Efeu - Die Kulturrundschau
Geiger mit Lockenpracht
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07.08.2021. Die FAZ steht staunend vor der Skyline des 80 Meter langen Buntglasfensters, das Sabine Hornig in New Yorks Flughafen LaGuardia eingebaut hat. Und sie entdeckt mit Alice Guy-Blaché einen der frühesten französischen Filmpioniere. In der Literarischen Welt erklärt Jonathan Lethem, warum sich Deutsche und Amerikaner so ähnlich sind. Die nachtkritik beobachtet in Bregenz das Treiben um Carlas Würstelstand in Bernhard Studlars antikapitalistischem Stück "Lohn der Nacht". Bei monopol stellt die Künstlerin Heike Gallmeier ihr Projekt "Outlines" vor, für das sie die deutsche Außengrenze bereist. Die SZ bewundert in Bonn den Einfluss der japanischen Mode auf Avantgarde und Mainstream im Westen.
9punkt - Die Debattenrundschau
vom
07.08.2021
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Film

Die Feuilletons staunen über die französische Filmemacherin Alice Guy-Blaché, die zwischen 1896 und 1920 - damals noch als Alice Guy - über 1000 Filme gedreht hat. Später geriet sie, wie ein Großteil des "Early Cinema", weitgehend in Vergessenheit - mit einer großen DVD-Edition (die Sie zum Beispiel auch in unserem Online-Buchladen Eichendorff21 finden) und Pamela B. Greens filmischem Porträt "Be Natural" kann sie nun wiederentdeckt werden. Wenn die Lumières das Bewegtbild der Wirklichkeit erfunden haben und Méliès den Spezialeffektefilm, dann trug Guy-Blaché "maßgeblich dazu bei, dass das frühe Kino eine Erzählsprache entwickelte", schreibt Bert Rebhandl in einem online nachgereichten FAZ-Artikel. "'Canned Harmony" aus dem Jahr 1912 möge als Exempel für die tatsächlich herausragende Erfindungsgabe und filmische Intelligenz von Alice Guy-Blaché dienen: Ein Musikprofessor will als Schwiegersohn nur einen Geiger mit einer Lockenpracht wie die des zeitgenössischen Stars Ignacy Jan Paderewski akzeptieren. Der Geliebte der Tochter inszeniert daraufhin ein Vorspielen, bei dem auch jene technischen Tricks eine Rolle spielen, mit denen Gaumont seinerzeit experimentierte. Alice Guy-Blaché war also nicht nur 'the first great comic director', wie sie in 'Be Natural' tituliert wird. Sie hatte auch ein reflexives Verständnis ihres Mediums."
Dass von ihren rund 1000 Filmen nur eine kleine Handvoll überliefert sind, liege auch an der lange vorherrschenden Auffassung der Filmgeschichte als Höhenkamm-Phänomen, schreibt Kevin Neuroth im Freitag: "Dass zentrale Figuren wie sie aus der Filmgeschichte gefallen sind, liege auch an falschen Prioritäten von Filminstitutionen, erklärt der Archivar Dino Everett in 'Be Natural'. Statt die Arbeiten von marginalisierten Figuren wie Guy-Blaché zugänglich zu machen, würden eher Klassiker wie 'Metropolis' 'zum zwanzigsten Mal' neu restauriert. Dabei wurde das Werk der frühen Filmpionierinnen erst nachträglich an den Rand gedrängt: Die Modehistorikerin Valerie Steele beschreibt in 'Be Natural', wie das Kino für Frauen im späten 19. Jahrhundert ähnlich wie zuvor die Fotografie neue Freiräume eröffnete. Da Filme zunächst für eine vorübergehende Modeerscheinung gehalten wurden, konnten Frauen ohne größere Widerstände von etablierten Männern kreativ tätig werden."
Weitere Artikel: Jenni Zylka spricht in der taz mit der Filmemacherin Anne Zohra Berrached über deren Dokumentarfilm "Die Welt wird eine andere sein" über eine Freundin eines Attentäters vom 11. September. In Locarno diskutiert man über die Zukunft des Kinos angesichts der Herausforderung durch Streaming, berichtet Andreas Scheiner in der NZZ. Susanne Messmer wirft für die taz einen Blick ins Programm des Jüdischen Filmfestivals Berlin Brandenburg.
Besprochen werden Dominik Grafs "Fabian" (Jungle World, Artechock, unsere Kritik hier), Jasmila Žbanićs "Quo Vadis, Aida" (Freitag, Filmbulletin, Filmdienst, unsere Kritik hier), das Regiedebüt "Abseits des Lebens" der Schauspielern Robin Wright (FAZ), James Gunns Blockbuster "The Suicide Squad" (Presse), Joseph Gordon-Levitts autobiografisch geprägte Serie "Mr. Corman" (ZeitOnline) und die Amazon-Serie "Cruel Summer" (FAZ).
Literatur


