Efeu - Die Kulturrundschau

Harte Ambivalenzen

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03.12.2020. So hat Adoleszenz ausgesehen kurz nach der Jahrtausendwende, ruft die taz vor den Comicfiguren der Bunny Rogers. Die nachtkritik taucht ein in die immersive Theaterszene Britanniens. In der SZ wirft Maxim Biller der Kabarettistin Lisa Eckhart Antisemitismus vor - und kritisiert ihre Einladung ins Literarische Quartett. Und: Isabelle Huppert, Hanns Zischler und die Feuilletons gratulieren Jean-Luc Godard zum Neunzigsten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.12.2020 finden Sie hier

Kunst

Ausstellungsansicht "Bunny Rogers. Self Portrait as clone of Jeanne D'Arc", © Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Courtesy the artist ande Société / Matthias Völzke

Christopher Suss hat sich im Hamburger Bahnhof in Berlin für die taz "Self-portrait as Clone of Jeanne d'Arc" angesehen, eine Installation der 30-jährigen amerikanischen Künstlerin Bunny Rogers, die oft Ereignisse aus ihrer Kindheit verarbeitet: "Leitstern der Ausstellung ist eine Videoarbeit, die das Schulmassaker von Columbine in Erinnerung ruft, das vor nunmehr 20 Jahren die Blaupause einer weltweiten Welle von Amokläufen an Schulen werden sollte. Unter diesem Leitstern inszeniert sich Rogers als lakonische Comicfigur, selbst eine händeringend nach Identität suchende 'Outcast', wie es die Attentäter von 1999 waren. In den offensichtlich originär aus dem Computer stammenden großformatigen Selbstporträts begegnen sich hochgradige Künstlichkeit und authentische Selbstreflexion. Es lässt sich erinnern oder erspüren, dass Adoleszenz so ausgesehen hat, Post-Columbine, Post-9/11, kurz nach der Jahrtausendwende."

In der FAZ erzählt Gina Thomas vom schwierigen Umgang des Britischen Museums mit dem kolonialen Erbe und seinem Gründervater Hans Sloane. Man kritisiert Sloane als Profiteur des Sklavenhandels über seine Frau, die die Witwe eines Zuckerplantagenbesitzers war. Sehr viel weniger bekannt ist allerdings, so Thomas, dass es sich bei Sloane um einen Menschen handelt, "der die Nation in der Gestalt des Britischen Museums das erste öffentliche und für Menschen aller Stände kostenlos zugängliche Museum der Welt verdankt. Oder, dass der 1660 als Sohn protestantischer Siedler in der nordirischen Provinz Ulster geborene Sloane Isaac Newton als Präsident der Royal Society nachfolgte, dass er zu den Pionieren der Pockenimpfung gehört, mehrere Monarchen verarztete und Samuel Pepys, John Locke und den ersten Premierminister Robert Walpole zu seinen Patienten zählte." Das Museum antwortet jetzt laut Thomas auf die Kritik und stellt erst mal sechzehn Objekte aus, an denen das koloniale Vermächtnis beleuchtet werden soll.

Weiteres: In Wien dürfen die Museen ab 7. Dezember wieder öffnen, meldet der Standard. Im artmagazine empfiehlt Désirée Hailzl den Besuch der Andy-Warhol-Ausstellung im Wiener mumok.
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Literatur

Das Literarische Quartett lädt Lisa Eckhart in seine Sendung ein. Für einen absoluten Affront auch, aber nicht zuletzt gegen Sendungsgründer Marcel Reich-Ranicki hält Maxim Biller das in der SZ. Dass Eckhart eine Antisemitin sei, steht für ihn vollkommen außer Frage, einen Unterschied zwischen ihrer Person und ihrer Rollenprosa will der Schriftsteller nicht machen: Wer die Kabarettistin verteidigt, verstehe "sehr genau, wie sie denkt, der denkt genauso wie sie, was sonst. Der hört gern, wie sie einfach nur antisemitisches Gerede von sexgierigen Juden repetiert, ohne es durch eine anarchische, kritische Pointe à la Chaplin oder Mel Brooks zu brechen, der lacht, kurzum, über den angeblich eben doch existierenden geldgierigen Sexjuden und vor allem über die dummen Linken und Nicht-Antisemiten, die seine Existenz leugnen. Und wer dann auch noch diese aus der Zeit gefallene Ostmark-Kabarettistin ausgerechnet ins 'Literarische Quartett' einlädt, will damit natürlich ein Zeichen setzen."  

