das Sternenreich, das all das hervorgebracht hat, zerfällt, nadelt und krümelt; suspekte Provinzen mit urtümlichen Namen wie 'Anacreon' werden frech."

Weitere Artikel: Thomas Abeltshauer resümiert in der taz das Filmfestival San Sebastián, bei dem neben Alina Grigores "Blue Moon" auch im weiteren hauptsächlich Filme von Frauen ausgezeichnet wurden. Mike Leigh blickt im Guardian auf 50 Jahre Filmemachen zurück. Netflix hat sich die Rechte am gesamten literarischen Werk Roald Dahls gesichert, meldet Gina Thomas in der FAZ nicht ohne sanftes Amüsement darüber, dass der US-Streamer in diesen woken Zeiten einen für seinen Sexismus, Rassismus und Antisemitismus berüchtigten Autor ins Portfolio geholt hat. Pascal Blum freut sich im Tages-Anzeiger über das qualitativ hochwertige Programm beim Zurich Film Festival. Hanns-Georg Rodek lauscht für die Welt in die Stille der U-Boote im Kino hinein. Und das hatten wir übersehen: Am Sonntag unternahm Julia Pühringer im Standard den Versuch, das Phänomen James Bond umspannend in den Blick zu kriegen. Ähnliches unternimmt Stuart Jeffries im Guardian.

Besprochen werden Philipp Stölzls Neuverfilmung der "Schachvolle" (NZZ) und die TVNow-Serie "Die skandalöse Affäre der Christine Keeler" (taz).
Archiv: Film

Musik

Auf ihrem gemeinsamen Album "A Beginner's Mind" unternehmen Sufjan Stevens und Angelo De Augustine eine Reise ins Unterholz des kollektiven Bewusstseins der USA und vertonen dabei allerhand Filme, einige davon auch sehr obskur. "Wir übernehmen ihre Ideen, überarbeiten sie und schaffen neue Kontexte", erklärt Sufjan Stevens im ZeitOnline-Interview. "Es war schon ein ziemlicher Sumpf, in den wir da abgestiegen sind. Die Filme sind fast alle grausam, voller Gewalt und Traumata", doch "das Ziel war immer, den ikonischen Blick auf die Filme zu hinterfragen" und "eigene, befreiende Erzählungen aus ihnen zu schöpfen. ... Die Themen unserer Zeit sind im Horrorfilm angelegt: Rechtsextremismus, Nationalismus, Rassismus, Sexismus, toxische Männlichkeit oder auch der Zusammenbruch von Allianzen, die wir für unumstößlich gehalten haben. All das traumatisiert uns. Und im Prinzip gab es all das auch schon vor 50 Jahren bei George A. Romero und seinen Zombies." In diesem Song begeben sie sich auf den gelben Ziegelsteinweg in die Smaragdstadt von Oz:



Außerdem: In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen erinnert Arno Lücker an Ann Ronell. Besprochen werden ein Schostakowitsch-Abend in der Philharmonia Zürich mit dem Gastdirigenten Krzysztof Urbański (NZZ), ein Auftritt der Rolling Stones ohne ihren kürzlich verstorbenen Drummer Charlie Watts (Tagesspiegel) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter ein Album des Trickster Orchestras von Cymin Samawatie und Ketan Bhatti (SZ).
Archiv: Musik