Weitere Artikel: Die FAZ hat gleich zwei Lieferungen aus ihrer Dante-Reihe online gestellt: Lisa Regazzoni denkt darüber nach, wie Dante über die Begierde schreibt, und Stephan Schade beugt sich über das kleine italienische Wort "ma" und dessen Gebrauch in der "Commedia". Ulrich van Loyen schreibt im Freitag einen Nachruf auf den Verleger und Essayisten Roberto Calasso (weitere Nachrufe hier).
Besprochen werden unter anderem Julia Stracheys "Heiteres Wetter zur Hochzeit" (Perlentaucher), die derzeit im Museum für Kommunikation Berlin gastierende Wanderausstellung "Vorbilder*innen" über wichtige Zeichnerinnen und Autorinnen der Comicgeschichte (Tagesspiegel), Salman Rushdies "Sprachen der Wahrheit" mit Texten aus den letzten 18 Jahren (NZZ), Heinz Strunks "Es ist immer so schön mit dir" (Standard), Leslie Jamisons Essayband "Es muss schreien, es muss brennen" (Standard), Mirko Bonnés "Seeland Schneeland" (taz), Eloísa Díaz' Kriminalroman "1981" (FR), C Pam Zhangs Debüt "Wie viel von diesen Hügeln ist Gold" (SZ), Katharina Volckmers Debüt "Der Termin" (Welt) und Ayelet Gundar-Goshens "Wo der Wolf lauert" (FAZ).
Architektur

In Tokio wird der Nakagin-Turm abgerissen, berichtet Ulf Meyer in der FAZ. Der Turm ist ein "Höhepunkt der metabolistischen Architektur", erzählt Florian Heilmeyer in Style Park, "einer Architekturströmung, die in den 1960er- und 1970er-Jahren ihre Blüte feierte und davon träumte, Module zu erfinden, aus denen Wohnungen, Häuser, Stadtviertel und schließlich ganze Städte für ein zukunftsgerechtes Leben zusammengebaut werden könnten. Die modulare Bauweise würde es möglich machen, jede einzelne Einheit jederzeit erneuern und austauschen zu können. Die Menschen müssten dann nicht mehr in veralteten Wohnungen leben, sondern könnten ihre Wohnmodule ständig auf dem neuesten Stand halten, im heutigen Sprachgebrauch wäre das immer das neueste Update." Abgerissen wird der Turm, weil das Grundstück teuer neu bebaut werden soll, alle Proteste waren vergebens.
Bühne


Besprochen werden außerdem Beethovens "Fidelio" in der Frühfassung in Rheinsberg (Tsp), "Sex, Drugs & Budd'n'Brooks" von Nesterval und Queereeoké (nachtkritik) und "Die Gespenster des Konsumismus" von LIGNA (nachtkritik) beide beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg, sowie ein immersives Sommerspektakel von Elle Kollektiv am Ammersee (nachtkritik).
Design