Gerrit Wustmann schreibt auf 54books.de einen Nachruf auf das Online-Lyrikmagazin Fixpoetry, das nach 13 Jahren trotz ansehnlichem Reichweitenerfolg mangels Finanzierung die Segel streicht - zu gering waren die Erlöse aus Steady-Spenden und Verlagsanzeigen. Schuld an diesem Verlust ist nach Wustmanns Ansicht aber nicht nur die mangelnde Unterstützung der Leser, die nicht einmal den Adblocker für die Seite deaktivierten, sondern vor allem auch die notorische Netzblindheit der kulturpolitischen Förderinstitutionen: "'Es ist eine Riesenkrux, dass die Kultur-/Literaturförderung - und ich meine hier besonders den Bund - immer wieder auf das scheinbar ganz Neue setzt, auf frische Ideen oder solche, die nur so aussehen. Auf der Strecke bleiben strukturelle Förderungen. fixpoetry ist ein wichtiges strukturelles Element der Lyrikszene gewesen. Herausragend wichtig war und ist eine Ergänzung des Feuilletons in Sachen Lyrik. Ein trauriger Novembertag, ein großer Verlust!' schrieb Monika Littau, Vorsitzende der Gesellschaft für Literatur NRW, in einer ersten Reaktion auf Facebook, und sehr ähnlich äußerten sich viele Kolleg*innen in den letzten Tagen."

Weitere Artikel: Die FAZ hat Gerhard Kurz' Blick in die Literaturgeschichte online nachgereicht, der ihm Belege dafür liefert, dass die Frage nach der Herkunft keineswegs so ausgrenzend sei, wie das derzeit postuliert werden. In der SZ-Reihe zur Coronakrise schreibt der Schriftsteller Juan S. Guse, mit welchen Strategien er sich so einigermaßen über den Shutdown bringt. Christoph Schmälzle gratuliert in der FAZ dem Literaturwissenschaftler W. Daniel Wilson zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Monika Marons Erzählung "Bonnie Propeller" (Tagesspiegel, Berliner Zeitung, FAZ), Michel Houellebecqs Essayband "Ein bisschen schlechter" (Standard), Monika Rincks Frankfurter Poetikvorlesungen (FR), Joe Saccos Comicreportage "Wir gehören dem Land" (Tagesspiegel), Martin Maurers Krimi "Krieger" (Berliner Zeitung) und die Werkausgabe Georg Herwegh (SZ).
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Film

Die Feuilletons gratulieren Jean-Luc Godard zum 90. Geburtstag. In der Zeit erinnert sich Isabelle Huppert sehr ausführlich an ihre augenöffnende Zusammenarbeit mit dem Regisseur in den 80ern: "Wie Godard ein Bild kadriert, einen Schnitt setzt, eine Musik beginnen lässt, ist pure lyrische Freiheit - in Verbindung mit einem ebenso freien, radikal analytischen Denken. Man muss sich anschauen, wie Godard in 'Rette sich, wer kann (das Leben)' die Zeitlupen einsetzt. Die Verzögerungen sind kein Effekt, vielmehr markieren sie die Momente, in denen der Film innehält und die Handlung eine andere Wendung nehmen könnte. Oder in denen einfach die Möglichkeit einer anderen Wendung im Bild präsent ist. ... Er nimmt sich die Zeit, ein Gesicht zu zeigen. Und sich das Recht auf diese Zeit zu nehmen heißt nicht, dass die Einstellung lang ist. Den Dingen und Menschen, Gesichtern und Körpern einen Rhythmus zu geben und zu lassen ist das Schwierigste." Eine Szene aus Hupperts und Godards "Rette sich..." veranschaulicht das ganz gut:



Auch Hanns Zischler hat mit Godard zusammengearbeitet. Für "Allemagne Neuf Zéro" durchstreiften sie gemeinsam das Gebiet der gerade aufgelösten DDR. "Rollen, vergleichbar den in Drehbüchern fixierten Charakteren, gab es nicht", erinnert sich Zischler in der SZ. "Eher waren es Zuschreibungen, Zitate, Ideen, die aber, wenn sie einmal wirklich ausgesprochen werden, eine ganz eigene Färbung, ein eigenes Leben annehmen. In vielen Fällen waren diese Äußerungen akute Akzente auf der vorhandenen Topografie: 'Hier hat Schiller 'Die Räuber' geschrieben!', verkündete Eddie Constantine vor dem Schillerhaus, und der erboste Einwand des herbeieilenden Kurators, dass dieses Drama schon viel früher und vor allem bestimmt nicht hier geschrieben worden sei, als könnte es Weimars Klassik trüben, quittierte Godard mit einem bedauernden 'Zu spät, es ist schon auf dem Film'."

Warum schaut heute eigentlich kaum noch jemand Godard, fragt sich Wolfgang M. Schmitt in der NZZ: "Vorschnell wird heute das Urteil gefällt, Godards Filme der vergangenen dreißig Jahre seien bloß experimentelle Spielereien, vielleicht aber sind wir Zuschauer einfach zu bequem geworden und wollen nichts Neues mehr sehen."

Für FR-Kritiker Daniel Kothenschulte teilt sich die Filmgeschichte in "ein Kino vor Godard" und "eines seit Godard". Sehr ähnlich sieht es Andreas Kilb in der FAZ: Godard ist der zentrale Revolutionär der Filmgeschichte. "Es genügte, dass er so gut wie alle Filme, die bis dahin gedreht worden waren, mit einem Mal alt aussehen ließ. Bis zu diesem Zeitpunkt war Hollywood im Kino das Maß aller Dinge, und im europäischen Kino galt das Primat der Stoffe, der Drehbücher, die von Profis geschrieben und von erfahrenen Regisseuren mit bekannten Stars umgesetzt wurden. Godard aber bewies, dass man einen Film auch ohne Skript und gegen alle Regeln der Branche inszenieren und schneiden konnte" Ein großes Interview mit Godard gab es mal bei dctp:



Jump-Cut in die Gegenwart: Die Ufa verpflichtet sich selbst zu mehr Diversität vor und hinter der Kamera (mehr dazu hier). Immer her mit den diversen Stoffen, her mit der gesellschaftlichen Komplexität in Film und Fernsehen, sagt dazu Regisseur Dominik Graf im Zeit-Interview. Allerdings drohe mitunter auch die Klischeefalle, wenn Leute plötzlich gesellschaftliche Facetten inszenieren sollen, die sie selbst nur vom Hörensagen kennen. "Die Autorinnen und Autoren, mit denen ich arbeite - wir können die Welt nur so erzählen, wie wir sie sehen, und wir sehen vor allem die harten Ambivalenzen. Für eine Welt, wie sie stattdessen sein sollte, fühlen wir uns nicht zuständig. Gewalt und Übergriffe spielen deshalb in unseren Filmen eine große Rolle. Gewalt ist immer präsent in der Gesellschaft, und immer ist sie für das Opfer 'herabwürdigend', um einen Begriff aus dieser Selbstverpflichtung zu verwenden. Dabei ist es ganz egal, welche Hautfarbe oder welches Geschlecht das Opfer hat. Und so muss Gewalt auch dargestellt werden, sonst verharmlosen wir sie."

Weitere Artikel: Anne Vorbringer gratuliert in der Berliner Zeitung Julianne Moore zum 60. Geburtstag. Besprochen werden der Dokumentarfilm "Nasrin" über die iranische Menschenrechtsaktivistin Nasrin Sotoudeh (Tagesspiegel), David Finchers Biopic "Mank" über den Hollywood-Drehbuchautor Herman Mankiewicz (taz, Freitag, Presse), Kasi Lemmons auf DVD veröffentlichter "Harriet" (taz) und die Actionkomödie "Fatman" mit Mel Gibson (taz).
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Musik

Christina Reitz spricht für VAN mit dem Geiger Christoph Koncz, der auf Mozarts Geige spielt. Arno Lücker erklärt in VAN, wie man eigentlich "Koninklijk Concertgebouworkest" ausspricht und wie der Klangkörper klingt. Außerdem schreibt Lücker in seiner VAN-Reihe über Komponistinnen über Helene Liebmann.

Besprochen werden das Debütalbum von Megan Thee Stallion (Standard), ein Corona-Konzert von Andras Schiff (NZZ), Lulucs Album "Dreamboat" (taz), eine Mahler-Aufnahme von Christiane Karg (Berliner Zeitung) und das Jubiläumsalbum zu 40 Jahren Ensemble Modern (FR).
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Bühne

In einem Theaterbrief aus London stellt Alice Saville in der nachtkritik Britanniens immersive Theaterszene im Lockdown vor. Immersives Theater bedeutet nach Amie Burns Walker: "Wenn das Publikum nicht da ist und die Show weitergehen kann, dann ist sie nicht immersiv", erklärt Saville und stellt als Beispiel eine Produktion der Swamp-Motel-Gründer Clem Garritty und Ollie Jones vor: "'Plymouth Point' beginnt mit einem Zoom-Treffen mit einer verzweifelten Frau namens Ivy; sie erklärt, dass ihre Nachbarin vermisst wird, und schickt dann das Publikum los, um im Internet nach Beweisen für einen mörderischen Kult zu suchen. 'Wir benutzen vor allem reale Plattformen wie Facebook und Google Maps. Der Gedanke war, von bekannten Umgebungen aus verrücktes Zeug zu erfinden', erklärt Clem Garritty. In gewisser Weise kehren sie die normale Arbeitsweise immersiver Theatermacher*innen um: Kompanien wie Punchdrunk sind dafür bekannt, dass sie in charakterlosen Lagerhallen schillernde Welten installieren. 'Plymouth Point' dagegen nutzt eine reichhaltige Landschaft, die online bereits vorhanden ist - die Künstler*innen von Swamp Motel müssen das Publikum nur noch durch sie hindurchführen."

Weiteres: Sylvia Staude unterhält sich für die FR mit Bruno Heynderickx, Direktor des Hessischen Staatsballetts, über Tanz in Zeiten der Pandemie. In der Welt kritisiert Manuel Brug die "Kleinstaaterei an deutschen Bühnen", die den Lockdown zu den unterschiedlichsten Zeiten beenden wollen. Besprochen werden die Netzpremiere von Mozarts "Le nozze di Figaro" am Theater an der Wien (nmz)
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