Kunst
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Franziska von Oppenheim unterhält sich für monopol mit der Künstlerin Heike Gallmeier, die für ihr Projekt "Outlines" mit einem Transporter die deutsche Außengrenze bereist und unterwegs spontane Installationen aufstellt, die sie auf Instagram dokumentiert. Das Thema hat sich für Gallmeier quasi von selbst ergeben: "Ich bin sehr nahe der deutsch-tschechischen Grenze aufgewachsen, wirklich nur ein paar Meter davon entfernt. Seither hat mich das Thema der Grenze immer wieder beschäftigt. Ich fand es interessant, dass sie einerseits unsichtbar ist, aber auf der anderen Seite sehr spürbar. Die Grenze bildet eine Linie, die man auf der Karte sieht, aber nicht in der Landschaft. Mich interessieren die Zwischenräume und Übergangszonen zwischen den Ländern. Sie wollte ich mit 'Outlines' erkunden. Im letzten Jahr habe ich mir dann einen Transporter gekauft und mit Hilfe eines Freundes zum mobilen Atelier umgebaut. ... Ich fahre viele kleine Straßen entlang, wo man Liegengelassenes finden kann. Betongebilde, Autofenster oder Dinge, die eine bestimmte Farbigkeit oder Haptik haben, die mich anspricht. Die nehme ich dann als Material für Installationen mit. Es entstehen ein bis zwei Installationen während einer Woche. Was ich jeden Tag gemacht habe, war das Fotografieren unterwegs. Häuser, Orte, Landschaft, Farben, Strukturen. Das sind Eindrücke, visuelle Fundstücke, die ich sammele, die 'Trouvaillen'."
Besprochen werden die Ausstellung "Vorbilder*innen. Feminismus in Comic und Illustration" im Berliner Museum für Kommunikation (Tsp) und die Innsbrucker Ausstellung "Die Körper und der Raum. 114 Beiträge zu einer sinnlichen Erkenntnis" ("klingt schwer nach Aufarbeitung der pandemiebedingten Einschränkungen, ist es aber nicht nur", versichert Ivona Jelcic im Standard).
Musik
In Salzburg hat Igor Levit Beethovens "Eroica" in der Klavierbearbeitung von Franz Liszt gespielt - Berthold Seliger liefert dazu in einem jW-Longread, für den man sich durchaus ein Wochenende Zeit nehmen kann, nicht nur alles, was man schon immer über die Tiefenstruktur der "Eroica" wissen wollte, sondern auch gute Gründe dafür, warum es auch heute noch sinnvoll ist, dieses Werk in Liszts Bearbeitung aufzuführen: "Zum einen erlebt man die 'Eroica' an vielen Stellen mit einer ganz neuen, einzigartigen Transparenz der Stimmen; etwa die fugierten Stellen erleben wir mit Igor Levit klarer, eindeutiger und überraschend intensiver als in der Orchesterfassung, die wir im Ohr haben. Der Steinway-Flügel bietet ganz andere Dimensionen der Differenzierung. Oder die sechs donnernden dissonanten Hammerschläge der Exposition: Wie Levit sie in die Tasten meißelt, sind sie erschütternd und aufrüttelnd, sie tun förmlich weh - und man vermag sich wieder vorzustellen, welche Erschütterung (persönlich, aber auch gesellschaftlich) sie 1805 bei den ersten Aufführungen ausgelöst haben müssen. Zum anderen ist der enorme Energieaufwand dieser Sinfonie geradezu körperlich spürbar."
Weitere Artikel: Joachim Hentschel spricht für die SZ mit Dhani Harrison über dessen Vater George Harrison, dessen Album "All Things Must Pass" er neu bearbeitet hat. In einer "Langen Nacht" des Dlf Kultur widmet sich Stefan Zednik der Liebe der Engländer zur deutschen Musik. Und Good Internet präsentiert uns zum Wochenende einen ganzen Blumenstrauß an neuen Musikvideos "mit 1a Songs" - darunter das hier:
Besprochen werden ein Morten-Feldman-Konzert des Ensembles Klangforum Wien unter Emilio Pomàrico bei den Salzburger Festspielen (SZ), die Musikdoku "Summer of Soul" über ein großes Musikfestival 1969 in Harlem (Tagesspiegel, mehr dazu bereits hier), die Compilation "Country Funk Volume III (1975-1982)" (Pitchfork), ein neues Album von John Moods (Tagesspiegel), ein Sokolov-Konzert in Salzburg (Standard) und Anikas neues Album "Change", dessen Zukunftsgewandheit - noch können wir uns retten - deutlich melancholische Bruchstellen aufweist, wie tazler Jens Uthoff feststellen muss. Wir hören rein:
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